STERN Hilfen für Kinder sind die beste Zukunftsinvestition

Bundesfamilienministerin Lisa Paus sitzt in einem Stuhl
Bundesfamilienministerin Lisa Paus© Lawrence Chaperon

STERN: Frau Paus, Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer sind kurz vor den Ferien in entspannter Wandertagslaune. Das entspricht nicht ganz Ihrer Stimmung in den letzten Tagen vor der parlamentarischen Sommerpause, oder? 

Die vergangenen Wochen waren eher wie die Zeit kurz vor der Entscheidung über die Noten. Da muss man nochmal alles nachholen, was man vorher nicht geschafft hat. 

Die für Sie so wichtige Kindergrundsicherung scheint ein Problem-Projekt zu sein. Monatelang haben Sie sich mit dem Bundesfinanzminister nicht über die Kosten einigen können. Jetzt hat er Sie auf jährlich zwei Milliarden Euro gestutzt. Sie hatten zwölf Milliarden Euro gefordert. Um die geht es gar nicht mehr, auch Sie selbst sprechen nur noch von sieben Milliarden.

Lisa Paus: Die konkrete Summe kann erst in einem fertigen Gesetz stehen. Es ist das klare Ziel von mir, dem Kanzler und der gesamten Bundesregierung, dass wir bis zum Ende der Sommerpause einen Gesetzesentwurf haben. Und schon jetzt steht fest, dass es ab 2025 eine Kindergrundsicherung mit verbesserten Leistungen für arme Kinder geben wird.

STERN: Der Kanzler hat Ihnen dazu einen Brief geschrieben, in dem von einer "berechtigten Leistungsverbesserung" die Rede ist - das stützt Ihre Position. Warum war ein solcher Brief notwendig?

Lisa Paus: Die Regierung ist eine Dreier-Konstellation. Der Brief hat die nötige Klarheit geschaffen, damit wir jetzt zügig weiterarbeiten können und ist auch ein Signal, dass es bei der Kindergrundsicherung um mehr geht als eine Verwaltungsreform. In Deutschland wächst jedes fünfte Kind in Armut auf. Und gerade in Zeiten gestiegener Inflation ist es wichtig, Familien zu unterstützen, die es ohnehin schwer haben. Das ist sozial gerecht. Auch mit Blick auf den Zusammenhalt in einer alternden Gesellschaft sind Hilfen für Kinder die beste Zukunftsinvestition, die wir tätigen können. Da werden sonst riesige Chancen einfach vertan. Familien und Kinder sind das Wichtigste, das wir haben in unserem Land. Mein Job als Bundesfamilienministerin ist es, sich mit darum zu kümmern, dass es ihnen besser geht. Im Übrigen sind laut Kinderreport des deutschen Kinderhilfswerks drei Viertel der Bevölkerung der Meinung, dass zu wenig gegen Kinderarmut getan wird. Das sind deutliche Zahlen.

STERN: Trotzdem ist es ungewöhnlich, dass sich der Kanzler einmischt. Hat er Ihnen angeboten, den Brief zu schreiben, oder haben Sie ihn darum gebeten?

Lisa Paus: Der Kanzler hat den Brief mit mir abgesprochen und diese Klärung war die Grundlage dafür, dass die grünen Ministerinnen und Minister im Kabinett der Verabschiedung des Haushalts zugestimmt haben. Warum der Brief für eine der größten sozial- und familienpolitischen Reformen seit vielen Jahren hilfreich ist, habe ich Ihnen gerade beschrieben.

STERN: Zurzeit gibt es viele Familien, die gar nicht wissen, dass ihnen Leistungen zustehen. Deshalb hatten Sie vor, die Kindergrundsicherung automatisch an alle Berechtigten auszahlen zu lassen. Wird das ab 2025 klappen?

Lisa Paus: Die Auszahlung soll über die Familienkasse laufen, die zur Bundesagentur für Arbeit gehört. Die Chefin der Bundesagentur hat gerade erst in einem Interview betont, dass die Familienkasse etwa zwölf Monate Vorlaufzeit braucht. Die Auszahlung der neuen Kindergrundsicherung wird in 2025 erfolgen. Wenn wir zum Ende des Sommers hin den Gesetzentwurf verabschieden, sind wir also noch in der Zeit. Es ist auf jeden Fall eine technisch anspruchsvolle Operation. Mit dem "Kindergrundsicherungs-Check" soll auf Grundlage einer datenschutzkonformen Einwilligung zusätzlich eine gezielte Überprüfung der Einkommensdaten der Eltern erfolgen. Familien, die Anspruch auf den Zusatzbetrag haben, also ein Kindergeldplus, sollen direkt von den Familienkassen darauf hingewiesen werden. Der Anspruch kann dann mit einem einfachen Antrag geltend gemacht werden.

