Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig und DIHK-Präsident Eric Schweitzer zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Frau Schwesig, Herr Schweitzer, wie familienfreundlich ist Deutschland?

Manuela Schwesig: Manches halte ich noch für mittelalterlich. Viele Frauen stehen immer noch vor der Wahl zwischen Familie und Beruf. Leider ist es nicht selbstverständlich, beides haben zu können.

Eric Schweitzer: Nun übertreiben Sie bitte nicht! Das Rollenverständnis hat sich doch stark verändert. Vor drei Jahrzehnten war es im Westen der Republik klar, dass die Frau zu Hause bleibt und der Mann arbeitet. Heute ist das nun wirklich nicht mehr die Regel.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Wird über Familie immer nur negativ diskutiert: Familie steht dem beruflichen Fortkommen im Wege, sie stört die Produktivität und damit auch den Arbeitgeber?

Eric Schweitzer: Das ist längst nicht mehr so. Immer mehr Firmen wissen, dass sie für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf etwas tun müssen. Schon allein, um genügend Fachkräfte zu gewinnen. Familie und Arbeit, Familie und Unternehmertum ergänzen sich gegenseitig.

Manuela Schwesig: Wenn die Arbeitswelt familienfreundlicher wäre, würden sich mehr junge Männer und Frauen für Kinder entscheiden. Familie wird für sich genommen nicht als Belastung empfunden und Arbeit auch nicht. Aber die Balance hinzubekommen, das ist schwer.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Das wollen Sie jetzt durch mehr Teilzeitarbeit lösen?

Manuela Schwesig: Wir müssen Vollzeit für Familien neu definieren. In der Rush Hour des Lebens kommt alles zusammen: Kinder kriegen, die Pflege der Eltern organisieren, als Fachkräfte zur Verfügung stehen. Das geht nicht mit Vollzeit für Männer und Frauen, wie wir sie bisher definieren. Männer wünschen sich, ihre Arbeit zu reduzieren, fürchten aber negative Folgen für ihre Karriere. Frauen würden gerne mehr Stunden arbeiten, können aber aus ihren Teilzeitjobs nicht aufsteigen.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Was ist Ihr Lösungsvorschlag?

Manuela Schwesig: Mit einer Familienarbeitszeit, bei der beide Elternteile ihre Arbeitszeit maßvoll reduzieren, können wir dieser gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Nehmen wir das ElterngeldPlus als ersten Schritt: Hier fördern wir die partnerschaftliche Aufteilung. Frauen und Männer sollen Zeit für den Job, aber auch Zeit für die Familie haben. Dann würden viele Frauen früher in den Beruf zurückkehren, weil sie es auch selbst möchten. Das hilft beiden Seiten, den Familien und auch der Wirtschaft.

Eric Schweitzer: Wir müssen von Modellen wegkommen, bei denen der eine Partner Vollzeit arbeitet und der andere Teilzeit mit wenigen Stunden. Beide sollten möglichst viel arbeiten können. Wenn man es sinnvoll organisiert, dann könnte der eine auf 35 Stunden reduzieren und der andere auf 35 Stunden aufstocken. In der Summe ist das immer noch mehr, als wenn der Mann 40 Stunden arbeitet und die Frau nur halbtags.

Manuela Schwesig: Wunderbar. Genau das ist meine Idee von der Familienarbeitszeit. Und deshalb dürfen Frauen und Männer keine beruflichen Nachteile haben, wenn sie ihre Arbeitszeit für die Familie eine Zeitlang reduzieren. Nehmen Sie ein Beispiel aus meiner Bürgerpost. Als ein junger Vater nach der Elternzeit sein Stundenpensum reduzieren wollte, sagte ihm der Vorstand: Gerne, aber nicht mehr als Abteilungsleiter. Den Job hätte er aufgeben müssen. So viel zu den Möglichkeiten, die Balance zu halten.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Was sagen Sie dem Vater, Herr Schweitzer?

Eric Schweitzer: Den Einzelfall müsste ich mir anschauen. Richtig ist: Es gibt nun mal Jobs, in denen die physische Präsenz unabdingbar ist. Ein Friseur kann seinen Kunden die Haare nicht von zu Hause schneiden. Aber gut 80 Prozent der Unternehmen bieten schon flexible Modelle an.

Manuela Schwesig: Aber das Beispiel des Abteilungsleiters ist ein klassischer Fall. Viele Männer, die in vergleichbaren Positionen sind, schildern mir: Es ist eben nicht die Regel, dass man auch ein paar Stunden reduzieren kann. Wer ständig präsent ist, gilt immer noch als Leistungsträger. Und wer mehr Zeit mit der Familie verbringen möchte, wird als Weichei gesehen.

