Nationaler Rat gegen sexuelle Gewalt "Gemeinsame Verständigung" zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vorgelegt

Bundesjugendministerin Christine Lambrecht, der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, und Sonja Howard, Mitglied des Betroffenenrates beim UBSKM, haben am 30. Juni die "Gemeinsame Verständigung" des Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen vorgestellt. Das Dokument enthält Maßnahmen in fünf Themenkomplexen. Ziel ist es, Schutz und Hilfen bei sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu verbessern, kindgerechte Gerichtsverfahren zu gewährleisten und die Forschung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt weiter voranzubringen.

Christine Lambrecht:

"Kindern wird mit sexueller Gewalt unfassbares Leid angetan. Um sexueller Gewalt entschieden entgegenzutreten, braucht es uns alle in der Gesellschaft. Gerade deswegen ist der Nationale Rat so wichtig. In dem Forum vereinen alle staatlichen Ebenen, Verantwortungsträger, Zivilgesellschaft, Fachpraxis, Wissenschaft und Betroffene ihr Know-how und ihre Wirkungskraft. Ergebnis ist unsere 'Gemeinsame Verständigung'. Darin sind klare Schritte für ein entschlosseneres Handeln zum Schutz von Kindern und Jugendlichen enthalten. Konkret geht es beispielsweise darum, gerichtliche Verfahren kindgerecht zu gestalten, damit Kinder und Jugendliche so wenig wie nötig erneut belastet werden. Und es geht darum, Schutzkonzepte in Einrichtungen und auch digital konsequent zu entwickeln und umzusetzen. Ich danke allen Mitgliedern des Nationalen Rates für ihren starken Einsatz und ihr wertvolles Engagement. Jetzt kommt es darauf an, dass die Umsetzung in der nächsten Legislatur fortgeführt wird."

Johannes-Wilhelm Rörig:

"Im Dezember 2019 haben wir den Nationalen Rat einberufen, um eine Verständigung auf konkrete Verbesserungen bei Prävention, Intervention, Hilfen und Forschung zu erreichen. Diese Zielsetzung haben wir dank des beeindruckenden Engagements aller Mitwirkenden erreicht. Die 'Gemeinsame Verständigung' des Nationalen Rates zeigt uns aber auch, was noch alles unternommen werden muss, um im Kampf gegen sexuellen Missbrauch künftig erfolgreicher zu sein. Die 'Gemeinsame Verständigung' ist eine hervorragende Basis für konsequenteres Handeln. Die künftige Bundesregierung sollte den Nationalen Rat als ständigen 'Think Tank', in dem sich auch die Politik selbst verpflichtet, etablieren und stärken."

Mit Blick auf den ausufernden Anstieg von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Netz betonte Johannes-Wilhelm Rörig, dass der nächste Deutsche Bundestag und die nächste Bundesregierung zudem die Einsetzung einer starken Enquete-Kommission zur Erarbeitung einer Grundsatzstrategie gegen sexuelle Gewalt im Netz beschließen sollte, sowie eine gesetzlich verankerte umfassende Berichtspflicht des Amtes einer oder eines Missbrauchsbeauftragten gegenüber Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat.

Der Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs:

"Für den Betroffenenrat sind die Zwischenergebnisse des Nationalen Rates eine wichtige Bestandsaufnahme und Bündelung von konkreten nächsten Schritten. Über 35 Jahre ehrenamtliches und professionelles Engagement, insbesondere in Fachberatungsstellen, aber auch die vergangenen elf Jahre haben gezeigt, dass der Kampf gegen sexualisierte Gewalt und ihre Folgen nur gelingen kann, wenn klare und kontinuierlich finanzierte Rahmenbedingungen geschaffen werden. Im Mittelpunkt des Handelns müssen zwingend die Beteiligung und die Bedarfe von Betroffenen stehen. Notwendig sind der konsequente Ausbau von spezialisierten Fachberatungsstellen, die umfassende Implementierung von Kinderrechten sowie die inhaltliche Verankerung spezifischer Aspekte des Kinder- und Jugendschutzes - in allen Bereichen der Gesellschaft. Alle Bundesländer sind gefordert, spezielle Strukturen gegen sexualisierte Gewalt zu schaffen. Unser gemeinsames Ziel ist die längst überfällige gesamtgesellschaftliche Verantwortungsübernahme, denn alle Betroffenen haben unabhängig vom Tatkontext das Recht auf Schutz und Aufarbeitung, Unterstützung und Hilfen."

Die "Gemeinsame Verständigung" ist anderthalb Jahre nach der Konstituierung des "Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen" vorgelegt worden. Unter dem Vorsitz von Christine Lambrecht und Johannes-Wilhelm Rörig kam das Forum zuvor am 29. Juni erneut zusammen. Mehr als 40 staatliche und nicht-staatliche Spitzenakteurinnen und Spitzenakteure nahmen teil.

