ZEIT ONLINE Lisa Paus: "Ich entwickle mein Haus zum Gesellschaftsministerium weiter"

Porträt Lisa Paus von der Seite
Bundesfamilienministerin Lisa Paus© Laurence Chaperon

ZEIT ONLINE: Frau Paus, wie oft haben Sie sich in den vergangenen Wochen gewünscht, Sie wären nicht Familien-, sondern Finanzministerin? 

Lisa Paus: Gar nicht. Ich bin sehr froh, Familienministerin zu sein, denn genau an der Stelle kann ich notwendige gesellschaftliche Projekte wie zum Beispiel die Kindergrundsicherung - und darauf spielen Sie ja vermutlich an - tatsächlich auf den Weg bringen. Wir müssen diese klaffende Gerechtigkeitslücke im Sozialstaat endlich schließen.

ZEIT ONLINE: Wie würden Sie denn Ihr Arbeitsverhältnis zu Christian Lindner in einem Wort beschreiben?

Lisa Paus: (lacht): Intensiv.

ZEIT ONLINE: Intensiv? Oder doch frustrierend? Das Problem ist ja, dass der Finanzminister Ihnen zurzeit ein Vorhaben nach dem anderen zusammen streicht. Bei Ihrem wichtigsten Projekt, der Kindergrundsicherung, fordern Sie zwölf Milliarden Euro. Lindner aber will am liebsten gar kein zusätzliches Geld bewilligen.

Lisa Paus: Ein Vorhaben nach dem anderen? Dem kann ich nicht folgen. Das Entscheidende bei der Kindergrundsicherung ist, dass wir Kinderarmut, die sich über Jahrzehnte in Deutschland verfestigt hat, endlich wirksam bekämpfen. Das will ich hinbekommen und das gibt es nicht zum Nulltarif. Eine große Mehrheit der Bevölkerung von 60 Prozent und drei Viertel aller Eltern mit minderjährigen Kindern befürworten die Einführung der Kindergrundsicherung. Sozialer Ausgleich ist den Menschen wichtig.

ZEIT ONLINE: Herr Lindner möchte das gerne als reines Digitalisierungsprojekt machen: Die Leistungen, die es schon gibt, für die Bürger leichter zugänglich machen.

Lisa Paus: Das ist zu kurz gesprungen, weil es um einen echten Paradigmenwechsel geht, der aus den verschiedenen kindbezogenen Leistungen eine Leistung macht. Eine Leistung, die an einer Stelle abzurufen ist. Und dafür nutzen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung: Der automatisierte Kindergrundsicherungs-Check soll prüfen, ob eine Familie Anspruch auf den Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung haben könnte. Ist das der Fall, wird die Familie automatisch informiert. Den Antrag stellen die Eltern dann über das digitale Kindergrundsicherungs-Portal. Sie sehen: Die Kindergrundsicherung ist ein zentrales sozialpolitisches Projekt und auch ein Digitalisierungsprojekt.

ZEIT ONLINE: Aber braucht es dafür wirklich höhere Leistungen? 

Lisa Paus: Ja. Wir wollen am Ende Leistungen haben, die nicht nur besser bei den Familien ankommen, sondern die auch besser für Familien und Kinder sind. Das ist doch die ganze Idee der Kindergrundsicherung: Kinder aus der Armut holen und sicherstellen, dass Kinder für Familien in Deutschland kein Armutsrisiko sind. Laut Mikrozensus ist insbesondere bei Familien mit drei oder mehr Kindern die Armutsgefährdungsquote angestiegen. Sie lag 2011 bei 22 Prozent und 2019 bei fast 31 Prozent. Noch höher liegt die Gefährdungsquote nur bei Alleinerziehenden, die ebenfalls angestiegen ist. Das ist erschreckend. Deshalb wollen wir das soziokulturelle Existenzminimum für Kinder neu berechnen. Daraus werden sich höhere Leistungen ergeben. Auch angesichts der gestiegenen Inflation ist das dringend notwendig.

