Berlin Manuela Schwesig bei der Mitgliederversammlung der Bundesvereinigung Lebenshilfe

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Abgeordnete und Bundesvorsitzende,
liebe Ulla Schmidt,
sehr geehrter Herr Abgeordneter Hüppe,
sehr geehrter Herr Masuch,
sehr geehrte Mitglieder der Lebenshilfe,
sehr geehrte Damen und Herren,
als ich das Gemeinsame Abschlusspapier des Familienkongresses der Lebenshilfe gelesen habe, habe ich auf der rechten Seite angefangen. Dort, wo die Zusammenfassung in einfacher Sprache steht. Ich finde, dass man auch komplizierte Dinge oft ganz einfach sagen kann. Jedenfalls sollten Politikerinnen und Politiker versuchen, auch komplizierte Dinge so zu sagen, dass alle sie verstehen.
Diese Einsicht haben uns die Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände geschenkt: Leichte Sprache ist besser als schwierige Sprache. Ich verspreche Ihnen nicht, dass ich meine Rede ganz in leichter Sprache halten werde. Aber ich werde mich bemühen, es einfach zu sagen.
Die Lebenshilfe ist nicht nur Gründungsmitglied des Netzwerks und Vereins Leichte Sprache, sondern die Selbsthilfeorganisation von und für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien.
Wenn Tom Mutters, der als Mitgründer die ganze Geschichte der Lebenshilfe miterlebt hat, heute zurückblickt, wird er sicherlich denken: Wir sind enorm vorangekommen. Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion. Die Lebenshilfe hat dazu beigetragen, dass diese Fortschritte erreicht wurden. Und sie setzt sich mit mehr als 130.000 Menschen weiter für gleichberechtigte Teilhabe und barrierefreies Leben für Menschen mit Behinderungen ein.
Aber Tom Mutters wird auch den Kopf schütteln und sagen: Es ist noch unglaublich viel zu tun! In der UN-Behindertenrechtskonvention steht: "Den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen" wollen wir fördern, schützen und gewährleisten.
Davon sind wir noch weit entfernt.

  • Menschen mit Behinderungen kommen nicht überall hin.
  • Viele können nicht leben, wie sie wollen.
  • Sie können nicht so viel lernen, wie es möglich wäre.
  • Sie haben oft schlechtere Arbeit.

Dabei fordert Inklusion ein selbstverständliches Miteinander. Es sind nicht die Menschen mit Behinderungen, die sich anpassen müssen. Sie sollen überall teilhaben können - so, wie sie sind. Es ist die Gesellschaft, die die Möglichkeiten dafür schaffen muss.
In einfacher Sprache und für Familien heißt das: "Eine Familien-Politik für alle Familien." Familie ist vielfältig. Das liegt nicht nur daran, dass es etwa 17 Millionen Menschen mit einer sogenannten Beeinträchtigung gibt.

  •  Familie - das sind zum Beispiel auch unverheiratete Paare mit Kindern.
  • Oder Alleinerziehende - eine von fünf Familien lebt so.
  • Oder Regenbogenfamilien mit zwei Vätern oder zwei Müttern.

