BILD am Sonntag Bundesministerin Manuela Schwesig über den Schutz von Frauen vor häuslicher und sexueller Gewalt

BILD am SONNTAG: Frau Schwesig, sind Sie selbst jemals Opfer von Gewalt geworden?

Manuela Schwesig: Nein. Aber in meinem Bekanntenkreis hat eine Frau in ihrer Partnerschaft Gewalt erlitten. Und aus meiner Arbeit als Ministerin weiß ich, dass das Ausmaß besonders der häuslichen Gewalt extrem hoch ist. Leider ist das immer noch ein Tabuthema, weil sich Frauen oft schämen. Dabei müssen sich die Täter schämen!

BILD am SONNTAG: Wie sollen Freunde und Familie reagieren, wenn sie ahnen oder wissen, dass eine Frau Opfer von Gewalt ist?

Manuela Schwesig: Die Frau ansprechen, ihr Hilfe anbieten und Mut machen, dass es immer einen Ausweg aus der Gewaltspirale gibt.

BILD am SONNTAG: Eine EU-Studie hat ergeben, dass jede dritte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren hat. Das sind 62 Millionen betroffene Frauen. Ist die Lage wirklich so schlimm?

Manuela Schwesig: Ja. Auch mich haben die Zahlen alarmiert. Es zeigt, dass wir Frauen besser vor Gewalt schützen und noch mehr Hilfe anbieten müssen. Leider sind Hilfsangebote immer noch nicht bekannt genug. Das Familienministerium hat seit einem Jahr das bundesweite Hilfetelefon eingerichtet, für das mehr als 60 Mitarbeiterinnen arbeiten. Die Rufnummer ist kostenlos, Tag und Nacht erreichbar, und die Frauen können sich auch anonym melden. Dort beraten Fachkräfte bei allen Fragen und helfen, das richtige Beratungsangebot vor Ort zu finden. Dort werden dann mit den Frauen konkrete Notfallpläne erstellt.

BILD am SONNTAG: Viele Frauenhäuser in Deutschland klagen über große Finanznot . . .

Manuela Schwesig: Ich möchte bei der nächsten Gleichstellungskonferenz mit den Ländern darüber reden, was wir gemeinsam dafür tun können, dass die Frauenhäuser, aber auch die vielfältigen Frauenberatungsstellen auf sichere Beine gestellt werden. Diese Studie zeigt, wie dringend die Hilfsangebote benötigt werden. Allerdings ist es auch wichtig, die Frauen über ihre bestehenden Rechte aufzuklären, zum Beispiel darüber, dass sie nach dem Gewaltschutzgesetz Schutzanordnungen erhalten und den Täter auch aus der Wohnung verweisen lassen können.

BILD am SONNTAG: Bei der EU-Studie liegen die deutschen Opferzahlen sogar über dem EU-Durchschnitt. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Manuela Schwesig: Gewalt gegen Frauen wird in Deutschland und den skandinavischen Ländern möglicherweise offener angesprochen. Das kann eine positive Folge der vielen gesellschaftlichen und rechtlichen Veränderungen sein und durch die Verbesserung der Unterstützungsangebote erklärt werden. Deshalb trauen sich vielleicht dort mehr Frauen, über ihre schlimmen Erfahrungen zu sprechen und Anzeige zu erstatten. Aber das Ausmaß und die Dunkelziffer sind trotzdem erschreckend hoch!

BILD am SONNTAG: Was sagen solche hohen Gewaltzahlen über die deutschen Männer aus?

Manuela Schwesig: Gewalt gehört zum Alltag vieler Familien und Frauen. Durch die Tabuisierung von häuslicher und sexueller Gewalt fühlen sich die Täter immer noch zu sicher. Deshalb ist es gut, wenn es solche Studien gibt und wir darüber sprechen und so die Gesellschaft aufrütteln.

BILD am SONNTAG: Ist Deutschland ein frauenfeindliches Land?

Manuela Schwesig: Soweit würde ich nicht gehen. Deutschland ist aber für Frauen noch längst kein gleichberechtigtes Land. Gleichberechtigung steht zwar in unserer Verfassung, gilt aber nicht für die Lebenswirklichkeit. Frauen haben ein Recht auf ein gewaltfreies Leben. Wir als Gesellschaft müssen Gewalt gegen Frauen ächten. Da darf es keine Toleranz geben.