Eric Schweitzer: Die Mitarbeiter müssen nicht die ganze Zeit vor Ort sein, Arbeitszeit kann angepasst werden. Das liegt doch im Eigeninteresse der Firmen! Durch den Fachkräftemangel werden sie fast schon gezwungen sein, solche Modelle anzubieten. Sonst sagt der Mitarbeiter: Wenn du das nicht machst, gehe ich dorthin, wo ich die Möglichkeiten habe. Vorschreiben können Sie es aber nicht, dazu sind die Anforderungen in einzelnen Firmen zu unterschiedlich.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Frau Schwesig, wie viele Führungskräfte arbeiten in Ihrem Ministerium in Teilzeit?

Manuela Schwesig: Die Abteilungsleiter arbeiten alle Vollzeit, auf eigenen Wunsch. Von den 72 Referatsleitern haben acht ihre Arbeitszeit reduziert. Aber es gibt einen großen Teil der Mitarbeiter, die ein oder zwei Tage in der Woche von zu Hause aus arbeiten.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Und bei Ihnen im Unternehmen, Herr Schweitzer?

Eric Schweitzer: Das geht, ist aber bisher noch eher eine Ausnahme, da immer auch die Größe des jeweiligen Geschäftsbereiches eine mitbestimmende Rolle spielt.

Manuela Schwesig: Eine Ausnahme ist es, weil die Beschäftigten fürchten müssen: Sie kommen später nicht mehr auf den Vollzeitjob zurück. Wie Sie wissen, gibt es bereits einen Rechtsanspruch, von Vollzeit in Teilzeit zu wechseln. Aber eben nicht für den umgekehrten Weg, nach der Teilzeit wieder auf eine Vollzeitstelle zu kommen. Das ist das Problem. Deshalb sage ich: Wir brauchen den Rechtsanspruch auf Rückkehr in Vollzeit.

Eric Schweitzer: Das halten wir für falsch. Ein Unternehmer mit 20 oder 30 Mitarbeitern, von denen einige in Teilzeit sind, kann nicht ohne weiteres eine Rückkehr in Vollzeit organisieren. Er hat für die Teilzeitmitarbeiter ja neues Personal eingestellt. Wir dürfen hier nichts vorschreiben, was sich mit der betrieblichen Realität nicht vereinbaren lässt. Die Firmen können nicht grenzenlos flexibel sein.

Manuela Schwesig: Dem tragen wir ja Rechnung. Die Mitarbeiter sollen sich gleich zu Beginn festlegen, wie lange sie in Teilzeit gehen. Dann hat das Unternehmen genügend Planungssicherheit.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Brauchen Frauen diese Rückfahrkarte in Vollzeit, weil Teilzeit immer noch ein Karrierekiller ist?

Eric Schweitzer: So kann man das nicht sagen. In Deutschland arbeiten so viele Frauen wie kaum irgendwo in Europa. Aber jede zweite von ihnen ist in Teilzeit, auch da sind wir führend. Liegt das daran, dass die Firmen die Frauen nicht in Vollzeitjobs zurücklassen? Oder ist das so, weil Familie und Beruf so schlecht vereinbar sind, zum Beispiel durch die typisch deutsche Halbtagsschule? Ich glaube, Letzteres ist der Fall.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Was wollen Sie dagegen tun?

Eric Schweitzer: Bei der Kinderbetreuung ist vor allem der Staat gefragt. Bis zum sechsten Lebensjahr gibt es den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Dann kommen die Kinder in die Schule, plötzlich stehen sie mittags zu Hause, und das Drama beginnt, meist für die Mütter: Ausstieg aus dem Beruf, Reduzierung auf Teilzeit, Verzicht auf Karriere und Einkommen. Deshalb brauchen wir den Rechtsanspruch auf einen Platz in der Ganztagsschule, zumindest mittelfristig. Warum haben Sie das im Koalitionsvertrag eigentlich nicht festgeschrieben?

Manuela Schwesig: Leider gab es dazu keine Einigung zwischen den Koalitionspartnern.

Eric Schweitzer: Dabei ist die Finanzierung kein Problem. Wenn Sie das Betreuungsgeld streichen, haben Sie schon anderthalb Milliarden Euro. Der Rest kommt durch höhere Steuereinnahmen herein, weil Eltern mehr arbeiten.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Da sind Sie ganz auf SPD-Linie, Herr Schweitzer?

Eric Schweitzer: Das ist doch nicht verwerflich, oder? So viele Vorschriften will Frau Schwesig uns doch gar nicht machen - bis auf den Rückkehr- Anspruch in Vollzeit, den wir ablehnen.

Manuela Schwesig: Ich will auch eine Lohnfortzahlung für die Pflege-Auszeit einführen. Schon jetzt hat jeder Arbeitnehmer einen Anspruch auf zehn freie Tage, wenn ein Angehöriger pflegebedürftig wird und die Betreuung organisiert werden muss. Dafür gibt es aber bisher kein Geld, anders als bei einem kranken Kind. Diese Ungerechtigkeit will ich beseitigen.

Eric Schweitzer: Aber das soll doch die Pflegeversicherung bezahlen, nicht der betroffene Arbeitgeber?

