Sehr geehrter Herr Dr. Zeh,
sehr geehrte Damen und Herren,
I.
vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Und herzlichen Glückwunsch zu 60 Jahren AGF! Ich bin gern zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen dieses Jubiläum der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen zu feiern.
1954 - das war das Gründungsjahr der AGF.Das Bundesfamilienministerium ist nur ein Jahr früher entstanden. Es gab damals noch ernsthafte Kontroversen darüber, ob Familie überhaupt ein politisches Thema ist. Ist Familie nicht Privatsache?
Andererseits steht die Familie ausdrücklich unter dem Schutz des Staates. Und wir wissen, dass Familien Leistungsträger in unserer Gesellschaft sind. Das hat die AGF von Anfang an betont: Familienpolitik ist nicht Fürsorgepolitik für Familien, sondern Politik für die ganze Gesellschaft.
Ich fand es interessant, zu lesen, dass eines der ersten Themen der AGF die Wohnungspolitik war. Erschwingliches Wohnen für Familien. Im Bundestag wird gerade die Mietpreisbremse beraten; wir sind an diesem Thema also immer noch - oder wieder - dran.
Seit 1954 haben Familien mit der AGF eine starke Interessenvertretung. Die Interessen von Familien bekommen unter dem Dach der AGF mehr Gewicht. Und das Bundesfamilienministerium hat seit 1954 eine starke Partnerin, wenn es um die Belange von Familien geht. Das war am Anfang ganz wichtig, um Familienpolitik überhaupt auf die politische Tagesordnung zu setzen. Das ist aber heute genauso wichtig, wenn es darum geht, Familienpolitik zu modernisieren und nah an den Wünschen und Bedürfnissen der Familien Politik zu machen.
Für mich ist die Zusammenarbeit mit der AGF eine wichtige Säule meiner Familienpolitik. Ich habe Respekt davor, wie es Ihnen immer wieder gelingt, innerhalb der AGF zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Das ist oft gar nicht einfach.
Familie ist ein Thema, das alle angeht, bei dem alle mitreden können und bei dem ganz schnell starke Gefühle im Spiel sind. Familienpolitische Diskussionen kochen schnell hoch, es geht um Grundsätzliches. In der AGF gehen Sie diesen Diskussionen nicht aus dem Weg. Aber Sie versuchen auch, das Gemeinsame zu finden. Das finde ich wichtig: Familien sind unterschiedlich, familienpolitische Positionen sind unterschiedlich. Aber wir können die Interessen von Familien nur dann wirksam vertreten, wenn wir es gemeinsam tun. Wenn wir nicht eine Familienform gegen die andere ausspielen.Wenn wir akzeptieren, dass es unterschiedliche Formen gibt, Familie zu leben.
II.
Das ist ja auch eine Erkenntnis aus der Zeit seit 1954. Herr Dr. Zeh hat es eben schon gesagt - in den letzten 60 Jahren ist in unserem Land viel passiert. Familie hat sich verändert, und Familienbilder haben sich verändert. Ein Ehepaar mit Kindern? Das war vor 60 Jahren eine Familie und ist heute immer noch eine Familie. Aber für die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist Familie heute überall dort, wo Menschen mit Kindern zusammenleben. Unverheiratete Paare mit Kindern, Drei-Generationen-Haushalte, Patchwork-Familien, Alleinerziehende – all das ist heute ebenfalls Familie.
Nicht zu vergessen die Regenbogenfamilien: Mehr als 7000 Kinder wachsen in Familien mit gleichgeschlechtlichen Partnern auf. Familie ist so bunt wie das Leben selbst. Das spiegelt sich auch in der AGF wider. 1967 kam der Verband alleinerziehender Mütter und Väter dazu und vertritt seitdem die Interessen von über zwei Millionen Einelternfamilien.
2012 war ein Fünftel der Familien mit minderjährigen Kindern in Deutschland alleinerziehend. Den Verband binationaler Familien und Partnerschaften gibt es seit 1972. Logisch angesichts der Tatsache, dass Menschen nach Deutschland kommen, in Deutschland bleiben und in Deutschland Familie haben. Für mich ist Familie überall dort, wo Menschen verschiedener Generationen partnerschaftlich Verantwortung übernehmen und sich umeinander kümmern. Es wird Zeit, dass wir Familie in dieser Vielfalt wahrnehmen und wertschätzen.
III.
Eine zweite große Veränderung betrifft die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Als die AGF gegründet wurde, war die Hausfrauenfamilie im Westen herrschende Norm. Die Pflichten der Eheleute standen sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch. Der Mann – zuständig für das Einkommen. Die Frau – für Kinder und Küche. Heute ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Mütter und Väter das wichtigste familienpolitische Thema.
Im Monitor Familienleben von 2013 haben 74 Prozent der Befragten die Verbesserung der Vereinbarkeit als wichtiges Ziel der Familienpolitik benannt. Ein Megatrend für die Politik, die Wirtschaft, für Einrichtungen wie Kitas und Familienzentren, aber natürlich vor allem für die Familien selbst.