STERN: Die FDP hat immer auf ein digitales "Kinderchancenportal" gepocht. Da sollte man sich verschiedene Bildungs- und Förderangebote so einfach zusammenklicken können wie bei einem Amazon-Warenkorb.

Lisa Paus: Das Bildungs- und Teilhabepaket ist in der jetzigen Form sehr aufwendig zu administrieren und wird wenig in Anspruch genommen. Darum sollen Teile daraus in die Kindergrundsicherung übernommen werden. Was den Vorschlag der FDP angeht: Dafür bin ich selbstverständlich offen. Das haben wir auch gemeinsam im Koalitionsvertrag festgehalten. Allerdings brauchen wir dafür alle 402 Kommunen in Deutschland. Viele Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket laufen über die Kommunen und alle haben unterschiedliche Systeme. Es wird ein digitales Portal für die Kindergrundsicherung geben, das die Beantragung erleichtert und ein Andockpunkt sein könnte. Wichtig ist außerdem, dass die Kinder nicht mehr im Bürgergeld-Bezug sind.

STERN: Warum?

Lisa Paus: Mit dem Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung wollen wir rund sechs Millionen Kinder erreichen. 1,6 Millionen von diesen Kindern holen wir so aus dem Bürgergeld in die Kindergrundsicherung und damit in eine Leistung, die ohne Unterschied für alle Kinder gilt. Arme Kinder dürfen nicht stigmatisiert werden, das ist nicht gut für das Selbstwertgefühl. Auch darum ist die Kindergrundsicherung für alle so wichtig.

STERN: Die FDP hat lange kritisiert, dass es keine Eckpunkte für das geplante Gesetz gebe, keine genaue Begründung, wofür Sie die zwölf Milliarden Euro brauchen. Wann werden diese Eckpunkte kommen?

Lisa Paus: Diese Behauptung wird nicht richtiger, wenn sie ständig wiederholt wird. Die Kindergrundsicherung ist ein komplexes Gesetzgebungsverfahren. Um die Grundlagen zu erarbeiten, gab es über Monate einen intensiven Arbeitsprozess mit insgesamt sieben Ministerien. Im Januar habe ich im Rahmen der Interministeriellen Arbeitsgruppe intern Eckpunkte vorgelegt - die auch in den Medien öffentlich wurden. Ein solides Konzept, das auf die wichtigsten Punkte der Kindergrundsicherung eingeht. Dazu gehört, wie man die unterschiedlichen Leistungen durch eine zentrale Leistung ersetzt, welche Leistungsverbesserungen möglich sein könnten und wie digitalrechtliche Fragen zu berücksichtigen sind. Im Mai wurden diese weiterentwickelten Eckpunkte mit dem Bundeskanzleramt geeint. Jetzt geht es darum, insbesondere den Bundesfinanzminister ins Boot zu holen.

Nennen Sie mich an der Stelle altmodisch, aber ein Konzept und Eckpunkte sollten veröffentlicht werden, wenn es regierungsintern eine Übereinstimmung gibt. Weil die Zeit drängt, überspringen wir jetzt diese Phase und legen den Gesetzesentwurf direkt vor. Und sobald er in die vorgesehene Verbändeanhörung geht, wird er auch öffentlich. Es gibt keine Blackbox, alles läuft im Rahmen der Geschäftsordnung der Bundesregierung ab. Weniger Aufregung wegen der Verfahren und mehr Sachorientierung hinsichtlich der Belange der Familien und armutsbedrohter Kinder ist angebracht. Denn um die geht's. Ich werde alles dafür tun, dass wir hier nach Jahren der theoretischen Debatten zu einer Kindergrundsicherung den Durchbruch schaffen. Das ist mein Job und meine Überzeugung.

STERN: Kann die Kindergrundsicherung die Kinderarmut abschaffen?

