Berliner Morgenpost Christine Lambrecht: "Im Moment sind wir auf einem sehr guten Weg."

Christine Lambrecht im Portrait
Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht stellt im Interview mit der Berliner Morgenpost den "Aktionsplan Aufholen nach Corona" vor © BMJV

Berliner Morgenpost: Die Corona-Inzidenz ist nicht mehr weit von der Nulllinie entfernt. Höchste Zeit für weitere Lockerungen?

Christine Lambrecht: Im Moment sind wir auf einem sehr guten Weg. Das hat damit zu tun, dass inzwischen viele Menschen geimpft sind, aber auch damit, dass wir immer noch vorsichtig sind. Zum Beispiel, indem wir in geschlossenen Räumen Masken tragen, wenn wir nicht genügend Abstand halten können. Wir müssen dabei sämtliche Maßnahmen immer wieder auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüfen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen: Wir sind noch nicht über den Berg. Wir haben noch keine Herdenimmunität. Es gibt noch viele Menschen, die nicht geimpft sind. Wir müssen also trotz sehr niedriger Inzidenzen noch eine Zeit lang Rücksicht nehmen.

Berliner Morgenpost: Was passiert, wenn die Inzidenz auf null fällt?

Christine Lambrecht: Die Inzidenzzahl ist nicht allein entscheidend. Die Frage ist auch, welche Infektionsketten ausgelöst werden können. Kinder unter 12 Jahren können noch nicht geimpft werden. Bei ihnen ist zum Glück das Risiko schwerer Krankheitsverläufe gering, aber sie können das Virus an ungeimpfte Erwachsene weitergeben. Besonders wichtig ist deshalb, die Kontaktpersonen von Kindern zügig zu impfen. Bevor wir die Schutzmaßnahmen komplett aufheben, müssen wir also beim Impfen erst noch deutlich weiter in Richtung Herdenimmunität kommen. Dazu müssen wir sehr genau im Blick behalten, wie sich die neue, mutmaßlich deutlich ansteckendere Delta-Variante ausbreitet, und ihre Verbreitung so gut wie möglich eindämmen.

Berliner Morgenpost: Delta könnte eine vierte Welle auslösen. Was passiert, wenn die Fallzahlen wieder stark steigen? Kommt eine neue Bundesnotbremse?

Christine Lambrecht: Es besteht die Möglichkeit, über das Infektionsschutzgesetz auch wieder strengere Kontaktbeschränkungen einzuführen, wenn dies erforderlich werden sollte - die Instrumente dafür sind da. Der Deutsche Bundestag hat jüngst das Fortbestehen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite festgestellt. Bund und Länder werden die Situation genau beobachten und Vorbereitungen treffen, um im Ernstfall schnell auf eine Ausbreitung der Delta-Variante zu reagieren. Mit dem Auslaufen der Bundesnotbremse Ende Juni sind dann aber vor allem die Länder am Zug.

Berliner Morgenpost: Nach den Ferien sitzen Millionen ungeimpfte Kinder in den Schulklassen. Wie lassen sich Rückkehrer-Ausbrüche verhindern?

Christine Lambrecht: Ich würde jedem raten, genau hinzuschauen, wie die Infektionslage am Reiseziel ist, gerade auch mit Blick auf die Delta-Variante. Grundsätzlich aber spricht nichts gegen Urlaub im Ausland. Gerade Familien freuen sich nach den harten letzten 15 Monaten auf unbeschwerte Ferientage und haben sie sich verdient. Wichtig ist, dass man sich im Urlaub und auch danach verantwortungsvoll verhält, also häufiger Tests macht, Abstand hält und Maske trägt, wenn nicht genügend Abstand gehalten werden kann, und dass in den Schulen regelmäßig getestet wird.

Berliner Morgenpost: Vollständig Geimpfte sind gegen Delta geschützt. Doch der Immunschutz hält nicht ewig. Wie soll die Auffrischungsimpfung ablaufen? Braucht es eine neue Priorisierung?

Christine Lambrecht: Wir wissen noch nicht genau, ob und ab wann eine Auffrischimpfung erforderlich sein wird. An diesen Fragen wird intensiv geforscht. Tatsache ist: wir bekommen von Woche zu Woche mehr Impfstoff. Ich glaube deswegen nicht, dass wir im Herbst eine Situation haben, in der es zu wenig Impfdosen gibt.