Mit dem demografischen Wandel bekommt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch einmal einen neuen Akzent. Vor allem die Mütter fühlen sich wie in einem Sandwich: Sie wollen und brauchen Zeit für die Kinder. Die werden größer, gehen zur Schule, fangen ein Studium oder eine Ausbildung an. Und spätestens dann beginnt die Frage: Was ist eigentlich mit meinen Eltern? Mit den Schwiegereltern? Kommen die noch allein zurecht? Was kann ich tun, was muss ich tun?
Je mehr ältere Menschen es gibt, desto deutlicher kommt diese Frage an: in den Familien, bei den Arbeitgebern, in der Politik und auch in den Verbänden. Familie ist vielfältig, habe ich gesagt. Zu dieser Vielfalt gehören auch die älteren Familienmitglieder.
IV.
Veränderungen in den Familien sind schließlich auch Veränderungen im Verhältnis von Männern und Frauen. Berufstätig zu sein, eigenes Geld zu verdienen - das ist ein Emanzipationsthema seit den 60er und 70er Jahren. Wir sind mit diesem Thema noch lange nicht durch: Frauen verdienen für gleiche Arbeit immer noch 22 Prozent weniger. Und die Vertretung von Frauen in den Führungspositionen großer Unternehmen müssen wir gesetzlich regeln, weil es anders nicht funktioniert.
Aber wir sehen heute auch eine andere Emanzipation. Immer mehr Väter nehmen sich Zeit für die Familien. Neun von zehn Frauen und Männern zwischen 20 und 39 Jahren finden heute, dass Mütter und Väter sich gemeinsam um das Kind kümmern sollten. 81 Prozent sehen beide Partner für das Familieneinkommen in der Verantwortung. Frauen und Männer, Mütter und Väter wollen Familie und Beruf partnerschaftlich leben. Verglichen mit 1954 ist das eine Revolution. Auch wenn es eine leise Revolution ist.
Sie stellt viele Fragen neu: Wie wollen wir zusammen leben? Wie wollen wir Gesellschaft organisieren? Wie wollen wir arbeiten? Es sind die Fragen, die heute auf der Tagesordnung der Familienpolitik stehen. Und natürlich Fragen, die auf der Tagesordnung der Familienverbände stehen.
V.
Bei Ihnen weiß ich, dass Sie mir nicht sagen werden: Frau Schwesig, Sie können doch nicht die Wirtschaft so belasten! Bei den Familienverbänden steht die Familie im Mittelpunkt und das ist richtig so. Es sind die Familien, die entlastet werden müssen. Immer flexibler, immer mehr Anforderungen, immer weniger Zeit – das geht nicht.
Ich will aber auch bei Ihnen deutlich machen, dass Familienfreundlichkeit für die Arbeitgeber keine Belastung ist, sondern ein Vorteil. Unternehmen suchen Fachkräfte. Fachkräfte aber haben Familie. Und immer mehr Unternehmen wissen mittlerweile: Wenn wir Fachkräfte gewinnen und halten wollen, motivierte, gut qualifizierte Frauen und Männer, dann müssen wir familienfreundliche Angebote machen. Für Mütter und Väter und für Frauen und Männer, die pflegen. Das ist eine Aufgabe für die Wirtschaft, aber eben auch ein Vorteil für die Wirtschaft.
VI.
Meine Aufgabe als Bundesfamilienministerin ist es, Familienpolitik zu machen, die sich an den Bedürfnissen von Familien orientiert und Rahmenbedingungen schafft, die Familien das Leben leichter macht. Wenn ich mit Blick auf die Podiumsdiskussion gleich ins Jahr 2024 schaue, dann würde ich drei Visionen für Familien formulieren.
Erstens: 2024 ist es selbstverständlich, dass Frauen und Männer sich Zeit für Familie nehmen können. Zeit für Kinder, Zeit für ältere Angehörige. Sie werden sich diese Zeit nehmen können und trotzdem im Beruf bleiben und vorankommen. Frauen und Männer, Mütter und Väter.
Zweitens ist es 2024 selbstverständlich, dass Familien bunt sind. Keine Familie wird benachteiligt, niemand wird auch nur schief angeschaut, weil er oder sie anders lebt als die Mehrheit. Das heißt aber nicht - und das ist mein dritter Punkt -, dass Familien im Jahr 2024 keine Lobby mehr brauchen.
Familie wird sich immer wieder verändern, und sie wird immer Organisationen brauchen, die ihre Interessen in Gesellschaft und Politik vertreten. Deshalb wird es in meiner Vision auch 2024 eine starke AGF geben. Stark in der Vielfalt der Positionen, die sie vertritt, und stark in der Einigkeit, mit der sie für Familie streitet. Viel Erfolg für die AGF bis 2024 und darüber hinaus!