Berlin Manuela Schwesig beim 1. Jahresempfangs des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs

Es gilt das gesprochene Wort. 

Sehr geehrter Herr Rörig,

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Sehr geehrte Beiratsmitglieder,

sehr geehrte Damen und Herren,

I.

Sexuelle Gewalt ist so ziemlich das Schlimmste, was ein Kind erleben kann. Und es ist leider kein Einzelfall, nichts, was sich am Rand unserer Gesellschaft ereignet. Viele Menschen in unserem Land tragen die Spuren und die Erinnerungen ihr gesamtes Leben mit sich.

Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, vor sexueller Gewalt und Missbrauch geschützt zu sein.

Für mich als Kinderministerin gibt es nichts Wichtigeres. Und auch für Sie ist dieses Thema wichtig. Sie setzen sich dafür ein, und deshalb sind Sie heute hier. Herzlich willkommen und danke für die Einladung!

Sie haben sicherlich alle gehört, dass ich Ihnen heute ein Gesamtkonzept zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt vorstellen will. Dies ist die richtige Runde und die richtige Gelegenheit dafür. Danke, Herr Rörig, für die Gelegenheit, mein Konzept in dieser Ansprache zu erläutern. Es ist ein gemeinsames Konzept; denn es baut auf den Forderungen des Runden Tisches auf.

Es hat fünf Säulen:

1. Strafrecht
2. Strafverfahren
3. Recht auf Schutz
4. Beratung und Unterstützung
5. digitale Medien

Nicht für alles ist das Bundesfamilienministerium zuständig. Gerade deshalb ist dies die richtige Runde für das Konzept. Weil hier alle dabei sind, die es angeht. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam vorgehen. Jede und jeder im eigenen Bereich. Aber abgestimmt und dort, wo es sinnvoll ist, auch zusammen.

Das Gesamtkonzept gibt Anstöße und sagt, was die Bundesregierung selbst vorhat. Lassen Sie uns das Netz zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt fester und dichter machen! Gemeinsam gegen Missbrauch.

II.

Lieber Herr Rörig, Sie sind seit Ihrem Amtsantritt das Gesicht für ein konsequentes Eintreten gegen sexuelle Gewalt. Sie haben einen Zugang zu dem Thema und den Betroffenen gefunden. Sie haben schwierige Themen angepackt. Sie sind dabei sachlich geblieben, ohne Ihre Emotionen zu verstecken. Sie können durchaus unbequem und hartnäckig sein. Das ist gut, weil es der Sache und den Betroffenen dient. Gut, dass der Runde Tisch eine ausdrückliche Empfehlung zur Weiterführung der unabhängigen Stelle ausgesprochen hat! Ich habe mich persönlich in den Koalitionsverhandlungen dafür stark gemacht.

Danke für Ihre Arbeit, danke für Ihren Einsatz!

Danke auch an Ihr Team, ohne das all das nicht möglich wäre. Ich danke den Mitgliedern des Fachbeirats, der sich heute Nachmittag konstituiert hat. Und ich danke allen, die dem Unabhängigen Beauftragten und dem Bundesfamilienministerium mit ihrer Expertise zur Seite stehen. Sie haben eine Kultur der Zusammenarbeit geschaffen, die ich selbst am Runden Tisch kennengelernt habe.

Was ich als Bundesministerin tun will, will ich gemeinsam mit dem Unabhängigen Beauftragten tun. Auf der Basis der Vereinbarung, in der wir die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit gelegt haben. Und gemeinsam mit Ihnen. Sie haben noch einmal wertvolle Impulse für das Gesamtkonzept gegeben - danke auch dafür.

Ich bin an Ihrer Seite. Ich möchte Sie in den nächsten Jahren unterstützen. Unter Einbeziehung von Betroffenen. Das war mir schon als Landesministerin am Runden Tisch wichtig. Ich will Sie auch bei Ihren Bestrebungen unterstützen, zügig eine unabhängige Aufbereitung von Kindesmissbrauch in der Vergangenheit auf den Weg zu bringen.

III.

