Süddeutsche Zeitung Lisa Paus: Reduzierung von Kinderarmut gibt es nicht zum Nulltarif

Lisa Paus sitzt an ihrem Schreibtisch
Bundesfamilienministerin Lisa Paus© Laurence Chaperon

Süddeutsche Zeitung (SZ): Sie haben neulich gesagt, Sie seien "sehr emotional beim Thema Kinderarmut". Warum?

Lisa Paus: Weil ich finde, es ist eine Schande für Deutschland, dass jedes fünfte Kind in Armut aufwächst. Ich habe die Folgen selbst gesehen, als ich mit 18 Jahren ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht habe. Und als ich danach nach Berlin gezogen bin, quasi in die Hauptstadt der Kinderarmut, war dort schon in den 2000er Jahren jedes dritte Kind von Armut betroffen. Ich habe das auch gemerkt, als mein Sohn hier in die Schule gekommen ist und ein Drittel bis ein Viertel der Kinder in der Klasse in Armut aufwuchs. Das Thema treibt mich schon seit Jahren um.

SZ: Das wollen Sie nun mit der Kindergrundsicherung ändern. Aber es gibt Streit vor allem mit der FDP, wie viel es kosten darf. Finanzminister Lindner will dafür das Kindergeld und andere Hilfen zusammenfassen, digitalisieren und den Kreis der Empfängerinnen und Empfänger ausweiten. Er sagt, im Wesentlichen reiche schon die jüngste Aufstockung der Hilfen um sieben Milliarden Euro. Sie verlangen zwölf Milliarden Euro. Wie erklären Sie den Unterschied?

Lisa Paus: Die sieben Milliarden, von denen Christian Lindner spricht, sind die Unterstützung für Familien, die die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht hat. Nur zur Erinnerung: Wir haben die größte Kindergelderhöhung seit 1996 vollzogen. Diese Erhöhungen können wir aber nicht eins zu eins mit zukünftigen Ausgaben für die Einführung der Kindergrundsicherung verrechnen, weil sie wegen der Inflation nahezu aufgefressen werden. Meine Rechnung bezieht sich auf 2025, das Jahr, in dem wir die Kindergrundsicherung einführen werden. Dafür brauchen wir zusätzliches Geld, auch weil wir derzeit nicht alle Kinder erreichen, die in Armut leben. Es gibt aber auch noch inhaltliche Fragen, wie wir die Leistungen zu einer Kindergrundsicherung für alle zusammenführen.

SZ: Was sind die zentralen Streitpunkte?

Lisa Paus: Die wichtigsten Punkte sind: Wir haben im Koalitionsvertrag verankert, dass das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern neu definiert wird. Das bedeutet im Ergebnis, dass der sogenannte Zusatzbetrag in der neuen Kindergrundsicherung, den ärmere Familien zusätzlich zum heutigen Kindergeld erhalten sollen, höher ausfallen wird. Die Frage ist, wie hoch? Und es geht darum, die Erwerbsanreize zu stärken. Bisher ist es so, dass Familien ein Großteil ihres zusätzlich verdienten Geldes bei den Sozialleistungen abgezogen wird, manchmal sogar alles. Das müssen wir ändern, damit sich Arbeit stärker lohnt. Wir wissen, wie wichtig diese Anreize sind. Sie zahlen sich langfristig aus, aber zunächst einmal verursachen sie dem Staat Kosten. Auch das ist ein Milliardenbetrag, der bisher strittig ist.

SZ: Das heißt, Sie wollen im Gegensatz zu Ihrem Koalitionspartner die Leistungen für Kinder und Familien ausweiten.

Lisa Paus: Ja, die Reduzierung von Kinderarmut gibt es nicht zum Nulltarif. 

SZ: Aber von einer Ausweitung steht nichts im Koalitionsvertrag. Dort heißt es, man konzentriere sich "auf die, die am meisten Unterstützung brauchen", man setze "insbesondere auch auf Digitalisierung und Entbürokratisierung", und das Existenzminimum von Kindern werde neu definiert. Fehlt Ihnen die politische Grundlage?

Lisa Paus: Einspruch! Vor dem von Ihnen zitierten Halbsatz heißt es im Koalitionsvertrag: Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen und bessere Chancen für Kinder und Jugendliche schaffen. Und zwar mit der Kindergrundsicherung. Die politische Grundlage ist also eindeutig. Und zum Existenzminimum hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass eine Absenkung faktisch nicht infrage kommt.

SZ: Das bedeutet nicht automatisch eine Erhöhung. Mit der Neudefinition kann man bei der gleichen oder einer ähnlichen Höhe landen.

