Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ursula von der Leyen, zum Elterngeld und Familienbericht im Deutschen Bundestag am 29. September 2006, Berlin

Es gilt das gesprochene Wort.

Familienpolitik ist Politik für das ganze Familienleben: Zeit für Familie im Leben, Zeit für Kinder und Zeit für den Beruf. Familienpolitik ist auch frühzeitige Bildung und Förderung.

Der siebte Familienbericht hat ein zentrales Thema: die Dynamik von Familie. Familie verändert sich im Laufe der Zeit. Kinder wachsen heran. Väter und Mütter werden zu Großvätern und Großmüttern. Auch Familienpolitik muss sich am Lebenslauf orientieren. Familien mit einem Säugling haben andere Bedürfnisse als Familien mit Kindern im Teenageralter oder Familien, in denen ältere Angehörige gepflegt werden. Familienpolitik ist Politik für alle Generationen und damit für die gesamte Zeit des Lebens in einer Familie.

Die aktuelle Shell-Jugendstudie bringt das auf den Punkt: Mit einem wirklich glücklichen Leben verbinden Jugendliche in erster Linie Familie. Aber sie wissen auch ganz genau, dass es nicht einfach ist, Ausbildung, Beruf, Karriere, Partnerschaft und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen. Die Folgen dieser Skepsis sind hohe Kinderlosigkeit und das Verschwinden der Mehrkindfamilie.

Familie ist also nach wie vor zeitgemäß. Aber die Rahmenbedingungen, die wir als Gesellschaft der Familie im 21. Jahrhundert zumuten, sind nicht mehr zeitgemäß. Zwei von drei jungen Frauen wollen heute Beruf und Kinder. Sie möchten, dass Familienwerte und berufliches Fortkommen Hand in Hand gehen.

Die Wirklichkeit sieht oft anders aus. Obwohl zwei von drei jungen Männern mehr Erzieher als nur Ernährer ihres Kindes sein wollen. Auch sie wünschen sich Zeit. Auch hier sieht die Wirklichkeit oft anders aus. Auf diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit haben die jungen Menschen mit Verzicht geantwortet. Verzicht auf Kinder, Verzicht auf Entfaltung der Fähigkeiten in der Arbeitswelt. Es geht auch anders. Es ist möglich, im 21. Jahrhundert die Verantwortung für Erziehung und Einkommen als gemeinsame Verantwortung von Männern und Frauen zu sehen. Das zeigen unsere west- und nordeuropäischen Nachbarn. Deshalb unterstützt der Familienbericht ganz klar das Elterngeld. Weil die Entscheidung, sich für eine bestimmte Zeit verantwortlich um sein Kind zu kümmern, genauso wichtig ist wie der Beruf.

Das Elterngeld macht auch deutlich, dass die persönliche Verantwortung für ein Kind nicht automatisch heißt: ökonomische Selbstständigkeit aufgeben oder ökonomische Abhängigkeit von Vater Staat. Zeit ist Geld und das gilt natürlich auch umgekehrt: Das Elterngeld schafft Zeit. Zeit für Kinder mit ihren Eltern und Zeit für Eltern mit ihren Kindern. Die skandinavischen Staaten haben auch gezeigt, dass die Einführung des Elterngeldes ein wichtiger Baustein ist, um Kinderarmut zu senken, da insbesondere Alleinerziehende und Geringverdiener davon profitieren. Elterngeld ist immer besser als Sozialhilfe. Und Arbeit wird anerkannt. Deshalb hat der Geringverdienerbonus einen so hohen Stellenwert.

Ein auffallender Befund des siebten Familienberichts ist, dass Mütter mit Kindern unter sechs Jahren in den neuen Bundesländern ein geringeres Armutsrisiko haben als in den alten Bundesländern. Auch aus dem Grund, dass der Kontakt zum Beruf selbstverständlicher ist.

