Sehr geehrter Herr Kommissar Špidla,
(Vladimir Špidla, Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit)
sehr geehrter Herr stellvertretender Premierminister Caplovic,
(Dušan Caplovic, Deputy Prime Minister of the Government of the Slovak Republic for Knowledge-Based Society, European Affairs, Human Rights and Minorities)
sehr geehrte Damen und Herren Minister,
sehr geehrte Damen und Herren Staatssekretäre,
meine Damen und Herren Abgeordnete des Europäischen Parlaments und des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
ich begrüße Sie herzlich hier in Berlin und freue mich sehr, dass Sie zusammen mit mir das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle 2007 eröffnen. Gleichzeitig ist dies der erste Europäische Gleichstellungsgipfel. Dass so viele hochrangige Vertreterinnen und Vertreter aus den Reihen der Politik, der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und der Wirtschaft hier anwesend sind, macht deutlich, welche Bedeutung Chancengleichheit hat: in Deutschland und in Europa.
Was ist eigentlich Chancengleichheit? Die Natur verteilt Chancen
- nach statistisch beschreibbaren Regeln,
- per Zufall
- oder über die Macht des Stärkeren oder Angepassteren.
In menschlichen Gesellschaften bekommen Menschen Chancen von anderen Menschen. Die Demokratie ist eng mit der Idee einer gerechten Verteilung von Chancen im Leben verknüpft. Wir empfinden fehlende Chancengleichheit als ungerecht und bemühen uns um den Abbau von Benachteiligungen. Das Verbot von Diskriminierung ist aus gutem Grund in den Menschenrechten festgeschrieben.
Aber was genau ist Chancengleichheit:
- Wenn bei einem Galopprennen alle gleichzeitig starten?
- Wenn alle Jockeys dabei das gleiche Gewicht auf die Waage bringen?
Die Forderung nach Chancengleichheit lenkt den Blick auf die Unterschiede. Menschen sind verschieden. Sie sehen unterschiedlich aus, sie haben unterschiedliche Lebensmuster, verschiedene Stärken und Schwächen und unterschiedliche Überzeugungen. Chancengleichheit heißt auch: Anerkennung von Verschiedenheit und Wertschätzung von Vielfalt und die Entfaltung der Fähigkeiten jedes einzelnen in seiner/ihrer individuellen Einzigartigkeit. Zum Glück ist unsere Gesellschaft kein Galopprennen. Wer nicht der Schnellste ist, kann seine - oder ihre - Fähigkeiten woanders einbringen.
Antwort auf Vielfalt ist nicht die Forderung nach künstlichen Handicaps, sondern nach einer optimalen Nutzung der Potentiale - von Alt und Jung, von Männern und Frauen, von Menschen mit verschiedenen ethnischen und religiösen Hintergründen. Es genügt nicht zu sagen: Alle sollen die gleichen Chancen haben. Wir müssen uns auch fragen, wie wir mit denjenigen umgehen, die objektiv schlechtere Ausgangsbedingungen vorfinden.
Die Europäische Union hat mit ihren Anti-Diskriminierungs-Richtlinien darauf rechtliche Antworten gegeben. Sie haben in den letzten Jahren spürbare Veränderungen im nationalen Recht in den Mitgliedsstaaten der EU initiiert. Rechtlicher Schutz vor Diskriminierung ist wichtig. Vielfalt akzeptieren heißt aber nicht nur: Richtlinien akzeptieren. Vielfalt akzeptieren heißt vor allem: Menschen akzeptieren. Chancengleichheit ist noch vor jedem Gesetz eine Frage des Verhaltens und der Mentalität.
Meine Damen und Herren,
wir brauchen Chancengleichheit, wir brauchen Vielfalt, um die Herausforderungen zu bestehen, die vor uns liegen. Wir werden weniger, älter und bunter in Europa. Schätzungen der EU Kommission sagen: Die Bevölkerung von fast 500 Millionen in den jetzt 27 Staaten wird in den nächsten Jahrzehnten sinken. Die Gruppe der arbeitsfähigen Menschen im Alter zwischen 15 und 65 wird um ca. 50 Millionen sinken, während die Zahl der über 80 Jährigen sich etwa verdreifachen wird. Diesen demografischen Wandel können wir nur gestalten, wenn wir auf Vielfalt setzen und Vielfalt gestalten.
Die Europäische Union hat das Jahr 2007 zum Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle erklärt. Wir möchten das Jahr dazu nutzen, Chancengleichheit und Vielfalt gemeinsam in den Mittelpunkt zu rücken. Ich will das an vier Gruppen in unserer Gesellschaft verdeutlichen: den Älteren, den Jugendlichen, den Zugewanderten und den Frauen.
Die wachsende Zahl älterer Menschen gilt vielfach immer noch als das Problem des demografischen Wandels. Viel zu wenig sehen wir die Potentiale der gewonnenen Jahre eines längeren Lebens. Viel zu wenig achten wir darauf, was ältere Menschen leisten und geben können - den Familien ebenso wie der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Noch nie waren ältere Menschen so gesund, so gebildet und hatten so viel Zeit. Viel zu wenig sehen wir auch die Vielfalt des Alters, das ja oft noch mehrere Lebensjahrzehnte umfasst.
