Erfurt Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig beim 70-jährigen Jubiläum der Volksolidarität

Manuela Schwesig während ihrer Rede im Erfurter Kaisersaal
Manuela Schwesig während ihrer Rede im Erfurter Kaisersaal© Bildnachweis: Thomas Rafalzyk

Es gilt das gesprochene Wort.

I. 

herzlichen Glückwunsch zum 70-jährigen Jubiläum der Volkssolidarität und herzlichen Dank für die Einladung!

Der alte Dreiklang der Volkssolidarität "Geselligkeit, Tätigsein, Fürsorge" und das neuere Motto "Miteinander - füreinander" beschreiben schon in wenigen Worten, was Volkssolidarität bedeutet und warum Volkssolidarität wichtig ist: für Ostdeutschland und für die Wohlfahrtspflege in unserem Land.Wenn Menschen einander begegnen, sind sie eher bereit, einander zu helfen.Wenn Menschen einander helfen, stärkt das den sozialen Zusammenhalt.Und wenn der soziale Zusammenhalt stark ist, dann haben auch die älteren Menschen, die Kranken und die Benachteiligten eine Lobby.

All das: Begegnung, gegenseitige Hilfe, Zusammenhalt und Lobbyarbeit für die Benachteiligten leistet und organisiert die Volkssolidarität.Ich habe das selbst erlebt,als ich Stadtverordnete in Schwerin und Landesministerin in Mecklenburg-Vorpommern war:Auf einer Sommertour habe ich das Boddenhus in Greifswald besucht,wo es um Gesundheit, Prävention und Ernährung für ältere Menschen geht, aber auch um die Begegnung zwischen den Generationen.In Strasburg, im Haus der Familie und der Begegnung, habe ich erlebt, wie die Kinder im Mittelpunkt stehen:Ein gesundes Mittagessen, Hilfe bei den Hausaufgaben und vor allem Spiel und Spaß machen diesen Hort aus.Als Bundesministerin bin ich der Volkssolidarität wieder begegnet,mit guten Projekten, die wir gern fördern:zum Beispiel das Mehrgenerationenhaus in Torgelowoder das Geromobil im Landkreis Uecker-Randow,das Beratung für Demenzkranke und ihre Angehörigen in den ländlichen Raum bringt, und durch die Zusammenarbeit mit Ärzten auch medizinische Hilfe.

II.

In diesem Jahr gibt es zwei wichtige Jahrestage, und beide haben mit der Volkssolidarität zu tun.Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, aber die Not der Menschen war damit noch lange nicht zu Ende.Millionen von Flüchtlingen waren in ganz Europa unterwegs,in einem Europa, dessen Städte und Staaten in Trümmern lagen.In dieser Situation wurde die Volkssolidarität gegründet.Ein frühes Plakat der Volkssolidarität zeigt einen dunklen Hintergrund von zerstörten Gebäuden.Der einfache Satz auf diesem Plakat lautet: Nicht klagen - helfen!Es war die spontane Hilfsbereitschaft der Menschen, die zur Gründung der Volkssolidarität führte.Und die, die selbst wenig hatten, gaben allein in Sachsen zwischen Oktober 1945 und September 1946 34 Millionen Reichsmark für Notleidende, Flüchtlinge und Vertriebene.Nicht klagen, sondern ganz konkret helfen: Diese Haltung hat sich die Volkssolidarität 70 Jahre lang bewahrt.

III.

Der zweite Jahrestag in diesem Jahr ist das 25-jährige Jubiläum der deutschen Einheit.Die Volkssolidarität hat sich anfangs damit nicht ganz leicht getan.Man hat sich gefragt: Wird die Volkssolidarität überhaupt noch gebraucht? Sollen wir sie auflösen?Aber die Antwort war Nein. Und das war wichtig und richtig.Gerade die Verantwortlichen der Volkssolidarität auf lokaler Ebene,die Haupt- und die Ehrenamtlichen, wussten: Die Älteren und die Bedürftigen brauchen uns jetzt! Gerade jetzt.Und so hat sich die Volkssolidarität an den Runden Tischen beteiligtund Kandidatinnen und Kandidaten für die Kommunalwahlen aufgestellt.

Mit der neuen Freiheit kam auch eine Menge Unsicherheit.In vielen Familien war es wie bei mir:Ich musste in jungen Jahren auf eigenen Füßen stehen und eigene Entscheidungen treffen.Und das, während die Eltern erlebten, dass sich um sie herum alles änderte.Viele wurden arbeitslos.Ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und andere, die auf Sozialleistungen angewiesen waren, mussten sich auf neue Gesetze, neue Ämter und neue Formulare einstellen.Heute schauen wir auf 25 Jahre deutsche Einheit zurück und sagen: Die deutsche Einheit ist ein Erfolg.Wir leben freier, wir leben besser, und unser Land ist wieder vereint.