Lisa Paus: Der Koalitionsvertrag ist auch hier eindeutig. Dort heißt es, die Kindergrundsicherung soll das neu zu definierende Existenzminimum sichern. Dies bedeutet - im Übrigen erstmalig - eine realistische Erfassung der kindbezogenen Bedarfe, also was Kinder als Minimum zum Leben wirklich brauchen. Und das wird auf eine Erhöhung hinauslaufen. Das war auch allen bewusst, die mit am Verhandlungstisch saßen. Wie sonst sollen wir Kinderarmut angehen? Wenn sie mit dem jetzigen Leistungsniveau bereits in Armut leben, ist es nur folgerichtig, dass sie mehr Geld erhalten müssen. Es ist doch jetzt schon so, dass es auch aufgrund der Inflation bei vielen Kindern nicht reicht für ein anständiges Essen. Bei den Tafeln und der Arche stehen die Leute Schlange, auch für ihre Kinder.

SZ: Finanzminister Lindner gesteht Ihnen zu, dass die Kindergrundsicherung über die besagten sieben Milliarden Euro hinaus mehr kosten wird, weil viel mehr berechtigte Familien die Hilfe tatsächlich in Anspruch nehmen sollen. Bisher verzichten viele auf das komplizierte Prozedere. Lindner rechnet dafür mit zwei bis drei Milliarden zusätzlich. Sind Sie gar nicht so weit auseinander?

Lisa Paus: Ich führe keine öffentlichen Haushaltsberatungen. Es wird sicher teurer, wenn mehr Berechtigte die ihnen zustehende Leistung tatsächlich erhalten. Da bin ich mir mit Christian Lindner einig. Meine Expertinnen und Experten schätzen die Mehrkosten allein dafür auf bis zu fünf Milliarden Euro. Grundlage ist, dass aktuell nur etwa ein Drittel der Anspruchsberechtigten tatsächlich die ihnen zustehenden Leistungen abrufen. Dazu kommen Anreize für die Arbeitsaufnahme, moderate Leistungsverbesserungen und die Kosten für die Digitalisierung, die sehr anspruchsvoll ist. Deswegen habe ich für die Kindergrundsicherung insgesamt zwölf Milliarden Euro ab 2025 angemeldet. Die endgültige Zahl steht erst fest, wenn wir die inhaltliche Ausgestaltung der Kindergrundsicherung geklärt haben. So wie bei jedem anderen Gesetzesvorhaben auch. Ich finde es sehr misslich, dass nun mehr über die Kosten statt über die Inhalte diskutiert wird. Damit ist keinem Kind in Deutschland geholfen.

SZ: Würden Sie dem Satz zustimmen: Der beste Weg aus der Armut ist, dass Eltern bessere Rahmenbedingungen bekommen für gut bezahlte Arbeit?

Lisa Paus: Natürlich ist Erwerbsarbeit die zentrale Stellschraube, um aus Armut herauszukommen, wir brauchen gute Löhne und gute Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch dazu machen wir einiges, vom Elterngeld über das KiTa-Qualitätsgesetz bis hin zum Ausbau des Ganztagsangebots an den Schulen, der allein kostet den Bund mehr als drei Milliarden Euro. Aber für die Kinder, die jetzt in Armut sind, brauchen wir auch etwas. Wir wissen aus der Praxis: Kinder in Armut erfahren Ausgrenzung, einfach, weil kein Geld da ist. Mit zu wenig Geld können sie zusätzliche Angebote in der Kita und in der Schule oftmals nicht nutzen. Deshalb geht es auch um mehr Geld für die Familien.

SZ: Wie groß ist Ihr Vertrauen, dass die Eltern das zusätzliche Geld so einsetzen, dass es ihren Kindern auch wirklich zugutekommt?

Lisa Paus: Nahezu hundert Prozent.

SZ: Der Staat weiß nicht besser, wie den Kindern geholfen werden kann? Er kann sehr gezielte Angebote machen, für den Besuch eines Sportvereins oder eines Bildungsangebots.

Lisa Paus: Nein, der Staat weiß es nicht besser. Dieses Geld kommt bei den Kindern an, es wird nicht für die Interessen der Eltern ausgegeben. Das zeigen Studien zu dieser Frage. Jeder Euro, der in die Familien geht, der wird tatsächlich verwendet für Angebote in der Freizeit, für Bildung oder eine bessere Wohnung. Das ist gut investiertes Geld in die Zukunft unserer Kinder, aber auch in die Zukunft unserer Gesellschaft insgesamt.