Zum Glück fangen wir nicht bei Null an. Die Empfehlungen des Runden Tisches haben wichtige Impulse gegeben. Der Runde Tisch hat ganz wichtige, fundierte und umfassende Arbeit geleistet. Einige Empfehlungen setzen wir schon um, einige packen wir mit dem Gesamtkonzept an. Viele Menschen, viele Organisationen, ganze Systeme arbeiten mit viel Kompetenz und viel Herzblut am Kinderschutz.

Darauf bauen wir auf. Leider ist aber auch vieles liegengeblieben und bedarf noch immer der Umsetzung.

IV.

Immer noch sind die Betroffenen mit ihren Erfahrungen, ihren Bedürfnissen und Problemen oft allein. Sie suchen Hilfe und müssen sich in einem Labyrinth von Anlaufstellen, Rechtsvorschriften und Einzelfragen zurechtfinden.

Der Runde Tisch hat sich mit allen diesen Strukturen intensiv auseinandergesetzt und Empfehlungen erarbeitet. Eine Empfehlung ist immer wieder: Die Menschen und die Systeme, in denen sie tätig sind, müssen enger aneinanderrücken und Hand in Hand arbeiten. Was nützt es, wenn sich ein Kind einem Menschen anvertraut hat, dann aber vor Gericht nicht sagen mag, was passiert ist? Was nützt es, wenn ein Missbrauch in einer Institution aufgedeckt wird und der Täter woanders unbehelligt weiter arbeitet?

Damit Schutz vor sexueller Gewalt funktioniert, müssen alle Beteiligten über ihre Zuständigkeit und ihren Beruf hinausdenken und zusammenarbeiten. Vielerorts funktioniert das schon gut. Es muss Standard werden. Und alle, die an irgendeiner Stelle in irgendeinem System mit sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu tun haben, müssen immer daran denken: Menschen ticken nicht nach der Uhr der Systeme.

Die Betroffenen brauchen unsere Unterstützung und Solidarität als ganze Menschen. Der ganzheitliche Blick und die Zusammenarbeit, die systematische, institutionalisierte Zusammenarbeit sind Leitmotive in allen Säulen des Gesamtkonzepts.

VI.

Die erste Säule ist das Strafrecht. Wir haben am vergangenen Mittwoch im Kabinett die Reform des Sexualstrafrechts beschlossen. Ich unterstütze die Änderungen, die Heiko Maas eingebracht hat, sehr. Wir müssen viel konsequenter gegen sexuelle Gewalt an Kindern vorgehen.

Wir werden es nicht mehr hinnehmen, dass Nacktbilder von Kindern gehandelt werden. Da hatten wir eine Lücke im Strafrecht, die wir jetzt schließen. Außerdem werden wir die Verjährungsfristen wesentlich verlängern. Bund und Länder müssen aber auch die Strafverfolgungsbehörden besser ausstatten.

Der Chef des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, hat im Februar völlig zu Recht gesagt: "Ich kann meine Mitarbeiter nicht klonen." 1.100 Beschuldigte in einem Verfahren, 800 in einem anderen, 500 Stunden Videoaufnahmen, 70.000 Fotos: Kinderpornografie ist ein Massengeschäft.

Wenn die Spezialisten immer wieder entscheiden müssen: Bearbeitet man das eine oder das andere?, bleiben viele Straftaten unverfolgt und ungestraft. Außerdem ist es wichtig, über die Täter zu sprechen. Über angemessene Bestrafung und über Therapie. Wir stellen zum Beispiel fest, dass die Täter immer jünger werden.

Projekte wie "Kein Täter werden" müssen auf diese Veränderung reagieren. Wir weiten dieses Projekt auf Jugendliche aus und schaffen zusätzliche Therapieplätze.

VII.

Die zweite Säule ist das Strafverfahren. Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt erlebt haben, erfahren das Gerichtsverfahren oft noch einmal als neue Belastung.

Viele von Ihnen, die heute hier sind, kennen diese Situation, weil Sie Betroffene beraten und wissen, wie es ihnen geht, oder weil Sie selbst betroffen sind.

Auch hier sind Verbesserungen in Sicht. Der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren sieht vor, besonders schutzbedürtigen Opfern von Straftaten im gesamten Strafverfahren eine psychosoziale Prozessbegleitung zur Seite zu stellen. Als gesetzlich verankerten Anspruch. Kinder und Jugendliche sind natürlich besonders schutzbedürftig.