Aber in der Unsicherheit, die für uns alle im Osten die neue Freiheit begleitete, war es ungleich schwieriger für diejenigen,die ihre Arbeit verloren haben, für die Älteren, die Kranken, die Menschen mit Behinderung.Die Volkssolidarität war und ist für diese Menschen da.Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Volkssolidarität haben sich mit den neuen Gesetzen beschäftigt und ihr neues Wissen in der Sozialberatung gleich weitergegeben.Gleichzeitig hat sich die Volkssolidarität politisch für die Menschen stark gemacht, die nach der Wiedervereinigung in Schwierigkeiten kamen.

IV.

Auf die Frage, wie das einige Deutschland aussehen sollte,hatte und hat die Volkssolidarität nämlich eine klare Antwort,die auch meine Antwort ist.Wir wollen eine solidarische und gerechte Gesellschaft, die allen Menschen Rechte, Chancen und Unterstützung bietet.Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit müssen immer wieder neu gesichert und erstritten werden.Die Volkssolidarität tut dies als Anwältin der Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind.Oft verbündet sie sich dabei mit anderen Sozialverbänden,bringt sich in Bündnissen und Arbeitsgruppen ein.Die Volkssolidarität leistet damit wichtige Arbeit für den Zusammenhalt und das Soziale in unserem Land.

Deutschland ist ein Sozialstaat, sagt das Grundgesetz.Der Staat trägt Verantwortung für die Daseinsvorsorge.Es ist staatliche Aufgabe, soziale Unterschiede auszugleichen,Teilhabe zu ermöglichen und den Menschen soziale Sicherheit zu gewährleisten.Der Staat ist dafür verantwortlich, dass soziale Dienstleistungen in verlässlichen Strukturen erbracht werden.Aber der Staat muss nicht alles selbst machen.Im vereinten Deutschland ist die freie Wohlfahrtspflege eine tragende Säule des Sozialen.Der Staat übernimmt Verantwortung,aber die freie Wohlfahrtspflege wird vor Ort von freien Trägern geleistet.Die Volkssolidarität hat sich nach 1989 in dieses System der freien Wohlfahrtspflege eingebracht und ist seitdem ein wichtiger Bestandteil.

V.

Man sieht das Logo der Volkssolidarität überall in Ostdeutschland.In den Kitas der Volkssolidarität erfahren 38.000 Kinder frühe Bildung.Schulkinder können die Hortbetreuung nutzen, wie sie das Haus der Familie und der Begegnung in Strasburg anbietet.Ich setze mich dafür ein, dass alle Kinder in Deutschland gut aufwachsen können.Gute Kinderbetreuung gehört dazu.Deshalb ist es ein Erfolg, dass die Mittel aus dem Betreuungsgeldan die Länder gehen und für die Kinderbetreuung zur Verfügung stehen.Ich bin sicher, dass auch Kitas der Volkssolidarität davon profitieren werden.Für die Volkssolidarität ist die Kinderbetreuung ein relativ neuer Zweig.

Aber so neu dann auch wieder nicht:Schließlich hat die Volkssolidarität schon in den 60er Jahren sogenannte "Rentnerbrigaden" losgeschickt,die für Familien einkauften, leichte Hausarbeiten erledigten oder ein krankes Kind betreuten.Damals hieß es "Entlastung berufstätiger Frauen", und niemand dachte daran, dass mit dieser Arbeit auch die Männer entlastet werden.Aber für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat sich die Volkssolidarität schon immer stark gemacht.Durch Nachbarschaftshilfe und praktisches Handeln, wie es ihre Art ist.Ich möchte, dass Familien mehr Zeit habenund dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser klappt.Bei Frauen und Männern, partnerschaftlich.

Wir haben dafür das ElterngeldPlus eingeführt,und ich setze mich für eine Familienarbeitszeit ein,die beiden Partnern die Möglichkeit gibt, für die Familie da zu sein,ohne ihre beruflichen Ziele aufgeben zu müssen.Aber wenn es Probleme in einer Familie oder Schwierigkeiten beim Zugang zu Sozialleistungen gibt,dann helfen Beratungsstellen vor Ort wie die der Volkssolidarität.Ich möchte auch, dass ältere und pflegebedürftige Menschen gut betreut werden.Wir haben das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf für die Entlastung der pflegenden Angehörigen gemacht,die beiden Pflegestärkungsgesetze, und wir reformieren die Pflegeausbildung, damit dieser Beruf attraktiver wird.Aber die Pflege vor Ort und die Geselligkeit, damit ältere Menschen nicht vereinsamen - das machen Initiativen wie die Volkssolidarität vor Ort.

Die Arbeit für ältere Menschen ist der traditionelle Schwerpunkt der Volkssolidarität.Die grün-weiß-rote Flagge weht vor Pflegeheimen und Anlagen des betreuten Wohnens.Die kleinen Autos der Pflegedienste sind ein gewohnter Anblick in den Straßen.Am Boddenhus ist das Motto "Miteinander - füreinander" und das Aktivwerden von Älteren und Jüngeren genauso lebendig wie im Mehrgenerationenhaus Torgelow.