Lisa Paus: Schrittweise zurückdrängen, ja. In Zukunft wird es einfacher für Eltern, Leistungen zu beantragen, und wir werden mehr arme Kinder erreichen und substanziell unterstützen.

STERN: Lassen Sie uns über etwas sprechen, das die Situation vieler Familien verschlechtern wird: Sie haben beschlossen, dass nur noch Eltern mit einem Jahreseinkommen von bis zu 150.000 Euro Anrecht auf Elterngeld haben.

Lisa Paus: Zur Klarstellung: Es geht um 150.000 Euro zu versteuernden Einkommen von Paaren, also Jahreseinkommen von rund 180.000 Euro brutto und mehr. Aber mich schmerzt jede Familie, die hier zurückstecken muss. Über 90 Prozent meines Etats betreffen gesetzliche Leistungen wie Elterngeld, Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende oder Kinderzuschlag. Auch mein Haus musste seinen Kürzungsbeitrag leisten, da nur die Verteidigungsausgaben von Kürzungen ausgenommen wurden. Das Bundesfinanzministerium hat vorgeschlagen, dass wir die dynamische Entwicklung der Ausgaben beim Elterngeld drosseln. Darum haben wir beschlossen, den Kreis der Berechtigten zu verkleinern. Es war die am wenigsten schlechte Option und aus meiner Sicht die sozial gerechteste. Das Elterngeld ist eine der populärsten Familienleistungen, die wir in Deutschland haben.

STERN: Das wird nun entweder zu sinkenden Geburtenzahlen führen oder zu mehr Alleinverdiener-Modellen - was meist für Frauen finanzielle Abhängigkeit bedeutet. Ist das im Sinne der Frauenministerin?

Lisa Paus: Wir haben mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Halbierung der Einkommensgrenze von 300.000 Euro auf 150.000 Euro negative gleichstellungspolitische Folgen hat. Es steht zu befürchten, dass zumindest in der betroffenen Einkommensgruppe weniger Väter Elternzeit nehmen, Mütter mit kleinen Kindern werden in dieser Phase abhängiger von der Unterstützung durch die Väter. Dieser Rückschritt wäre nicht gut. Tatsächlich betroffen sind aber voraussichtlich erst einmal nur 60.000 Paare und es gibt keine empirische Evidenz, dass diese wohlhabenden Paare ihren Kinderwunsch vorrangig vom Elterngeld abhängig machen. Zumal auch Aspekte wie eine bedarfsgerechte Ganztagsbetreuung eine wichtige Rolle spielen.

STERN: Sie haben sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, bis 2030 die Gleichstellung zu erreichen. Das wird durch diese Entscheidung nun schwerer, oder?

Lisa Paus: Gleichstellung bemisst sich an mehr Parametern als an der Absenkung der Einkommensgrenze beim Elterngeld. Dazu gehören die Reduzierung des Gender Pay Gaps, Frauen in Führungspositionen, Care Arbeit auch jenseits der Elterngeldphase, Schutz vor Gewalt und Sexismus und vieles mehr. Insgesamt hat das Elterngeld viel erreicht. Wir sehen aber auch, dass die meisten Väter nur die zwei Monate nutzen. Die Erwerbstätigkeitsquote bei Frauen ist zwar gestiegen, trotzdem haben viele Mini- und Teilzeitjobs. Wir sollten deshalb weiter überlegen, wie wir Partnerschaftlichkeit besser unterstützen können. Deshalb habe ich die "Familienstartzeit" auf den Weg gebracht: Künftig sollen der Partner oder die Partnerin der Mutter zwei Wochen nach der Geburt von der Arbeit freigestellt werden, bei vollem Lohnausgleich.

STERN: Dem Vorhaben wurde doch eine Absage erteilt - mit dem Hinweis, es lasse sich zurzeit nicht finanzieren.

Lisa Paus: Nun warten wir doch bitte erst einmal ab.

STERN: Wir haben den Eindruck, dass nicht alle Koalitionspartner so richtig vom Feminismus überzeugt sind.

Lisa Paus: Klar ist, die Grünen sind eine feministische Partei. Für die anderen Parteien kann ich nicht sprechen, aber ich finde auch durchaus Unterstützung für meine Anliegen wie beispielsweise die Abschaffung des Paragrafen 219.

STERN: Zweifeln Sie an der Ampelkoalition?

Lisa Paus: Nein.