ZEIT ONLINE: Und wie genau kommen Sie auf die zwölf Milliarden Euro, die dafür erforderlich sein sollen? Die FDP wirft Ihnen vor, mehr Geld zu fordern, ohne genau zu sagen, wofür Sie das brauchen. 

Lisa Paus: Das ist falsch. Ich habe mit den Eckpunkten ein solides Konzept vorgelegt. Dem ist ein intensiver Beteiligungsprozess mit sieben Ministerien vorangegangen, an dem natürlich auch das Finanzministerium beteiligt war. Aber ich werde jetzt hier keine öffentlichen Haushaltsverhandlungen führen. Klar ist: Ohne zusätzliches Geld geht es nicht. Schon wenn wir nur dafür sorgen würden, dass künftig alle Familien, die Anspruch auf Leistungen haben, diese auch tatsächlich bekommen, kostet das mehrere Milliarden Euro zusätzlich.

ZEIT ONLINE: Öffentlich streiten Sie vor allem mit der FDP. Doch man hört auch aus der SPD Stimmen, die sagen, wichtiger als mehr Geld an Familien direkt auszuzahlen seien bessere Löhne oder bessere Betreuungsangebote. Fühlen Sie sich von der SPD und auch vom Bundeskanzler im Stich gelassen? 

Lisa Paus: Auch die SPD weiß, wie wichtig die Kindergrundsicherung für die Glaubwürdigkeit dieser Koalition in sozialpolitischen Fragen ist. Erst letzten Donnerstag hat sich die SPD im Bundestag klar hinter die Kindergrundsicherung gestellt. Ich führe gute Gespräche mit dem Bundeskanzler, die Kindergrundsicherung ist ihm ein besonderes Anliegen.

ZEIT ONLINE: Aber läuft Ihnen nicht die Zeit davon, wenn Sie das Projekt noch in dieser Legislaturperiode umsetzen wollen? 

Lisa Paus: Wir schaffen das noch, aber, ja, die Zeit wird langsam knapp. Wir brauchen jetzt Einigkeit über die grundsätzlichen Fragen, dann steht auch der Finanzbedarf fest. Damit können wir parallel zum anschließenden Gesetzgebungsverfahren mit den Vorbereitungen der digitalen Umsetzung anfangen.  

ZEIT ONLINE: Ein anderes Projekt, das ebenfalls auf Widerstand bei der FDP trifft, ist die sogenannte Familienstartzeit. Künftig sollen auch Väter nach der Geburt eines Kindes zwei Wochen bei vollem Lohnausgleich zu Hause bleiben dürfen. Wieso ist das notwendig? Schon heute könnten Väter ja nach der Geburt Elternzeit nehmen.

Lisa Paus: Wir wissen aus vielen Umfragen, dass die meisten Paare, wenn sie Kinder bekommen, den Wunsch haben, das Familienleben partnerschaftlich zu organisieren. Aber die Realität ist dann oft eine andere, viele fallen in alte Muster zurück. Deswegen ist diese erste Phase mit einem Kind ganz wichtig, um die eigene Rolle in dieser neuen Situation zu finden. Der Anspruch auf zwei Wochen Freistellung durch die Familienstartzeit soll es ermöglichen, dass sich Frauen nach der Geburt regenerieren können. Damit stärken wir den Gesundheitsschutz der Frau. Eine Freistellung analog zum Mutterschutz stellt das sicher. Es gibt in dieser Zeit den vollen Lohnausgleich.

ZEIT ONLINE: Zwei Wochen sollen reichen, um den Grundstein für eine partnerschaftliche Aufteilung der Familienarbeit zu legen? 

Lisa Paus: Sich gleich zu Beginn gemeinsam den Herausforderungen zu stellen, die ein Baby mit sich bringt - vom Schlafrhythmus über das Einkaufen bis hin zum Wäschewaschen - hilft bei der Familiengründung ungemein. Wenn es gelingt, von Anfang an eine gemeinsame Aufgabenteilung hinzubekommen, kehren Mütter tendenziell früher wieder in den Beruf zurück, das wissen wir aus Studien.

