Neue Osnabrücker Zeitung Manuela Schwesig: Integration beginnt in Kita und Schule

Manuela Schwesig, Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel
Manuela Schwesig© Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel

Neue Osnabrücker Zeitung: Frau Schwesig, die Flüchtlinge sind das alles beherrschende Thema. Wie stellt sich die Lage aus Sicht der Familienministerin dar?

Manuela Schwesig: Die Koalition hat sechs Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe in Aussicht gestellt. Das ist ein guter und richtiger Beschluss, auch wenn über den Umfang der Hilfe sicherlich noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.

NOZ: Die Länder fordern freilich eine Verstetigung der Hilfen, nicht nur eine einmalige Aktion…

Manuela Schwesig: Es gibt zweifellos langfristige Herausforderungen, etwa in der Integration. Diese ist ja nicht nur eine Frage des Arbeitsmarktes. Integration beginnt viel früher, bei den Kindern schon in der Kita und in der Schule. Wir dürfen nicht die Fehler der 1960er-Jahre wiederholen, als man sich auf die Gastarbeiter konzentrierte und wenig für die Frauen und Kinder getan hat. Gerade der Spracherwerb in Kita und Schule ist wichtig. Das bedeutet natürlich dauerhafte Kosten – für Erzieher und für Lehrer. Damit kann der Bund die Länder und die Kommunen nicht alleine lassen. Die Gesamtkosten werden im Kita-Bereich 2016 um 2,4 Milliarden Euro für Länder und Kommunen, 2017 um 3,7 Milliarden und 2018 um 4,9 Milliarden Euro steigen. Darin sind noch keine Kosten für Qualitätsverbesserung enthalten.

NOZ: Was wird nach dem Urteil des Verfassungsgerichts aus dem frei werdenden Betreuungsgeld? Soll es eine Einigung zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel geben, die Mittel fürs Elterngeld auszugeben und nur teilweise für Kitas? Einverstanden?

Manuela Schwesig: Wir werden die Entscheidung über frei werdende Mittel in der Koalition gemeinsam treffen. Teile der Politik haben den Familien eine zusätzliche Leistung versprochen. Nachdem das Verfassungsgericht diese Bundesleistung verworfen hat, kann man jetzt nicht einfach sagen: Wir kassieren das Geld zulasten der Familien wieder ein. Ich meine: Wir sollten die zusätzliche Unterstützung der Familien aufrechterhalten und das frei werdende Geld dort investieren, wo noch großer Bedarf ist.

NOZ: Und wo genau sehen Sie diesen Bedarf?

Manuela Schwesig: Beim Ausbau der Kitas. Wir haben einen Rechtsanspruch auf Kita-Plätze für alle Kinder ab einem Jahr. Und wir haben jetzt endlich erstmals seit zehn Jahren wieder eine steigende Geburtenzahl. Da kann man sich jetzt doch nicht darüber beklagen, dass man Kita-Plätze braucht. Außerdem brauchen die Flüchtlingskinder, die zu uns kommen, dringend Betreuungsplätze. Sie sollten möglichst schon vor der Schule die Sprache lernen. Wir rechnen damit, dass von den mehr als 100.000 Flüchtlingskindern zwischen null und sechs Jahren, die nach den bisherigen Schätzungen in diesem Jahr bei uns Zuflucht suchen, rund 68.000 in die Kitas gehen werden. Das kostet die Kommunen rund 550 Millionen Euro im Jahr zusätzlich an Betriebskosten.

NOZ: Das Finanzministerium verweist auf Ausgaben für das Elterngeld, die kompensiert werden müssten…

Manuela Schwesig: Das ist keine zusätzliche Leistung für die Familien. Es war im Übrigen bekannt, dass die Aufwendungen fürs Elterngeld steigen würden, weil immer mehr Eltern, speziell auch immer mehr Väter, davon Gebrauch machen. Es ist eine einfache Rechnung: Wenn wir heute viele Steuermilliarden extra haben, dann kommen die auch von den Eltern, die arbeiten gehen. Die Finanzpolitik ist zu kurzsichtig, wenn sie nur darauf schaut, was Familienpolitik kostet. Es geht darum, was diese Ausgaben bringen. Klar ist: Jeder Kita-Platz verbessert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und erhöht die Erwerbstätigkeit.

NOZ: In diesem Zusammenhang: Wie steht es um Ihr neues Förderprogramm KitaPlus? Kann man schon sagen, wie viele Kitas mitmachen werden?

Manuela Schwesig: Nein, dafür ist es noch zu früh, der Start ist ja auch erst Anfang 2016, wir sind noch in der Phase der Interessenbekundungen. Aber ich bin zuversichtlich, dass das Angebot auf reges Interesse stoßen wird. Wir stellen in den nächsten drei Jahren 100 Millionen Euro für Kitas zur Verfügung, die ihre regulären Öffnungszeiten ausweiten wollen. Dabei gibt es nicht nur Zuschüsse zu den Investitionskosten, sondern auch zu den Betriebskosten. Das heißt, dass von dem Geld auch Erzieherinnen bezahlt werden können.

