Tagesschau Ein Jahr als Queer-Beauftragter: Sven Lehmann im Interview

Sven Lehmann in der Bundespressekonferenz
Sven Lehmann ist der erste Queer-Beauftragte der Bundesrepublik Deutschland© Photothek/Kira Hofmann

Tagesschau: Zu Ihrem Amtsantritt fragten sich einige Menschen: Wozu dieser Posten? Nun nach einem Jahr im Amt: Was können Sie als Arbeitsnachweis vorzeigen?

Sven Lehmann: Im Vergleich zu früheren Bundesregierungen gibt es endlich eine sichtbare Politik für die Akzeptanz von LSBTIQ*, also von Lesben, Schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen - kurz: queeren Menschen. Der größte Meilenstein war sicher, dass die Bundesregierung erstmals einen Aktionsplan "Queer leben" beschlossen hat. Er soll Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt voranbringen. Das ist neu, weil Queerpolitik so zu einer Querschnittsaufgabe für alle Ministerien wird. Da bin ich sehr stolz drauf, weil es das bisher nicht gab. Es gibt auch noch andere erste Erfolge. So haben wir kurz vor dem Jahreswechsel noch einen Gesetzentwurf in der Bundesregierung beschlossen, mit dem geschlechtsspezifische sowie gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Tatmotive als weitere Beispiele für menschenverachtende Beweggründe ausdrücklich in die Strafgesetze zu Hasskriminalität aufgenommen werden. 

Tagesschau: Auf der Homepage des Bundesfamilienministeriums ist als ein wichtiges Ziel Ihres Amts gelistet, das Familienrecht zu modernisieren. Bisher ist es bei einer Ankündigung geblieben. Wann kommt da etwas?

Sven Lehmann: Es ist überfällig, dass dieses Jahr dort endlich etwas passiert. Das derzeitige Abstammungs- und Familiengerecht diskriminiert Regenbogenfamilien, vor allem lesbische Mütter und ihre Kinder. Wenn ein Kind in eine Ehe mit zwei Frauen hineingeboren wird, hat es laut Gesetz nur einen sorgeberechtigten Elternteil. Der andere Elternteil, die Co-Mutter, muss adoptieren. Das ist sehr langwierig und belastend, mit intimsten Fragen nach der Erziehungsfähigkeit. Uns geht es darum, diese Mütter mit heterosexuellen Ehepaaren gleichzustellen und damit auch die Kinder rechtlich abzusichern. Ich hätte mir gewünscht, dass wir da schon weiter wären. Aber entscheidend ist, dass Justizminister Marco Buschmann für dieses Jahr den Gesetzentwurf angekündigt hat. Die Zeit drängt. Als Queer-Beauftragter kann ich Druck machen und Expertise einbringen, aber keine eigenen Gesetzentwürfe auf den Weg bringen. Dafür bin ich auf die Initiative der Ministerinnen und Minister angewiesen.

Tagesschau: Auch beim Selbstbestimmungsgesetz stehen bisher nur die Eckpunkte. Trotz zahlreicher Menschen in der LGBTIQ*-Community, die ungeduldig darauf warten. Woran hakt es?

Sven Lehmann: Ich bekomme täglich sehr viele Nachfragen zum aktuellen Stand bei dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz, das ja das Transsexuellengesetz ersetzen soll. Das kann ich sehr gut verstehen, denn der Leidensdruck ist hoch. Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht dem Geschlecht bei Geburt entspricht, sollen ihren Geschlechtseintrag künftig einfacher korrigieren können, ohne psychiatrische Zwangsgutachten, die derzeit noch verlangt werden. Gerade transgeschlechtliche Menschen werden täglich diskriminiert, schon beim Gang zu Ämtern, bei Krankenkassen, bei der Kontrolle im Straßenverkehr, wenn sie ihre Dokumente noch nicht haben ändern können. Überall findet quasi ein ungewolltes Outing statt. Ich hätte mir auch gewünscht, dass der Gesetzentwurf schon vorliegen würde. Die Arbeit an dem Entwurf dauert wegen einiger Detailfragen etwas länger als geplant. Aber ich bin sicher, dass die federführenden Ministerien für Familie und Justiz Anfang dieses Jahres den Gesetzentwurf veröffentlichen und dann die Ressortabstimmung und Verbändeanhörung einleiten werden. 2023 wird das Jahr, in dem wir das Selbstbestimmungsgesetz endlich verabschieden.