Die Volkssolidarität ist heute ein Dach für die Familien,ein Verband für alle Generationen.Gerade im ländlichen Raum in Ostdeutschland geht kaum etwas ohne die Volkssolidarität.Und die Einrichtungen der Volkssolidarität sind kreativ, was Angebote im ländlichen Raum angeht:Das zeigt das Geromobil, das mit Angeboten für Demenzkranke durch die Region fährt,und das Mehrgenerationenhaus Torgelow mit seinen haushaltsnahen Dienstleistungen und seinem Fahrdienst.Die Träger der freien Wohlfahrtspflege sind eine Verbindungzwischen der Politik, die Gesetze macht und Programme auflegt, und den Menschen mit ihren konkreten Lebenssituationen.

Danke für die Unterstützung der Volkssolidarität dabei!

VI.

Knapp 18.000 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen die professionellen Strukturen der Volkssolidarität.Ich möchte allen Männern und Frauen danken,die bei der Volkssolidarität in den Kitas, in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Pflege oder in der Beratung arbeiten.Ohne Fachkräfte ist Wohlfahrtspflege nicht denkbar.Arbeit in den sozialen Berufen ist oft harte Arbeit,die mehrheitlich von Frauen geleistet wird

und vielfach besser bezahlt werden müsste.Eine Aufwertung der sozialen Berufe ist auch eine Frage der Lohngerechtigkeit zwischen Frauen und Männern.Wir brauchen qualifizierte Fachkräfte in den sozialen Berufen; Menschen, denen das soziale Miteinander etwas bedeutetund die jeden Tag dafür sorgen, dass das soziale Netz in unserem Land hält.Gleichzeitig ist die Volkssolidarität seit 70 Jahren ein Verband des Ehrenamts.

Über 24.000 Ehrenamtliche sind heute in der Volkssolidarität tätig.Ehrenamtliche sorgen dafür, dass in der Kita handwerklich alles in Ordnung ist, und basteln mit den Kindern.Ehrenamtliche organisieren Kulturprogramme und Ausflüge für ältere Menschen.Ehrenamtliche der Volkssolidarität arbeiten in Seniorenvertretungen mit und vertreten soziale Interessen in ihren Kommunen.Nicht zu vergessen: die Ehrenamtlichen, die in den Verbandsgremien aktiv sind und die Volkssolidarität als Mitgliederverband am Laufen halten.Volkssolidarität: Das bedeutet auch Reisen, Tanzen, Singen, Wandern.Der soziale Zusammenhalt wird nicht nur durch Unterstützungsangebote und schon gar nicht allein durch Gesetze und Verordnungen gesichert.Er braucht das zwischenmenschliche Miteinander.Ehrenamtliche bringen in die Wohlfahrtspflege eine besondere Qualität ein: nicht als Lückenbüßer, sondern als Partner hauptamtlicher Fachkräfte.Engagement ist darüber hinaus Teilhabe und Selbstbestimmung.

Wer sich engagiert, gestaltet mit, was in unserer Gesellschaft passiert,redet mit, will gehört werden.Demokratie und Sozialstaat brauchen dieses freiwillige Engagement.Deshalb möchte ich allen Ehrenamtlichen in der Volkssolidarität heute ganz besonders danken.70 Jahre Volkssolidarität - das ist Ihr Jubiläum!

VII.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Volkssolidarität hat 70 Jahre hinter sich, die es in sich haben.Auch die Situation heute ist nicht leicht.Die Volkssolidarität ist groß geworden - und wird heute kleiner,auch wenn es besser gelingt, junge Menschen anzusprechen,zum Beispiel über die Elternarbeit in den Kitas.Der Verband leistet wichtige Aufgaben in der kommunalen Daseinsvorsorge - und spürt die Auswirkungen von Abwanderung, demografischem Wandel und Sparzwang in den öffentlichen Haushalten,wenn es darum geht, diese Einrichtungen zu erhalten.

Die Wünsche und Anliegen an einen Wohlfahrts- und Sozialverband ändern sich, und die Volkssolidarität muss immer wieder neue Antworten finden.So betreibt die Volkssolidarität seit September eine Notunterkunft für Flüchtlinge in Berlin-Marzahn.Wie an vielen Orten in Deutschland kommen Menschen und bringen Kleidung oder Spielzeug vorbei.Der "Garten der Nachbarn" wird von Flüchtlingen und Einheimischen gemeinsam gestaltet.

Danke für Ihre Solidarität!

Ich bin fest davon überzeugt: 70 Jahre Volkssolidarität sind nur der Anfang.Die Volkssolidarität ist konsequent parteiisch: Sie steht für soziale Gerechtigkeit und an der Seite der Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind.Die Volkssolidarität ist ebenso konsequent persönlich: Sie steht für die Hilfe von Mensch zu Mensch, für Geselligkeit, für das Aktivwerden, für Miteinander und Füreinander.Diese Haltung hat vor 70 Jahren zur Gründung der Volkssolidarität geführt.Diese Haltung hat die Volkssolidarität vor 25 Jahren als Sozial- und Wohlfahrtsverband in die deutsche Einheit eingebracht.Diese Haltung lebt die Volkssolidarität bis heute.Deshalb brauchen wir die Volkssolidarität.

Herzlichen Glückwunsch zu 70 Jahren Volkssolidarität und alles Gute für die Zukunft!