Familie ist für mich überall dort, wo Ältere und Jüngere sich umeinander kümmern. Eine Familienpolitik für alle Familien ist Familienpolitik für vielfältige Familien. Da verstehe ich es gut, wenn Menschen mit Behinderung sagen: "Ich will auch heiraten!"
Warum auch nicht?
Es steht in der UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 23: "Gleichberechtigung in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften betreffen." In Wirklichkeit aber ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten Sexualität und Partnerschaft leben können.
"Ich will auch heiraten" heißt ein Projekt, das vom Familienministerium gefördert wird. Ich unterstütze die Idee, Inklusion auch in der Schwangerschaftsberatung auszuprobieren.
Wenn wir uns noch einmal an die Zahl erinnern, 17 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen, fragt man sich, ob es wirklich Familien gibt, in denen überhaupt niemand eine Behinderung hat. Für mich sind Familien mit behinderten Angehörigen zunächst einmal ganz normale Familien. Sie arbeiten, verdienen Geld, wollen aber auch viel Zeit für die Kinder haben. Viele brauchen mehr Zeit als andere Familien, weil sie sich länger kümmern müssen. Und sie brauchen Einrichtungen: Kindergärten, Schulen, Freizeitangebote, Kultur und Sport, einige auch Werkstätten und Wohnheime.
Zeit, Geld und Infrastruktur sind wichtig für alle Familien. In einfacher Sprache hat es der Familienkongress der Lebenshilfe so beschrieben: "Eltern sollen mitbestimmen dürfen, wann sie arbeiten. Sie sollen zum Beispiel auch mal später zur Arbeit kommen oder von zu Hause arbeiten können, wenn sie bei ihren Kindern oder anderen Angehörigen sein müssen." Ich nenne das Partnerschaftlichkeit. Weil es Väter und Mütter betrifft, aber auch die Arbeitgeber.
Ich setze mich deshalb mit der Wirtschaft für eine familienfreundliche Arbeitswelt ein. Ich will außerdem, dass Väter und Mütter, beide, in der Zeit nach der Geburt eines Kindes etwas weniger arbeiten können. Eine Familienarbeitszeit. Diese Idee werde ich in den nächsten Jahren weiter vorantreiben. Die Gewerkschaften und den Deutschen Industrie- und Handelskammertag habe ich schon auf meiner Seite.
Ich finde eine weitere Forderung des Abschlusspapiers ganz wichtig: gute inklusive Kinderbetreuung. Die gemeinsame Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung steht seit 2005 im Gesetz. Die Zahl der inklusiven Plätze steigt. Für mich gehört das zur Qualität der Kinderbetreuung.
Gute Kinderbetreuung schafft es, Kinder, so wie sie sind, anzunehmen und zu fördern. Ich bin auch davon überzeugt, dass Kinder mit Behinderungen mit anderen Kindern in der Kita und im Kindergarten sehr viel lernen können. Frühkindliche Bildung ist für alle Kinder gut.
Die Bundesregierung hat ihre Mittel zum Ausbau der Kinderbetreuung gerade auf 1 Milliarde Euro aufgestockt. Mir ist wichtig, dass dieses Geld auch für Qualität eingesetzt wird. Ich weiß, dass Inklusion nicht einfach ist. Inklusion ist ein Ideal, ein Ziel, dem wir uns annähern müssen. Wir können sie auch nicht von heute auf morgen erreichen. Aber Kinder sind nun einmal unterschiedlich, und wenn wir Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit fördern wollen, darf Inklusion kein Fremdwort bleiben.
Man würde sich das oft auch bei Behörden wünschen. Viele Eltern mit behinderten Kindern kennen die Erfahrung: Sie werden von Tür zu Tür, von Amt zu Amt geschickt. Unterstützung aus einer Hand, eine Ansprechpartnerin oder ein Ansprechpartner, der oder die über alles Bescheid weiß - das wär's. In Wirklichkeit sieht es so aus: Für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung ist die Kinder- und Jugendhilfe zuständig.
Für Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen und geistigen Behinderung ist die Sozialhilfe zuständig. Aber die Hilfen, die Familien im Erziehungsalltag brauchen, kommen wiederum von der Kinder- und Jugendhilfe. Eltern warten schon lange auf die "Große Lösung", die die Zuständigkeiten bei der Eingliederungshilfe für junge Menschen zusammenführt. Ich will eine große Lösung, aber auch eine gute Lösung. Und ich möchte die "Große Lösung" zügig voranbringen.
Bei Familien mit behinderten Angehörigen dürfen wir allerdings nicht nur an Kinder denken. Inklusion gilt von der Kita bis ins höchste Alter. Es gibt heute viel mehr ältere Menschen mit Behinderungen als früher. Auch für die ändert sich viel, wenn sie nicht mehr arbeiten. Sie brauchen andere Unterstützung.
Das ist noch neu für uns. Aber es ist gut, dass wir darüber nachdenken können. Denn es ist ja eine gute Nachricht,
dass auch Menschen mit Behinderungen heute ein hohes Alter erreichen. Die Lebenshilfe macht im nächsten Jahr dazu eine Tagung gemeinsam mit meinem Ministerium. Wir brauchen die Lebenshilfe bei diesem Thema, weil die Lebenshilfe sich auskennt.
Die Bundesregierung arbeitet gerade auch an einem Gesetz, das es leichter machen wird, Pflege und Beruf zu vereinbaren. Ich habe es gerade schon gesagt: Sich um jemand zu kümmern, braucht Zeit. Mit dem neuen Gesetz sollen Menschen,  die zehn Tage zu Hause bleiben, um in einem akuten Pflegefall Hilfe zu organisieren, für diese Zeit ihren Lohn weiter bekommen. So wie es heute schon passiert, wenn Eltern sich um kranke Kinder kümmern.
Inklusion gilt für Alt und Jung und an jedem Ort. Sie haben es im Abschlusspapier des Familienkongresses so formuliert: "Städte und Gemeinden sollen beim Bau von Straßen, Plätzen, Wohnungen und Bussen mehr an Familien, Kinder und alte Menschen denken." Da geht es um ganz konkrete Sachen: niedrige Bordsteine, Spielplätze, Bänke. Aber es geht auch um eine Haltung. Immer daran denken, dass verschiedene Menschen verschiedene Bedürfnisse haben.
Immer mitdenken:

  • Was brauchen Familien?
  • Was wünschen sich Kinder?
  • Was hilft älteren Menschen?
  • Wie können Menschen mit Behinderungen teilhaben?

Bei dieser Haltung sind wir alle gefragt. Denn Diskriminierung fängt im Kleinen an.
Was machen wir, wenn wir einen Menschen mit einer Behinderung kennenlernen? Ist das wirklich normal für uns? Verhalten wir uns normal? Oder sind wir unsicher und gehen den Menschen aus dem Weg? Sie in der Lebenshilfe haben unserer Gesellschaft an diesem Punkt etwas voraus. Menschen mit Behinderungen waren in der Lebenshilfe immer schon normal. Dorthin muss unser Land als Ganzes erst noch kommen.
Inklusion heißt, dass Menschen mit Behinderungen gut leben können. Dass sie ganz normal teilhaben können. Inklusion heißt auch, dass wir eine gerechte Gesellschaft haben. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der Unterschiede normal sind. In einer Gesellschaft, in der Vielfalt anerkannt wird und in der alle Menschen, so unterschiedlich sie sind, die gleichen Rechte und Chancen haben. Denn wir sind alle Menschen, und als Menschen alle gleich.
Lassen Sie uns gemeinsam an dieser Gesellschaft arbeiten!