Berliner Morgenpost: Das Impfen macht Hoffnung, gleichzeitig werden die Folgen des monatelangen Ausnahmezustands immer sichtbarer…

Christine Lambrecht: Wir sprechen viel über Kinder, Jugendliche und ihre Familien - und über das, was sie in der Pandemie erlebt haben. Zu Recht: Gerade Kinder und Familien haben in der Krise sehr gelitten. Wir wollen mit aller Kraft dafür sorgen, diese Belastungen wieder auszugleichen. Dafür haben wir ein Aktionsprogramm in Höhe von zwei Milliarden Euro aufgelegt. Neben dem Abbau von Lernrückständen ermöglichen wir damit auch umfangreiche Sport- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche, schaffen Erholungsangebote für Familien und fördern durch den Ausbau der Sprach-Kitas auch jüngere Kinder. Doch wir dürfen darüber nicht die Älteren aus dem Blick verlieren. Die Pandemie hat viele alte Menschen sehr einsam gemacht. Viele haben sich zurückgezogen, viele waren isoliert, weil sich niemand um sie kümmern konnte. Wir müssen diesen älteren Menschen Angebote machen, um ihnen wieder mehr Kontakte und soziales Leben zu ermöglichen.

Berliner Morgenpost: Was planen Sie konkret?

Christine Lambrecht: Wir bauen Teilhabemöglichkeiten vor Ort aus, zum Beispiel in Mehrgenerationenhäusern. Und wir fördern neu gestartete Modellvorhaben, die helfen, Einsamkeit vorzubeugen und sie zu bekämpfen. Dabei brauchen wir aber auch die Hilfe der Vereine und Initiativen vor Ort, die spezielle Angebote für Senioren machen. Und wir helfen, die digitalen Kenntnisse zu stärken. Ich werde dazu in den nächsten Wochen Vorschläge machen. Wir dürfen diese Gruppe nicht aus den Augen verlieren, nur weil sie nicht lautstark auftritt. Das ist mir ein besonderes Anliegen.

Berliner Morgenpost: In Pflegeheimen und Senioreneinrichtungen kommt es immer noch zu Ausbrüchen. Zum Teil auch deshalb, weil Pflegekräfte nicht geimpft sind. Müssen wir das hinnehmen?

Christine Lambrecht: Es gibt Menschen, die sich gegen eine Impfung entscheiden, das müssen wir akzeptieren. Wir müssen dann mit anderen Möglichkeiten die Gefahr einer Infektion verhindern, mit Tests, Masken, Abstand. Trotzdem werden wir es nicht ganz ausschließen können, dass es immer noch zu Ausbrüchen kommen kann. Aber die gute Nachricht ist: Geimpfte sind bei Ausbrüchen in aller Regel gut vor einem schweren Krankheitsverlauf geschützt.

Berliner Morgenpost: Sollte sich herausstellen, dass nicht genügend Erzieher, Lehrer, Pflegekräfte geimpft sind - ist dann eine berufsspezifische Impfpflicht wie bei den Masern denkbar?

Christine Lambrecht: Ich lehne eine Impfpflicht gegen Corona ab. Unsere Aufgabe ist es, über die Vorteile des Impfens aufzuklären. Die Impfbereitschaft steigt und ich bin mir sicher: Wir werden eine Herdenimmunität erreichen, auch wenn einige sich nicht impfen lassen wollen.

Berliner Morgenpost: Ein Drittel der Deutschen ist vollständig geimpft. Bald sind mehr als 25 Millionen Zertifikate im Umlauf. Sicher gegen Missbrauch sind sie nicht. Der QR-Code kann problemlos auf zehn verschiedenen Handys gleichzeitig gespeichert werden. Ist das eine Schwachstelle?

Christine Lambrecht: Ich kann davor nur warnen. Wer fremde oder verfälschte Impfausweise nutzt, gleich ob auf Papier oder digital, begeht eine Straftat. Das kann eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder empfindliche Geldstrafen bedeuten. Das ist kein Kavaliersdelikt, das sage ich allen ganz klar. Wer das versucht, fliegt schneller auf, als er denkt.

Berliner Morgenpost: Die Homeoffice-Pflicht endet am 30. Juni. Was raten Sie Eltern, die weiter von zu Hause arbeiten wollen, aber nicht dürfen?

Christine Lambrecht: Ich rate vor allem den Arbeitgebern, weiter Homeoffice zu ermöglichen, wo immer es geht. Wir haben ja gesehen, dass die Unternehmen, die Homeoffice schon vorher genutzt hatten, in der Krise viel einfacher auf mobiles Arbeiten umstellen konnten, weil sie die Strukturen dafür schon hatten. Eine kluge Homeoffice-Regelung ist zudem wichtig für die Attraktivität eines Arbeitgebers und leistet einen wichtigen Beitrag, um auf Dauer qualifiziertes Personal zu halten.