"Wacht auf! Steht auf gegen Judenhass!"

Manuela Schwesig, Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel
Manuela Schwesig © Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel
Am 14. September hat Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig gemeinsam mit tausenden Menschen an einer Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin teilgenommen. In einem Redebeitrag erklärt sie, warum es wichtig ist, gegen Judenhass Flagge zu zeigen.

"Bei einem Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel werden vier Menschen getötet. Drei junge Männer werfen Brandsätze in eine Synagoge in Wuppertal. Auf Demonstrationen werden Sprechchöre laut: "Juden soll man verbrennen!", "Juden soll man schlachten!" Ein junger Mann droht einem Frankfurter Rabbiner, 30 Juden in Deutschland zu töten, sollte seiner Familie in Gaza etwas zustoßen. In Berlin werden ein Jude und ein israelisches Ehepaar angegriffen. E-Mail-Foren quellen über von antisemitischer Hetze. Juden und Jüdinnen fragen sich, ob es nicht besser wäre, auszuwandern. Ist es wieder soweit? Nein, ist es nicht. Juden werden nicht verfolgt wie zur Zeit des Nationalsozialismus. Gleichzeitig werden nicht nur Jüdinnen und Juden zum Ziel von Hass und Gewalt. Wir tun gut daran, jeden Angriff auf eine Moschee, jede Beschimpfung von Sinti und Roma ernst zu nehmen. Die genannten Vorfälle zeigen jedoch, dass gerade der Antisemitismus in Deutschland in den letzten Monaten bedrohliche Dimensionen angenommen hat.

Es ist nicht (nur) der Antisemitismus, den wir kennen. Wir haben uns daran gewöhnt, Antisemitismus als Teil rechtsextremer Ideologie zu sehen, und haben ein wenig aus den Augen verloren, wie verbreitet antisemitische Vorurteile immer noch sind, und zwar weit über die rechtsextreme Szene hinaus. Nun drücken Jugendliche ihre Solidarität mit palästinensischen Kriegsopfern durch Hass auf alles aus, was jüdisch ist oder zu sein scheint. Mit dem Aufleben des Konflikts zwischen Israel und Palästina hat der Antisemitismus wieder neue Ansatzpunkte und Ausdrucksformen gefunden. Sogar linke Kapitalismuskritik verbindet sich gelegentlich mit Judenhass - es gibt fast kein Übel, das man den Juden nicht schon in die Schuhe schieben wollte. Judenfeindschaft in allen Formen und Ausprägungen hat eine lange Tradition. Nun scheint sie (wieder) anschlussfähig zu werden für alle Formen von Unmut, für jede Empörung über Missstände, bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Ich kann nur sagen: Demokratinnen und Demokraten, wacht auf! Hier ist nicht weniger in Gefahr als unsere Demokratie selbst, unsere offene Gesellschaft - und, vielleicht zuerst und vor allem, die Normalität jüdischen Lebens in unserem Land.

Mit dem neuen Programm "Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit" setze ich mich auch gegen Antisemitismus ein. Wir unterstützen Bildungsangebote gegen Vorurteile und Stereotype, machen aktuelles jüdisches Leben in Deutschland sichtbarer, stärken den interreligiösen Dialog und verbinden die Erinnerung an den Holocaust mit einer Brücke ins heute. Aber wir brauchen neue Wege, um den Antisemitismus zu bekämpfen. Es kommen andere Argumente ins Spiel, andere Zielgruppen sind anfällig. Wir wissen noch nicht einmal genug darüber, welche Verbindungen zwischen unterschiedlichen Gruppen, Traditionen, Ausprägungen des Antisemitismus es gibt. In der praktischen Arbeit mit Jugendlichen aus verschiedenen Kulturen gilt es, Lebensgeschichten aufzugreifen und auch Erfahrungen von Diskriminierung und Benachteiligung anzuerkennen. Erwachsene müssen bereit sein, sich Konflikten zu stellen und in den Dialog zu treten, Argumente zu geben und zum Widerspruch anzuregen.

Eines können wir alle tun, und zwar schon bald: Flagge zeigen. Am 14. September ruft der Zentralrat der Juden in Deutschland in Berlin zur Kundgebung auf: Steh auf! Nie wieder Judenhass! Es ist wichtig, dass möglichst viele Menschen kommen und Nein sagen zum alten und neuen Antisemitismus. Es ist wichtig, dass alle Menschen ihre Solidarität zeigen - mit Jüdinnen und Juden in Deutschland und überall auf der Welt. Über den Sonntag hinaus gilt: Jede und jeder einzelne ist aufgefordert, etwas zu tun. Antisemitismus hat in unserem Land keine Chance!"