SPIEGEL Lisa Paus: Gleichberechtigung schützt vor häuslicher Gewalt

Bundesfamilienministerin Lisa Paus sitzt in einem Stuhl
Bundesfamilienministerin Lisa Paus© Lawrence Chaperon

SPIEGEL: Frau Paus, im vergangenen Jahr haben in Deutschland 240.000 Menschen häusliche Gewalt erlitten, 8,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Und das sind nur die Fälle, die die Polizei dokumentiert hat. Im Schnitt wird alle drei Tage eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Wie kann das sein?

Paus: Häusliche Gewalt ist traurigerweise seit Jahrzehnten Alltag in Deutschland, ein gravierendes Problem in allen gesellschaftlichen Gruppen. Zudem leben wir in einer Zeit mit multiplen Krisen. Das führt dazu, dass die Nerven bei den Menschen schneller blank liegen, auch schneller reißen.

SPIEGEL: Beunruhigen Sie die Zahlen?

Paus: Das Ausmaß ist unerträglich. Wir sind gut beraten, alles zu unternehmen, damit sich die Situation verbessert. Man muss aber auch sagen: Die Zusammenarbeit der Polizei mit den Beratungsstellen und den Frauenhäusern ist besser geworden. Bei der Beweissicherung hat sich ebenfalls einiges zum Positiven entwickelt. Die Zahlen steigen auch deshalb, weil mehr Frauen den Täter anzeigen.

SPIEGEL: Der Weiße Ring schätzt, dass es viermal mehr Misshandlungen geben könnte als registriert.

Paus: Wie groß das Dunkelfeld genau ist, soll eine Studie herausfinden, die seit Juli läuft. Dafür sollen 22.000 Menschen im ganzen Land befragt werden, die man zufällig aus den Einwohnermelderegistern auswählt. Mit ersten Ergebnissen rechne ich Anfang 2025.

SPIEGEL: Experten und Expertinnen sehen das Patriarchat als Nährboden für häusliche Gewalt. Eine Theorie besagt: Wenn ein Mann meint, einer Frau überlegen zu sein, dann empfindet er Gleichberechtigung als Provokation – die Männer fühlen sich in ihrer Wichtigkeit bedroht und wehren sich. Können Sie mit der These etwas anfangen?

Paus: Gleichberechtigung ist für mich der Schlüssel, um partnerschaftliche Gewalt zu reduzieren. In einer gleichberechtigten Beziehung löst das Paar Konflikte nicht mit Schlägen. Je patriarchaler aber eine Gesellschaft, desto mehr setzen Männer ihren Machtanspruch durch. Sie nehmen Frauen als Besitz wahr.

SPIEGEL: Frauenhäuser sind seit Jahren überlastet. Im Koalitionsvertrag haben Sie angekündigt, das Hilfesystem auszubauen, um dem Bedarf gerecht zu werden, und den Bund dauerhaft an Finanzierung zu beteiligen. Was haben Sie bislang erreicht?

Paus: Das Investitionsprogramm "Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen" funktioniert gut. Im vergangenen Jahr haben wir durch Umschichtung den Haushaltsansatz um zehn Millionen Euro erhöht. Nun können zusätzliche Frauenhausplätze angeboten werden, zum Beispiel auch für Frauen mit behinderten Kindern. Wir sind außerdem dabei, ein Gesetz zu erarbeiten, das Frauen ein Recht auf Beratung und einen sicheren Zufluchtsort garantiert.

SPIEGEL: Die Istanbul-Konvention ist ein Abkommen des Europarats "zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt", in Deutschland gilt sie seit fünf Jahren. Eine internationale Gruppe von Expertinnen und Experten überwacht die Umsetzung und bescheinigte der Bundesrepublik im Oktober 2022 gravierende Defizite. Hat Sie das geärgert?

Paus: Zum damaligen Zeitpunkt, mit den alten Daten, war das Urteil richtig. Ich bin aber zuversichtlich, dass der nächste Bericht besser ausfallen wird.

SPIEGEL: In Deutschland gibt es 6000 Plätze in Frauenhäusern. Folgt man den Empfehlungen der Istanbul-Konvention, fehlen knapp 15.000.

Paus: Umso wichtiger ist es, dass wir die Sache angehen. Aber wir machen noch mehr: Wir haben am Institut für Menschenrechte eine unabhängige Berichterstatter-Stelle geschaffen. Das ist eine kritische, unabhängige Instanz, die uns widerspiegeln soll, wie die Lage der häuslichen Gewalt in Deutschland ist, und die uns Vorschläge zur Verbesserung macht. Es wird eine App zur Hilfe bei häuslicher Gewalt geben, deren Entwicklung das Bundesinnenministerium unterstützt.

SPIEGEL: Noch mal zurück zu den Frauenhäusern: Wird es die 15.000 zusätzlichen Plätze jemals geben?