Bundespräsident würdigt Nationalen Rat

Mitglieder des Nationalen Rates im Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue
Christine Lambrecht (Dritte von rechts) und Johannes-Wilhelm Rörig (rechts) mit weiteren Mitgliedern des Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen beim Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue© Bundesregierung/Stefanie Loos

Eine besondere Würdigung erhielt der Nationale Rat am 30. Juni durch Frank-Walter Steinmeier. Der Bundespräsident hatte Bundesjugendministerin Christine Lambrecht und den Unabhängigen Beauftragten Johannes-Wilhelm Rörig gemeinsam mit Mitgliedern des Nationalen Rates, darunter auch mitwirkende Betroffene, zu einem Gespräch ins Schloss Bellevue eingeladen. Christine Lambrecht und Johannes-Wilhelm Rörig bewerteten diese Würdigung als sehr starkes Signal für Politik und Gesellschaft. 

Christine Lambrecht und Johannes-Wilhelm Rörig:

"Ein erfolgreicher Kampf gegen sexuellen Missbrauch braucht das Interesse und die Unterstützung der gesamten Gesellschaft, der gesamten Politik, auch der politischen Spitzen unseres Landes."

Kernpunkte der "Gemeinsamen Verständigung"

Die "Gemeinsame Verständigung" enthält folgende fünf Kernpunkte:

1. Schutzkonzepte weiter ausbauen und konsequent anwenden

Schutzkonzepte sind für Einrichtungen und Organisationen, die Kinder und Jugendliche betreuen, zentral, um sie vor sexueller Gewalt zu schützen und Aufdeckung von Gewalttaten zu fördern. Daher hat der Nationale Rat über die Gelingensbedingungen, darunter insbesondere gute Rahmenbedingungen, Qualifizierung, Partizipation und Vernetzung, beraten. Die Länder bekräftigen diese Anstrengungen mit einem Beschluss zur Umsetzung von Schutzkonzepten in Schulen.

2. Vernetzte Hilfen für Unterstützung von Betroffenen

Die Kompetenzen unterschiedlicher Berufsgruppen spielen bei der Aufdeckung sexualisierter Gewalt und zur wirksamen Hilfe eine wichtige Rolle. Die Systeme der Kinder- und Jugendhilfe sowie des Gesundheitswesens und der Sozialen Entschädigung müssen gut zusammenarbeiten und Kinder und mögliche Gewaltkontexte mit geschultem Blick betrachten. Die verbesserte Qualifizierung und Vernetzung dieser Akteurinnen und Akteure sollen dazu dienen, Gefahren für Kinder schneller zu erkennen und entsprechend zu helfen.

3. Kindgerechte gerichtliche Verfahren qualifizieren Entscheidungen

Der Nationale Rat möchte die Rahmenbedingungen für Vernehmungen und Anhörungen im familiengerichtlichen und im Strafverfahren verbessern. Dazu wurden Praxishilfen für kindgerechte Verfahren entwickelt. Die Länder bekräftigen diese Anstrengungen mit einem Beschluss zur besseren Umsetzung der Videovernehmung.

4. Schutz vor Ausbeutung und internationale Kooperation

Der Nationale Rat verfolgt das Ziel, die Identifizierung von minderjährigen Betroffenen des Menschenhandels strukturell zu befördern. Außerdem sollen spezifische Hilfen, wie bedarfsgerechte Unterbringungsangebote, verbessert und die Zusammenarbeit von Fachkräften gestärkt werden. Die neue Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz soll mit dem Nationalen Rat Schutzkonzepte für den digitalen Raum erarbeiten, um Kinder und Jugendliche besser vor sexueller Ausbeutung zu schützen. Zur organisierten und rituellen Gewalt sollen Maßnahmen zur Aufklärung und Sensibilisierung vorangebracht werden.

5. Leitlinien für die Konzeption von Häufigkeitsforschung zu (sexueller) Gewalt

Der Nationale Rat hat den Bedarf für eine verbesserte Datengrundlage zu Ausmaß und Erscheinungsformen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche identifiziert und sich auf konkrete Leitlinien für die Konzeption von Häufigkeitsforschung verständigt. Sie sollen helfen, mehr Wissen über sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu generieren. Das ist die Grundlage guter politischer Entscheidungen.

Über den Nationalen Rat

Dem Nationalen Rat gehören Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft, Betroffene sowie Verantwortliche aus der Zivilgesellschaft und der Fachpraxis an. Das Gremium auf Spitzenebene und fünf thematische Arbeitsgruppen umfassen insgesamt etwa 300 Mitwirkende. Sie alle wollen das bestehende Ausmaß an sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht hinnehmen und haben sich zum gemeinsamen Ziel gesetzt, sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und deren Folgen dauerhaft entgegenzuwirken. Seit der Konstituierung des Nationalen Rates am 2. Dezember 2019 durch das Bundesjugendministerium und den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs hat der Nationale Rat in fünf thematischen Arbeitsgruppen getagt: Schutz, Hilfen, Kindgerechte Justiz, Schutz vor Ausbeutung und internationale Kooperation sowie Forschung und Wissenschaft.