Ich sehe das Europäische Jahr der Chancengleichheit als Möglichkeit, ein neues Bild des Alters zu zeichnen: ein Bild, das Teilhabe älterer Menschen ebenso umfasst wie ihre Wirtschaftskraft und auch die Innovationskraft des Alters und ihre Mitverantwortung für die anderen Generationen - das Alles als einen Prozess des lebenslangen Lernens.
Meine Damen und Herren,
Lernen ist auch das wichtigste Stichwort, wenn es um Chancen für Kinder und Jugendliche geht. Chancengleichheit für alle bedeutet vor allem Bildung für alle - auch für die, die dafür eine zweite Chance brauchen. Für benachteiligte Jugendliche, für Jugendliche ohne Schulabschluss und Schulverweigerer. Bildung ist die Grundlage für berufliche und gesellschaftliche Teilhabe. Jugendliche ohne Schulabschluss haben kaum Chancen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Gerade in einer Zeit, in der auch Jugendliche mit Schulabschluss oder junge Erwachsene mit abgeschlossenem Studium arbeitslos sind.
Wenn gut ausgebildete Jugendliche aus Europa abwandern, ist das für die Zukunft Europas, das Innovationspotential und die soziale und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht ohne Folgen. Diese Jugendlichen sind die Leistungsträger der nächsten Jahrzehnte, und die Väter und Mütter von morgen.
Meine Damen und Herren,
eine weitere Herausforderung für Europa stellt das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen in einer Gesellschaft dar. Wir haben Wanderung innerhalb der EU und wir haben Zuwanderung in die EU.
Daher müssen wir uns fragen: Wie gehen wir mit der so entstehenden Vielfalt um? Werden Migrantinnen und Migranten und ihre Kinder in Europa gut integriert leben und qualifiziert arbeiten? Viele Mitgliedsstaaten haben diese Frage auf die Liste der TOP-Themen der Gesellschaftspolitik gestellt. In Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sommer letzten Jahres zu einem Integrationsgipfel eingeladen.
Bis zum Sommer diesen Jahres soll ein Nationaler Integrationsplan vorgelegt werden. In Deutschland hat jedes dritte Kind unter sechs Jahren hat einen Migrationshintergrund. Chancengleichheit umfasst hier Sprachförderung von Anfang an, Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements und Verbesserung der beruflichen Bildung - gerade auch für junge Frauen und Mädchen.
Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern im Berufs- und Familienleben bleibt eine der ganz wesentlichen Aufgaben einer Politik der Chancengleichheit für alle. Auch wenn wir in den vergangenen Jahrzehnten auf diesem Gebiet schon viel erreicht haben: Nach wie vor ist der Handlungsbedarf offensichtlich.
Viel erreicht - damit meine ich beispielsweise die Bildungschancen von Mädchen und jungen Frauen. Frauen sind heute ebenso so gut ausgebildet wie Männer. Auch der Anteil der erwerbstätigen Frauen und Mütter steigt. Das schafft neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung.
Die Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben beleuchtet aber auch weiter bestehende Ungleichheiten: bei den Karrierechancen etwa die gläserne Decke, wenn es um Fürsorge für Kinder und Ältere geht. Bei Führungspositionen in Wirtschaft oder Wissenschaft sind Frauen trotz gleicher Qualifikation weit unterrepräsentiert. Das Prinzip "gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit" ist eine europäische Verpflichtung. Aber noch lange nicht europäische Wirklichkeit. Die EU hat dazu für dieses Jahr eine eigene Mitteilung angekündigt, und ich bin froh, dass auch die europäischen Sozialpartner dieser Problematik besondere Aufmerksamkeit schenken. Der erste Zwischenbericht der Sozialpartner, der heute hier offiziell vorgelegt wird, benennt deutlich die Verantwortung der Wirtschaft und der Tarifvertragsparteien.
Wir müssen es schaffen, dass junge Frauen - und junge Männer - Beruf und Familie in Einklang bringen können. Die Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben drängen auf der einen Seite Mütter aus dem Arbeitsmarkt und tragen auf der anderen Seite zu sinkenden Geburtenraten bei.
In diesen Kontext gehören aber auch SEINE Fragen nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir müssen die Verantwortung der Väter in der Kindererziehung und der Söhne in der Pflege ihrer Eltern thematisieren. Immer mehr Unternehmen sind sich heute schon der Tatsache bewusst, dass Vielfalt eine Chance bedeutet. Im Leitbild eines großen deutschen Unternehmens heißt es treffend: "Vielfalt ist der Weg". Einen anderen Erfolg versprechenden Weg gibt es nicht.
Meine Damen und Herren,
die deutsche Bundeskanzlerin hat kürzlich vor dem Europäischen Parlament darauf hingewiesen, dass die Stärke Europas in seiner Vielfalt liegt. Es ist in der Tat die historische Leistung dieses Kontinents, dass die Vielfalt der Kulturen, der Geschichte und auch der Interessen unter dem Dach der Europäischen Union zusammengefunden hat. Wir haben in diesem Prozess gelernt, dass Chancengleichheit und Vielfalt mehr Wohlstand für alle bedeutet.
Ich wünsche uns allen, dass diese Erkenntnis im Europäischen Jahr der Chancengleichheit wächst. Ein Jahr, das wir mit diesem Eröffnungskongress jetzt eröffnen.