Tagesschau: An den Eckpunkten zum Selbstbestimmungsgesetz gibt es teils heftige Kritik: So fürchten Frauen, dass sie in Umkleideräumen oder öffentlichen Toiletten nicht mehr sicher sind. Also Schutzräume verlieren, wenn ein Mann künftig einfacher seinen Geschlechtseintrag im Pass ändern lassen kann. Warum halten Sie diese Angst für so abwegig?

Sven Lehmann: Weil die Erfahrungen aus allen Ländern, die bereits Selbstbestimmungsgesetze haben, das überhaupt nicht zeigen. Wir haben in dieser Gesellschaft leider ein Problem mit Gewalt, vor allem mit Gewalt gegen Frauen. Diese Gewalt ist vor allem häusliche Gewalt und Gewalt in anderen Zusammenhängen wie auf der Straße. Bundesfrauenministerin Lisa Paus arbeitet intensiv an Maßnahmen zum Ausbau von Schutzräumen wie den Frauenhäusern. Ich kann persönlich überhaupt nicht verstehen, dass von einigen jetzt so getan wird, als seien transgeschlechtliche Menschen das Problem. Sie werden für Gewalt und Übergriffe verantwortlich gemacht, obwohl sie doch selbst Opfer und im Alltag massiver Diskriminierung ausgesetzt sind. Das erschreckt mich sehr. Ich appelliere daran, dass wir insgesamt in der Gesellschaft verstärkt Gewalt entgegentreten und für mehr Prävention und Schutzräume sorgen, ohne eine Gruppe gegen die andere auszuspielen.

Tagesschau: Der Aktionsplan "Queer leben" fordert, ein Diskriminierungsverbot gegenüber queeren Menschen im Grundgesetz zu verankern. Wie genau soll so ein Verbot dann umgesetzt werden?

Sven Lehmann: Wir haben in unserem Grundgesetz den Artikel 3: das Diskriminierungsverbot aufgrund von bestimmten Merkmalen wie etwa Geschlecht, Herkunft oder Glaube. Was aber fehlt, ist das Merkmal der sexuellen Identität. Queere Menschen sind die letzte von den Nazis verfolgte Gruppe, die noch keinen expliziten Schutzstatus im Grundgesetz haben. In seiner jetzigen Form konnte Artikel 3 etwa auch die strafrechtliche Verfolgung von homo- und bisexuellen Männern nach dem alten Strafrechtsparagrafen 175 nicht verhindern. Oder den Sorgerechtsentzug bei lesbischen Müttern. Ein ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Schutz ist wichtig, auch damit bestimmte Errungenschaften, wie die Ehe für alle, nicht wieder zurückgedreht werden können. Wir brauchen für die Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Es laufen derzeit intensive Gespräche, um in dieser Legislaturperiode dafür einen Anlauf zu machen.

Tagesschau: Es liegen noch gut zweieinhalb Jahre Legislatur vor Ihnen. Was wünschen Sie sich: Dass nach Ihrer Amtszeit kein Queer-Beauftragter mehr nötig sein wird, oder dass es den Beauftragten noch eine Weile geben werden muss?

Sven Lehmann: Ich wünsche mir, dass Deutschland in Europa Vorreiter wird bei der Akzeptanz und der Anerkennung von Vielfalt. Wir liegen derzeit nur im Mittelfeld was die Rechte von queeren Menschen angeht. Es gibt mit der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association Europe (ILGA Europe) eine große internationale Organisation, die jedes Jahr dazu einen Index herausgibt. Im Ranking hinter uns liegen fast nur osteuropäische Länder. Das ist ein schlechtes Zeugnis nach 16 Jahren CDU/CSU-geführter Regierung. Deutschland muss unter die Top Fünf in Europa. Ich will, dass queere Menschen selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft sind. Ich will, dass jeder Mensch angstfrei verschieden sein kann. Ich glaube, dass das ein Prozess ist und deswegen das Amt in der Bundesregierung noch länger notwendig sein wird. Aber ich hoffe, dass wir in den nächsten zweieinhalb Jahren bei den großen Vorhaben vorangekommen sind und uns international nach vorne arbeiten beim Kampf gegen Diskriminierung.