Manuela Schwesig: Ja.

Eric Schweitzer: Eine vernünftige Lösung.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Glauben Sie noch, dass Ihre Politik zu mehr Geburten führt?

Manuela Schwesig: Ich sehe meine Aufgabe als Bundesfamilienministerin nicht in erster Linie darin, die Geburtenrate zu erhöhen. Ich will ein familienfreundliches Klima schaffen: Wer einen Kinderwunsch hat, soll ihn auch verwirklichen können.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Wir reden dauernd von jungen Eltern. Aber auch andere Arbeitnehmer wollen ihre Arbeitszeit reduzieren und mehr Freiräume haben, Stichwort Work-Life- Balance. Muss das möglich sein, oder sind das Wünsche von Softies?

Eric Schweitzer: Wir werden unsere Wirtschaft nicht am Laufen halten, wenn alle weniger arbeiten. Wir müssen uns ganz im Gegenteil überlegen, wie wir in der Summe mehr leisten. Durch die Demographie werden uns künftig Millionen Arbeitskräfte fehlen. Wenn wir diese Arbeitsleistung nicht ersetzen, können wir unser jetziges Sozialprodukt nicht mehr erwirtschaften und unser Sozialsystem nicht mehr finanzieren. 

Manuela Schwesig: Lassen Sie uns nicht die Maximalforderung aufstellen, die nach weniger Arbeitszeit für alle ruft. Wir brauchen Lösungen, die bestimmten Lebenssituationen gerecht werden.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Sie beide sitzen hier mit einer 70-Stunden-Woche und reden über Teilzeitmodelle für die Arbeitnehmer. Gute Vorbilder sind Sie nicht, oder?

Manuela Schwesig: Politik ist einer der familienfeindlichsten Berufe, das stimmt. Aber wir können Zeichen setzen. Ich nehme mir zum Beispiel mindestens einen Nachmittag und Abend pro Woche für meinen Sohn frei. Auch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel holt einmal pro Woche seine Tochter in Goslar aus der Kita ab.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Sigmar Gabriel macht gleich eine große Show daraus. Ist das nicht übertrieben?

Manuela Schwesig: Es zeigt, dass es auch in Spitzenpositionen möglich sein kann. So etwas ist für moderne Rollenbilder ungeheuer wichtig. Das ermutigt andere Väter, sich zugunsten ihrer Frauen zurückzunehmen. Durch seine eigene Erfahrung hat Sigmar Gabriel auch Verständnis, wenn ich wegen meines Sohnes mal eine Sitzung absage.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Holen Sie Ihren Sohn wirklich jeden Mittwoch von der Schule ab?

Manuela Schwesig: Meist schon. Wenn es mal nicht geht, dann nehme ich mir einen anderen Wochentag vor. In meinem Terminkalender habe ich feste private Blöcke. Dafür sage ich auch Dinge ab.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Herr Schweitzer, wie halten Sie's mit der Familie?

Eric Schweitzer: Meine Kinder sind schon erwachsen. Als sie klein waren, hat meine Frau noch studiert. Das passte wunderbar.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Lässt ein Polit-Job überhaupt Teilzeit zu? Wenn Frau Merkel Kinder hätte, könnte sie kaum sagen: Die Krim-Krise kommt ungünstig, mein Sohn hat Grippe?

Manuela Schwesig: In absoluten Spitzenpositionen ist das sicher schwierig. Mein Mann ist in Teilzeit, damit ich mehr arbeiten kann. Auch als ich Ministerin in Mecklenburg-Vorpommern war, gab es Ausnahmesituationen. Erinnern Sie sich an die Ehec-Krise, als plötzlich Krankheitserreger in Sojasprossen auftauchten? Da musste ich meinen Urlaub abbrechen. Grundsätzlich haben auch Politiker das Recht, mal nicht erreichbar zu sein. Natürlich haben meine Mitarbeiter aber eine Nummer, auf der ich im äußersten Notfall erreichbar bin.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Trotzdem geraten viele Eltern mit Beruf und Familie an ihre Grenzen. Können Sie junge Leute verstehen, die sagen: Vielleicht war das alte Modell doch bequemer, wenn nur ein Elternteil arbeitet?

Eric Schweitzer: Wir machen niemandem Vorschriften. Jedes Paar kann sich für die klassische Aufteilung entscheiden. Ich sage nur: Jeder, der mehr arbeiten will, sollte das auch können.

Manuela Schwesig: In Deutschland wird immer Schwarz-Weiß diskutiert. Entweder arbeiten beide voll, oder der eine arbeitet gar nicht. Ich suche dazwischen die Balance.

Eric Schweitzer: Rollenvorstellungen ändern sich. Auf Führungspositionen kommen jüngere Leute, die heute schon ganz anders leben. Und die sich auch für ihre Töchter wünschen, dass sie Beruf und Familie vereinbaren können.