Ein nächster Schritt muss sein, dass Ermittlungsbehörden enger mit Jugendämtern kooperieren. Wenn die Polizei in einer Wohnung, in der auch Kinder leben, kinderpornografisches Material findet, halte ich es für unabdingbar, dass die Beamten sofort das Jugendamt kontaktieren und fragen: Wie können wir die Kinder schützen? Oft passiert das schon. Ich will im KKG gesetzlich festschreiben, dass die Kompetenz des Jugendamts während eines Ermittlungsverfahrens wirklich immer frühzeitig einbezogen wird.

In der letzten Woche haben wir durch den Beschluss des Gesetzesentwurfs auch den Weg endlich frei gemacht für die Ratifizierung der Lanzarote-Konvention. Diese Konvention hat den Blick der internationalen Gemeinschaft dafür geschärft, dass zur Bekämpfung der sexuellen Gewalt und Ausbeutung ein breiter Ansatz nötig ist.

Neben der Strafverfolgung dürfen Schutz und Unterstützung nicht fehlen.

VIII.

Daher will ich mit der dritten Säule das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Schutz besser als bisher verwirklichen. Wenn Kinder eigene starke Rechte haben, subjektive Rechtsansprüche, können sie wirkungsvoller die Verantwortung von Staat und Gesellschaft einfordern und einklagen.

Als ersten Schritt wollen wir im SGB VIII einen uneingeschränkten Anspruch auf Beratung der Kinder- und Jugendhilfe einführen. Kindern und Jugendlichen fällt es oft leichter, anonym am Telefon über ihre Erfahrungen zu sprechen.

Heute muss sich die Beraterin oder der Berater im Jugendamt erst einmal durch gezielte Fragen vergewissern, ob sich das Kind wirklich in einer Not- oder Krisensituation befindet. Vielleicht fängt ein Kind an, vom Taschengeld zu erzählen, und kommt erst im Laufe des Gesprächs auf Erfahrungen mit sexueller Gewalt zu sprechen. Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die sich auf ein Kind einlassen wollen, auf seine Geschichte und auch auf die Zeit, die es braucht, sie zu erzählen, befinden sich heute in einer rechtlichen Grauzone. Manchmal müssten sie das Gespräch abwürgen, wollen das aber gar nicht, weil sie spüren: Da ist mehr.

Ich möchte den engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Sicherheit geben und für die Kinder die Tür zum Jugendamt weiter öffnen. Auch ohne dass die Eltern das wissen müssen, und ohne die bisherige Voraussetzung einer Not- und Krisensituation.

Im nächsten Jahr werde ich dazu einen Gesetzentwurf vorlegen. Das Recht von Kindern auf Schutz wird auch gestärkt, wenn die Menschen im Umfeld sensibler und besser ausgebildet sind. Das Thema sexuelle Gewalt muss systematisch und kontinuierlich in die Ausbildungsgänge für Kita und Schule integriert werden.

Ich bin mit dem Unabhängigen Beauftragten einig, dass jede Schule und jede Einrichtung ein Schutzkonzept braucht.

Und man muss es anschaulich machen wie das Theaterstück "Trau dich!", das schon 25.000 Kinder gesehen haben.

IX.

Mit der vierten Säule fasse ich zusammen, wie wir die Beratung und Unterstützung von Betroffenen verbessern wollen.

Es gibt zum einen spezialisierte Beratungsstellen. Im Bundeskinderschutzgesetz sind Beratungsansprüche und Qualitätsanforderungen neu verankert worden. Das Beratungsnetz wird aber erst wirklich engmaschig, wenn die spezialisierte Fachberatung ihre Kompetenzen auch flächendeckend weitergeben kann. An andere, allgemeinere Beratungsdienste und Anlaufstellen. Bereits im nächsten Jahr möchte ich die Voraussetzungen für eine Koordinierung auf Bundesebene schaffen. Wir treffen uns im Dezember mit Herrn Rörig und anderen Fachleuten, um zu besprechen, wie eine solche Struktur aussehen kann.