ZEIT ONLINE: Sie selbst haben allerdings im vergangenen Jahr die Einführung verschoben, weil sie gesagt haben, das sei den Unternehmen in der gegenwärtigen Lage nicht zuzumuten. Was ist jetzt anders? 

Lisa Paus: Ich habe damals gesagt: Die wirtschaftliche Krise ist eine Herausforderung für die Unternehmen, deswegen brauchen sie Zeit, um sich vorbereiten zu können. Statt im Hauruckverfahren läuft das nun mit einem ganz normalen Gesetz, das 2024 in Kraft treten soll. 

ZEIT ONLINE: Die Wirtschaft will allerdings nicht zahlen. Die Arbeitgeberverbände etwa argumentieren, dass die bezahlte Freistellung während des Mutterschutzes eine Arbeitsschutzmaßnahme sei. Wenn die Politik darüber hinaus mehr für Gleichberechtigung tun wolle, müsse sie das auch selbst bezahlen, also aus Steuermitteln finanzieren.

Lisa Paus: Es geht um beides, Partnerschaftlichkeit und Gesundheitsschutz. Und gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ist es auch im Interesse der Unternehmen, wenn Frauen schneller in den Beruf zurückkehren. Wir wissen, dass wir mehr als 800.000 Arbeitskräfte zusätzlich gewinnen könnten, wenn die Rahmenbedingungen für Eltern besser wären. Dazu gehören natürlich gute Kinderbetreuungsangebote, aber eben auch ein Umfeld für eine bessere Partnerschaftlichkeit. Anders als beim Mutterschutz sollen die zusätzlichen zwei Wochen übrigens auch nicht verpflichtend sein, kein Arbeitnehmer muss sie nehmen.

ZEIT ONLINE: Welche Kosten kommen auf die Unternehmen zu?

Lisa Paus: Das Fraunhofer-Institut hat für uns modellhaft berechnet, dass die Kosten überschaubar sind. Für ein Unternehmen mit 100 Mitarbeitenden bei einem relevanten Durchschnittslohn von 3.700 Euro brutto sind das 208 Euro mehr monatlich. Bei zehn Mitarbeitenden sind es 10,40 Euro. Für den ganzen Betrieb, wohlgemerkt.  

ZEIT ONLINE: Irgendwie scheint es bei Ihren großen Vorhaben gerade mächtig zu haken. Ein wichtiges Projekt, das Sie sich vorgenommen haben, löst besonders viel Gegenwind aus…

Lisa Paus: Lassen Sie mich raten. 

ZEIT ONLINE: …genau, es geht um das Selbstbestimmungsgesetz. Mit dem sollen Menschen unter anderem ihr Geschlecht im Pass künftig viel leichter ändern können. Sie haben schon einmal nachgebessert, doch es gibt weiter Angst vor Missbrauch. Die FDP hat zum Beispiel darauf gepocht, dass etwa in Damensaunen oder Frauenhäusern auch künftig das Hausrecht gilt. Die Betreiber dürften demnach trans Personen, auch wenn diese einen weiblichen Geschlechtseintrag im Pass haben, abweisen. Wie soll das in der Praxis funktionieren? 

Lisa Paus: Wissen Sie, ich finde diese Geschichten zutiefst irritierend. Es geht beim Selbstbestimmungsgesetz darum, die betroffenen Personen in ihrer Geschlechtsidentität anzuerkennen und vor Stigmatisierung und Diskriminierung zu schützen. Wir haben immer noch ein Transsexuellengesetz, das mehrfach vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde, schlicht, weil es mit der Menschenwürde nicht vereinbar ist. Diese Menschen sind Opfer vor dem Gesetz und sie sind Opfer im Alltag. Dass da nun eine Erzählung verbreitet wird, die suggeriert, sie seien Täter, das finde ich - gelinde gesagt - erstaunlich. Da werden Ängste befeuert, die mit der Realität nichts zu tun haben. Im Übrigen kann ich die Kritiker beruhigen: Es gilt weiterhin das Hausrecht der Betreiberinnen und Betreiber. Bei der Ausübung des Hausrechts muss selbstverständlich - auch daran ändert sich nichts - das Antidiskriminierungsrecht beachtet werden.  

