Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ursula von der Leyen, am 9. März 2006 im Deutschen Bundestag zum 12. Kinder- und Jugendbericht, Berlin

Anrede,

der 12. Kinder- und Jugendbericht sagt ganz klar: Auf den richtigen Anfang kommt es an. Für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft gibt es keine wichtigere Aufgabe als die zugewandte, verlässliche und kompetente Unterstützung aller Kinder, die in diese Gesellschaft hineinwachsen. Jedes Kind braucht Chancen, damit seine Fähigkeiten zur Entfaltung kommen können - und zwar von Anfang an - es sind in Wahrheit auch die Chancen für das ganze Land.  

Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag mit der Vorlage des Kinder- und Jugendberichts die Situation der Kinder und Jugendlichen in unserem Land  regelmäßig in den Mittelpunkt der parlamentarischen Debatte stellt. "Bildung, Erziehung und Zuwendung müssen Kindern aller Altersstufen zugänglich sein!" Dieser Kernbotschaft kann ich voll zustimmen.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir noch besser werden. Denn in keinem vergleichbaren Land ist der Einfluss der sozialen Herkunft  auf die Bildungschancen so groß wie in Deutschland. Wir haben zu lange vor den Tatsachen die Augen verschlossen. Einerseits leisten junge Eltern einen enormen persönlichen, privaten Einsatz für Erziehung, Bildung und Zuwendung für ihre Kinder. Andererseits wollen und müssen diese jungen Eltern in wirtschaftlichen Umbruchzeiten gemeinsam das Familieneinkommen erarbeiten. Verglichen mit der Situation in anderen Ländern haben diese Eltern in Deutschland relativ wenig Unterstützung in der Infrastruktur rund um Kinder und Familie erhalten. 

Im Ergebnis sehen wir, dass

  • bei unseren europäischen Nachbarn mehr Kinder geboren werden,
  • die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser gelingt,
  • die Kinder im Bildungsvergleich besser abschneiden,
  • sie also mehr innere Ressourcen für die Zukunft auf den Lebensweg mitbekommen,
  • und die Familienarmut geringer ist.

Der 12. Kinder- und Jugendbericht mahnt dies an und fordert notwendige Veränderungen. Die Bundesregierung unterstützt die grundlegende Richtung des 12. Kinder- und Jugendberichts. Viele Forderungen, die insbesondere in die Verantwortung des Bundes fallen, finden sich als konkrete politische Verpflichtung im Koalitionsvertrag.

1. Wir werden Familien finanziell wirksam fördern

Eltern brauchen eine ökonomische Perspektive und die Gewissheit, dass sie für sich und ihre Kinder aufkommen können. Dort setzt auch der Kinder- und Jugendbericht mit seiner Forderung an, Eltern finanziell in die Lage zu versetzen, Kinder im ersten Lebensjahr in der Familie zu erziehen. Er stellt folgendes fest: "Die derzeitige Höhe des Erziehungsgeldes scheint wenig geeignet, jungen Familien einen Ausgleich gegenüber dem vorgeburtlichen Einkommen zu bieten."

Unsere Antwort auf diese Forderung des Kinder- und Jugendberichts ist das Elterngeld. Mit dem Elterngeld signalisieren wir ganz klar: Es ist dem Staat nicht gleichgültig, wenn sich junge Menschen für ein Kind entscheiden. Heute ist es in der überwiegenden Zahl der Fälle so, dass wenn ein Kind geboren wird, die Familie wächst, aber ein Einkommen wegbricht. Das Elterngeld mildert diesen Einkommenseinbruch in Zukunft ab. Und es bringt Anerkennung: Der Staat honoriert die Erziehungsleistungen der Eltern und unterstützt sie mit dem Elterngeld, sich Zeit für das Neugeborene zu nehmen. Das Elterngeld berücksichtigt aber auch die Wahlfreiheit der Lebensentwürfe.

Ich will es klar sagen: Das Elterngeld zwingt niemanden in ein bestimmtes Familienmodell. Das Elterngeld ist ein kluger und sehr effektiver Beitrag, den Eltern Zeit zu ermöglichen, in die Rolle des Vaters oder der Mutter hineinzuwachsen -  ohne finanziellen Druck. Das zeigen uns zeigen Erfahrungen aus anderen Ländern.

Doch unser Latein darf nicht am Ende sein, wenn die Kinder ein, zwei Jahre alt sind. Wir wissen aus der Säuglingsforschung, dass Kinder andere Kinder brauchen, wenn sie sich gut entwickeln sollen. Und wenn es die große Geschwisterschar nicht mehr selbstverständlich gibt, wenn es nicht mehr zehn oder fünfzehn Gleichaltrige in der gleichen Straße gibt, müssen wir andere Möglichkeiten schaffen, damit Kinder Beziehungserfahrungen sammeln können. Sie sollen mit und durch andere Kinder lernen, mit ihnen die Welt entdecken und Kontakt zu anderen Erwachsenen aufnehmen. Frühe Förderung sorgt für Bildung im Sinne einer Entdeckermentalität von Anfang an.

Auch Eltern werden durch gute Betreuungsangebote dabei unterstützt, Familie und Beruf zu verbinden. Wir wissen, dass bei 52% der Eltern mit Kindern unter 6 Jahren Vater und Mutter erwerbstätig sein möchten - meist der Vater Vollzeit, die Mutter Teilzeit, - doch - und das ist die Krux:  nur 6% der Eltern gelingt dies. Die vor zwei Tagen veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass es den Eltern vor allem wichtig ist, ihre Kinder nicht nur gut betreut, sondern auch gefördert zu wissen. Gerade unter dem Aspekt der Qualitätsstandards halten sie den flächendeckenden Ausbau bedarfsgerechter Kinderbetreuung für vordringlich.