Der Bund arbeitet auch weiter an den ergänzenden Hilfesystemen für Betroffene. Ein technischer Begriff für eine einfache und wichtige Sache: ein Geldtopf für Bedarf, der durch die Maschen der Regelsysteme fällt: Eine Therapie, die die Kasse nicht erstattet. Eine Weiterbildung, die das Arbeitsamt nicht zahlt. Wir können den Betroffenen ihre Kindheit nicht zurückgeben. Wir können nichts wiedergutmachen. Aber wir können Verantwortung übernehmen und die Betroffenen dabei unterstützen, ihre Erfahrungen aufzuarbeiten und heute damit zu leben.

Dem Fonds für den familiären Bereich sind Ende 2013 die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Bayern beigetreten. Damit beträgt das Gesamtvolumen 58 Millionen Euro.

Auch im institutionellen Bereich hat es Entwicklungen gegeben. Es bestehen Vereinbarungen mit der Evangelischen Kirche, der Katholischen Kirche und der Deutschen Ordensobernkonferenz.

Bund und Länder haben eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Betroffenenvertretung und des Unabhängigen Beauftragten gebildet. Bis Oktober soll der Jugend- und Familienministerkonferenz ein konkreter Umsetzungsvorschlag vorgelegt werden. Mit dem Ziel, ab dem nächsten Jahr auch dort Hilfen zur Verfügung zu stellen, wo Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landes für Missbrauchsfälle verantwortlich waren. Ich weiß, das hat lange gedauert. Es war lange Zeit alles etwas festgefahren. Aber jetzt ziehen alle Beteiligten an einem Strang. Es tut sich etwas.

Und wir dürfen die Betroffenen nicht länger warten lassen. Sie müssen es aber auch in den Regelsystemen einfacher haben. Das gilt für den Gesundheitsbereich - Stichwort: Leistungen der Krankenkassen - und für den Bereich der Opferentschädigung. Dazu sind wir in guten Gesprächen mit den jeweils zuständigen Bundesressorts.

X.

Die fünfte Säule betrifft das Internet und die Persönlichkeitsverletzungen in digitalen Medien. Bilder von Kindern, die zu eindeutigen Posen gezwungen werden, werden verkauft. Kinder werden mit Bildern unter Druck gesetzt und belästigt. Ich will, dass Kinder auch im digitalen Raum geschützt sind.

Ein Problem mit dem Internet ist, dass es Grauzonen der Darstellungen des sexuellen Kindesmissbrauchs gibt, die international nicht einheitlich geregelt sind. Was wir hier bekämpfen, ist in Deutschland in aller Regel längst verboten, spätestens mit der StGB – Novelle, die das Kabinett letzte Woche beschlossen hat.

Aber man kann von Deutschland aus auf diese Inhalte zugreifen. Wir müssen deshalb dahin kommen, dass wir unzulässige Inhalte auch auf internationalen Plattformen schneller löschen. Ich werde dafür ein Netzwerk unter dem Dach unseres Zentrums für Kinderschutz im Internet, dem I-KiZ, einrichten. Zusammen mit den Internet-Beschwerdehotlines und den Unternehmen. Dort sollen Nutzerhinweise bearbeitet und die Bekämpfungskompetenz gebündelt werden. Ein Netzwerk, das wachsen soll.

XI.

Wenn Internetunternehmen und Beschwerdehotlines beteiligt sind, macht dies auch deutlich: Kinderschutz reicht weit über die Arbeit der Systeme hinaus, die darauf spezialisiert sind. Kinderschutz ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft.

Wenn jedes Kind unter Bedingungen aufwächst, die es schützen und in seiner Persönlichkeit stärken, ist das Gewaltprävention. Dafür setze ich mich in der Politik ein.

Wie gesagt: Es gibt für mich als Kinderministerin keine wichtigere Aufgabe als den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt. Ich weiß, dass Sie das gleiche Ziel haben.

Kinderschutz gelingt nur, wenn alle mitmachen. Jeder an seiner Stelle, jede in ihrem Bereich. Aber abgestimmt und gemeinsam. Das ist das Anliegen meines Gesamtkonzepts. Tun wir gemeinsam etwas! Denn es geht nur gemeinsam.

Gemeinsam gegen sexuelle Gewalt, gemeinsam gegen Missbrauch.