ZEIT ONLINE: Aber was ist denn dann konkret der Maßstab für die Abweisung einer Person? Sie haben gesagt, der reine Augenschein reiche nicht aus.

Lisa Paus: Was heute zulässig ist, das ist auch künftig zulässig. Und was heute verboten ist, ist auch künftig verboten. Das wird aus dem Gesetzestext und der Begründung zum Selbstbestimmungsgesetz auch klar hervorgehen. Das Selbstbestimmungsgesetz duldet keine Diskriminierung.  

ZEIT ONLINE: Die Ampel-Koalition ist angetreten, um mit ehrgeizigen Gesellschaftsreformen das Land zu modernisieren. Doch nun werden viele dieser Vorhaben gestutzt und verschoben. Bekommt die Koalition Angst vor der eigenen Courage? 

Lisa Paus: Das tun wir auch, indem wir beispielsweise den Paragraf 219a reformiert haben. Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser und Einrichtungen können zukünftig auch öffentlich ohne Angst vor Strafverfolgung darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Den Modernisierungsanspruch haben wir, auch deshalb bin ich mit großer Freude Familien- und Frauenministerin geworden. Wir müssen in so vielen Bereichen moderner werden, deswegen entwickle ich mein Ministerium zum Gesellschaftsministerium weiter. Das kann ich aber nur mit einem Koalitionsvertrag im Rücken, der anerkennt, dass die Lebensrealität in Deutschland oft vielfältiger ist als die Gesetzeslage.  

ZEIT ONLINE: Warum geht es so schwer voran?  

Lisa Paus: Die Prioritäten haben sich verschoben und nicht alles kann gleichzeitig passieren. Im vergangenen Jahr mussten wir zuallererst die Krisen infolge des Ukraine-Krieges bewältigen. Trotzdem haben wir es geschafft, die Prozesse sämtlich anzuschieben. Wir sind also auf dem Weg, doch manche Fragen sind komplizierter, als man eingangs denkt.  

ZEIT ONLINE: Wie genervt sind Sie vom Bremsen vor allem seitens der FDP?

Lisa Paus: Es mag sein, dass die FDP wegen der verlorenen Wahlen im vergangenen Jahr bei der einen oder anderen Reform etwas vorsichtiger ist. Aber ich bin zuversichtlich, denn diese Koalition ist in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen dem Fortschritt verpflichtet. Deshalb werden wir gemeinsam die anstehenden Aufgaben abarbeiten. Marco Buschmann und ich sind fest entschlossen, unsere Aufträge zu erfüllen.  

ZEIT ONLINE: Auch Finanzminister Lindner sehen Sie noch fest im Fortschrittsmodus? 

Lisa Paus: Auch der Finanzminister leistet seinen Beitrag. Denken Sie nur an die geplante Abschaffung der Steuerklassen III und V für Verheiratete. Ein wichtiger Zwischenschritt für die ökonomische Gleichstellung in der Ehe. Persönlich wünsche ich mir mehr: Die Abschaffung des Ehegattensplittings muss der nächste Schritt sein.

ZEIT ONLINE: Sie sind jetzt seit einem Jahr Ministerin. Wie hat das Amt Sie verändert?  

Lisa Paus: Vorher war ich Finanzpolitikerin, das kam mir sehr entgegen, denn ich liebe Zahlen. Aber im Familienministerium beziehungsweise Gesellschaftsministerium hat man mit der gesamten Bandbreite der Menschen im Land zu tun, das genieße ich sehr. Mein Alltag als Politikerin ist dadurch noch spannender geworden.