NOZ: Kritiker sprechen von 24-Stunden-Kitas und einer "Ökonomisierung" der Familien. Muss nicht umgekehrt die Wirtschaft auf die Familien zugehen?

Manuela Schwesig: Ja, sicher. Daher mache ich in zahlreichen Gesprächen mit Unternehmensverbänden immer deutlich, dass die Familien nicht immer arbeitsfreundlicher werden müssen, sondern die Unternehmen familienfreundlicher. Das Programm sieht im Übrigen gar nicht vor, dass aus allen Kitas 24-Stunden-Kitas gemacht werden. Es hat vielmehr zum Ziel, dass die Öffnungszeiten der Kitas sich den Bedürfnissen der berufstätigen Bevölkerung mehr anpassen als bisher. Für viele Eltern wäre es schon ein Gewinn, wenn die Kita nicht um 16 Uhr, sondern erst um 18 Uhr schließen würde. Und wir brauchen Angebote für die Menschen, die Schichtarbeit leisten, etwa in der Pflege und in der medizinischen Versorgung. Dabei geht es häufig um Mütter und Väter.

NOZ: Und wie passen die Kinder in dieses System?

Manuela Schwesig: Die Kinder stehen im Vordergrund. Sie brauchen natürlich die bestmögliche Qualität und kindgerechte Angebote. Daher begleiten Pädagogen und andere Experten das Projekt, damit die Interessen der Kinder gewahrt werden.

NOZ: Viele Eltern wünschen sich mehr Zeit für ihre Kinder. Wie steht es um die von Ihnen seit Langem geforderte Familienarbeitszeit? Wann können Eltern auf Erleichterungen hoffen?

Manuela Schwesig: Wir haben ja schon angefangen: mit dem Elterngeld Plus, das es seit dem 1. Juli des Jahres gibt. Damit haben Mütter und Väter die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit in der ersten Zeit nach der Geburt eines Kindes zu reduzieren. Wer Teilzeit arbeitet, bekommt für zwei Jahre Elterngeld, dann verdoppelt sich die Bezugszeit. Und wenn es beide tun, bekommen sie sogar noch länger Unterstützung. Das ist ein erster Einstieg in die Familienarbeitszeit. Ich bin gespannt, wie das angenommen wird.

NOZ: Und wie geht es weiter?

Manuela Schwesig: Im Ministerium wird bereits ein Konzept erarbeitet, wie man jungen Eltern bei der Arbeitszeit noch weiter entgegenkommen kann. Aber natürlich hängen weitere Veränderungen auch vom Koalitionspartner ab.

NOZ: Trotz aller sozialpolitischen Maßnahmen prägen Mangel und Verzicht das Leben von 2,2 Millionen Kindern in Deutschland, so das Ergebnis einer IAB-Studie. Was läuft da falsch? Und ist es nicht Zeit für eine Kindergrundsicherung?

Manuela Schwesig: Eine Kindergrundsicherung von vielleicht 500 Euro im Monat für jedes Kind ist auf den ersten Blick ein klares einfaches Modell. Allerdings kostet die Umsetzung solcher Pläne etwa 35 Milliarden Euro, eine stolze Summe. Außerdem würde man damit nicht mehr ganz gezielt jene Familien unterstützen, die die Hilfe besonders brauchen. Am wichtigsten ist, dass die Eltern berufstätig sind. Gemeinsam mit der Arbeitsministerin trete ich deshalb dafür ein, langzeitarbeitslosen Frauen eine berufliche Perspektive zu eröffnen. Hier schließt sich der Kreis. Oftmals sind diese Frauen nicht berufstätig, weil sie in Branchen arbeiten, wo sie Beruf und Familie nicht miteinander vereinbaren können. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig die Ausweitung der Betreuungszeiten in den Kitas ist.

NOZ: Wenn Sie drei Wünsche frei hätten. Was wünschen Sie sich am meisten für Frauen, Familien, Kinder und Senioren?

Manuela Schwesig: Erstens, dass es uns gelingt, die Kinderarmut in Deutschland besser zu bekämpfen, indem wir dafür sorgen, dass die Eltern gute Jobs haben. Zweitens, dass es gelingt, die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Pflege zu verbessern und dass Familien mehr Zeit für sich haben – Stichwort Familienarbeitszeit. Und drittens, dass wir den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz um einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Schule erweitern. Denn wir sind bei den Kitas zwar jetzt schon jetzt ganz ordentlich aufgestellt, aber viele Eltern erleben, dass ihre Kinder mit Schulbeginn keine Betreuung mehr am Nachmittag haben.