Nun hat das Elterngeld auch die Partnermonate. Zum ersten Mal haben Väter eine ehrliche Chance, sich Zeit für ihre unersetzliche Rolle zu nehmen. Sie haben einen konkreten Spielraum, die Grenzerfahrung zu machen, Tag und Nacht für das Kind da zu sein. Diese Explosion an Gefühlen, die so schwer in Worte zu fassen ist. Denn auch wenn wir hier heute zu Recht über Zahlen und Fakten debattieren, man kann es gar nicht oft genug sagen: Kinder sind ein schier unbeschreibliches Glück.

Und an dieser Stelle danke ich von Herzen dem Parlament und vor allem dem Fachausschuss, dass wir heute diesen historischen Moment haben. In nur zehn Monaten ist es gelungen, ein völlig neues Leistungsgesetz auf die Beine zu stellen und für junge Eltern und ihre Kinder grundlegend in Deutschland etwas zu verbessern.

Der Familienbericht fordert den Neuzuschnitt von Geldleistungen am Anfang, wenn das Kind noch klein ist, wie das Elterngeld, Chancen im Arbeitsalltag und Zeit. Nachbarschaftsnetze wie Mehrgenerationenhäuser entlasten Familien und schaffen dadurch Zeit. Eine ganz entscheidende Infrastruktur - das betont auch der siebte Familienbericht - ist eine flexible, vielfältige Kinderbetreuung. Und auch hier ist der Bericht eindeutig: Familienpolitik muss sich am Lebenslauf orientieren. Elterngeld und Kinderbetreuung können nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie gehen Hand in Hand. In den ersten Tagen, Wochen, Monaten wollen die frischgebackenen Eltern nichts stärker als gemeinsame Zeit mit ihrem Neugeborenen. Und erst allmählich erweitert sich der Horizont - auch des Säuglings auf andere Erwachsene und Kinder. Genauso wie für Eltern selbstverständlich nach der ersten Zeit mit dem Neugeborenen zunehmend die Frage der Kinderbetreuung in den Fokus rückt.

Wir haben im Sommer den ersten Bericht zum Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige erhalten. Es tut sich endlich etwas, aber wir haben noch eine lange Wegstrecke vor uns, die wir zügig zurücklegen müssen. Jetzt hat fast jedes siebte Kind einen Platz, das war 2002 nur für jedes zehnte Kind der Fall. Große Städte haben für fast jedes vierte Kind unter drei Jahren einen Platz. In Westdeutschland hat sich die Anzahl der Plätze fast verdoppelt, allerdings von einem sehr niedrigen Ausgangspunkt aus. Und immer noch gibt es große Ost-West-Unterschiede. Inzwischen haben fast alle Kommunen konkrete Ausbauschritte in Arbeit, zwei Drittel haben bereits mit dem Ausbau begonnen. Jede dritte Kommune will ihr Ziel vor 2010 erreicht haben.

Aber Kinderbetreuung schafft nicht nur Zeit für Eltern, sondern auch Zeit für die Bildung und die frühe Förderung der Kinder. Denn Kinder brauchen andere Kinder, um sich zu entwickeln. Dies sage ich auch vor dem Hintergrund, dass jedes dritte Kind keine Geschwister mehr hat.

Der Familienbericht sieht nicht nur das Risiko der Vernachlässigung von Kindern. Er sieht auch das Risiko einer überbehüteten, vereinzelten Kindheit, die sich vor allem im Transport zwischen organisierten Terminen abspielt. Im Kindergarten oder in der Tagespflege treffen Kinder andere Kinder und sie haben Zeit zu toben, miteinander zu spielen und die eigenen Grenzen auszutesten. Und sie lernen ihre Altersgenossen in ihrer ganzen Vielfalt kennen - das ist ein unschätzbarer Integrationsfaktor, wenn heute jedes dritte Kind unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund hat. Integration und Toleranz kann eine Gesellschaft nicht wirkungsvoller und kostengünstiger schaffen, als wenn sie die kleinen Kinder selbstverständlich im Alltag miteinander spielen und reden lässt.