Die Große Koalition steht daher zu dem gesetzlich verankerten Ausbau der Betreuungsangebote für unter dreijährige Kinder. Dies ist als Pflichtaufgabe der Kommunen definiert und gesetzlich verankert. Für die Umsetzung tragen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam die Verantwortung. Ich betone deshalb, dass die Bundesregierung die den Kommunen zugesicherten 1,5 Mrd. Euro für den Ausbau der Kinderbetreuung für Unterdreijährige ab 2005 bereitgestellt hat.

In Kürze werde ich dem Parlament den ersten Bericht über den Stand des Ausbaus der Tagesbetreuung für unter Dreijährige vorlegen.

Ich begrüße es sehr, dass der Kinder- und Jugendbericht die Tagespflege mit  der Betreuung in Einrichtungen gleich stellt. Das entspricht den Bedürfnissen der Eltern. Denn Eltern wollen selbst wählen, wie ihre Kinder betreut werden. Gerade wenn es um die Jüngsten geht,  wählen sie oft eine familiennahe Tagesbetreuung. Das Bundesfamilienministerium unterstützt die Qualifizierung der Tagespflege. In wenigen Wochen werde ich das Online-Handbuch Tagespflege vorstellen, das sich an verantwortliche Akteure vor Ort richtet und Bausteine zum Ausbau der Kindertagespflege bereithält. Zudem wird die verbesserte Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten mehr Angebote und Qualität in der Tagespflege schaffen.

2. Wir bauen frühe Hilfen für gefährdete Kinder auf

Meine Damen und Herren, die meisten Eltern sind in der Lage, ihre Kinder gut zu versorgen, gut zu erziehen und ihnen liebevolle Zuwendung zu geben. Doch wenn Eltern völlig überfordert sind und mit ihren Kindern in eine Spirale von Isolation, Gewalt, Vernachlässigung und Verwahrlosung geraten, müssen wir früher hinschauen und rechtzeitig dafür sorgen, dass Hilfe in den Familienalltag kommt. Der Kinder- und Jugendbericht bestätigt, dass es richtig ist, diesen Weg zu gehen. Deshalb entwickeln wir in den nächsten Monaten auf der Grundlage von Erfahrungen aus Kommunen, Bundesländern und dem Ausland Modellprojekte für soziale Frühwarnsysteme. Ein Ziel ist es, dabei die Grenzen zwischen Gesundheitssystem und Jugendhilfe zu überwinden.

3. Wir verbessern die Integration von Jugendlichen

Der 12. Kinder- und Jugendbericht mahnt auch an, dass zu viele Jugendliche heute keine echten Zukunftsperspektiven, vor allem keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt sehen. 9 Prozent der Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Jede fünfte Berufsausbildung wird abgebrochen, weil die Jugendlichen nicht gut vorbereitet waren.15 Prozent der Jugendlichen zwischen 20 und 29 Jahren haben gar keine Berufsausbildung. In diesen Zahlen liegt eine der Hauptursachen der Jugendarbeitslosigkeit.

Ich stimme dem Kinder- und Jugendbericht zu: dass alle Jugendlichen die Chance haben müssen, gleichberechtigt an Bildung teilzunehmen. Wir müssen deshalb in den Schulen anfangen. Von Seiten des Bundes zeigen wir Wege auf, um Jugendliche wieder zurück an die Schulen zu bringen und ihnen eine zweite Chance zu geben. In einem bundesweiten Modellprojekt in Zusammenarbeit von freien Trägern, Jugendämtern und Schulen erproben  wir Wege zur Reintegration "harter" Schulverweigerer in Schulen begleiten sie bis zum Schulabschluss. Hinzu kommen die vom Bundesjugendministerium geförderten Kompetenzagenturen, die berufliche Integration von benachteiligten Jugendlichen durch passgenaue Angebote verbessern. Dass dieses funktioniert, lässt sich eindrucksvoll belegen: Von den Jugendlichen, die von Kompetenzagenturen betreut wurden, ist fast jeder Zweite in Ausbildung oder Arbeit und jeweils jeder Vierte in ein Förderangebot oder in einen weiterführenden Schulbesuch vermittelt worden - das ist eine gute Bilanz.

4. Wir schaffen Mehrgenerationenhäuser

Der Kinder- und Jugendbericht erhebt auch die Forderung nach einer besseren Infrastruktur für Familien im Interesse der Kinder und Jugendlichen. Ich greife die Anregung der Kommission, Familienzentren einzurichten, gern auf, möchte sie aber noch erweitern und Mehrgenerationenhäuser schaffen. Denn warum beziehen wir in die Angebote für Familien, Kinder und Jugendliche nicht auch ältere Menschen mit ein? Ältere Menschen sind heute so gesund und so kompetent wie nie zuvor. Wir schaffen aber paradoxerweise kaum Nachfrage nach ihren Kompetenzen. Mehrgenerationenhäuser bieten die Chancen dafür.

Der 12. Kinder- und Jugendbericht macht uns darauf aufmerksam, dass wir noch viel zu tun haben, wenn wir unseren Kindern Voraussetzungen geben wollen, dass sie Chancen haben, ihre vielfältigen Fähigkeiten und Talente zu entwickeln.Sie werden in Zukunft viel Verantwortung tragen müssen. Und es geht um unsere gemeinsame Zukunft.