Paus: Wir müssen das Angebot schrittweise erhöhen, um den tatsächlichen Bedarf zu gewährleisten. Wie hoch dieser Bedarf in Deutschland ist und welche Mittel wir dafür benötigen, dazu habe ich umfassend Zahlen erheben lassen. Mit meinem Gesetz will ich nicht nur die Zahl von Plätzen angehen. An allererster Stelle steht für mich, dass alle Frauen unbürokratisch Zugang haben, also dass bislang bestehende Ausschlüsse für Frauen aufgehoben werden und der Zugang einfacher und das System reaktionsfähiger wird. Es ist natürlich eine Frage der politischen Prioritäten, aber da häusliche Gewalt kein Randthema mehr ist, bin ich überzeugt, dass wir es hinkriegen.

SPIEGEL: Warum wird nicht noch mehr über häusliche Gewalt geredet?

Paus: Weil sie hinter verschlossenen Türen stattfindet. Weil die Frauen sich schämen und oft Angst haben, dass die Misshandlung öffentlich wird. Weil sie wegen ihrer Kinder, einer ökonomischen oder aufenthaltsrechtlichen Abhängigkeit vom Partner keine realistische Perspektive sehen, sich zu trennen. Deswegen sagen sie, sie seien von der Treppe gefallen oder in der Dusche ausgerutscht, wenn sie Hämatome im Gesicht haben. Ich glaube aber, die Sensibilität in der Gesellschaft hat zugenommen und damit auch die Unterstützung für die Opfer. Meine Wahrnehmung ist: Die Leute rufen häufiger die Polizei, wenn sie Streit in der Nachbarwohnung hören. Und wenn sich Betroffene öffnen, dann geht das Umfeld inzwischen anders mit ihnen um als noch vor einigen Jahren. Die Zeiten sind vorbei, wo es hieß: Du musst akzeptieren, wenn dein Mann dich schlägt. Aber es bleibt eine unfassbar schwierige Situation. Heute heißt es dann vielleicht eher: Warum trennst Du Dich nicht einfach? Das unterschätzt die Dynamik von Gewaltbeziehungen. Welche Frau gesteht schon gern ein, in welcher Abhängigkeit sie steckt? Die Betroffenen haben oft ein zerstörtes Selbstwertgefühl, sie denken, sie hätten die Gewalt verdient.

SPIEGEL: In 14 europäischen Ländern reicht ein verbales "Nein" zum Sex nicht aus für eine Anklage wegen Vergewaltigung. Die EU plant eine Reform des Strafrechts und will die "Nur Ja heißt Ja"-Regelung einführen. Deutschland blockiert das Vorhaben im Europäischen Rat. Sind Sie damit einverstanden?

Paus: Die Initiative der EU ist grundsätzlich richtig. Es muss eine klare gemeinsame Regelung geben.

SPIEGEL: Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP argumentiert, die EU dürfe ein solches Gesetz gar nicht verabschieden. Was sagen Sie dazu?

Paus: Ich bin keine Juristin. Ich hätte mir gewünscht, dass auch der Straftatbestand der Vergewaltigung einbezogen würde. Klar ist aber: Bislang gab es keine Regelung auf EU-Ebene zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und keine gemeinsamen Mindeststandards für den Schutz Betroffener vor dieser Gewalt. Mit der geplanten Richtlinie soll Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt jetzt überall in der EU wirksamer bekämpft werden.

SPIEGEL: Die Berliner Familienrechtsanwältin Asha Hedayati hat kürzlich im SPIEGEL der Polizei, den Staatsanwaltschaften und Gerichten vorgeworfen , den Schutz der Frauen nicht ernst genug zu nehmen: Immer wieder komme es zu einer Täter-Opfer-Umkehr, die Ämter und Behörden würden "misogyne Mythen" produzieren. Versagen staatliche Institutionen beim Schutz von Frauen?

Paus: Unser Strafrecht ist in den vergangenen Jahren verschärft worden. Diese Bundesregierung hat erstmals rechtlich klargestellt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein strafverschärfender Faktor ist. Bei uns gilt im Sexualstrafrecht der Grundsatz "Nein heißt Nein". Und glücklicherweise ist Vergewaltigung in der Ehe schon länger strafbar. Richtig ist, dass es eine Diskussion gibt, inwieweit bei Fragen des Sorge- und Umgangsrechts Gewaltdelikte adäquat berücksichtigt werden. Natürlich muss auch partnerschaftliche Gewalt in solchen Verfahren eine Rolle spielen. Dazu ist mein Haus mit dem Bundesjustizministerium im Gespräch.

SPIEGEL: Gewaltbeziehungen bestehen häufig fort, weil die Frau vom Mann finanziell abhängig ist. Tut die Bundesregierung genug, um das zu ändern?

Paus: Richtig ist, dass hier noch ein Weg zu gehen ist. Wir haben nach wie vor kein Equal Pay und wir haben ein Steuerrecht, das die Abhängigkeiten nicht abschafft, Stichwort Ehegattensplitting. Ökonomische Eigenständigkeit von Frauen und faire Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit in Partnerschaften sind aber die Ziele vieler unserer zentralen Maßnahmen, von der Stärkung der Betreuungsinfrastruktur für Kita- und Grundschulkinder über das Elterngeld und die Familienstartzeit bis zur Reform der Familienpflegezeit.

Autor: Milena Hassenkamp, Autor: Maik Großekathöfer