Es gilt das gesprochene Wort.
Ich begrüße Euch Schülerinnen und Schüler ausdrücklich als erste, weil Ihr heute die wichtigsten Gäste seid. Es geht bei dieser Veranstaltung um Euch, um junge Menschen zwischen 16 und 18. Ihr seid von der Anna-Essinger-Gemeinschaftsschule in Lichterfelde, von der Gemeinschaftsschule Grünau, von der Gustav-Heinemann-Oberschule in Marienfelde, von dem Leibniz Gymnasium in Kreuzberg und dem Humboldt-Gymnasium in Tegel. Ihr habt für diese Veranstaltung frei bekommen, weil ihr dieses Jahr das europäische Parlament (EP) wählen dürft - als erste Generation könnt ihr schon ab 16 an der Europawahl teilnehmen. Wählen dürfen ist etwas Wertvolles. Mit Wahlen können wir die Welt um uns herum und die Geschichte unseres Landes beeinflussen. Das merken wir allerdings meist erst im historischen Rückblick.
Schaut euch beispielsweise mal hier um: Ihr seid im Konferenzzentrum unseres Ministeriums. Das Gebäude ist 150 Jahre alt. Früher war es eine Bank. Hier war damals die Kassenhalle. Frauen durften hier damals kein Konto eröffnen. Das durften nur Männer. Ein eigenes Konto eröffnen dürfen Frauen in West-Deutschland erst ab 1957. Das scheint heute ziemlich absurd. Aber es ist ein Umstand, an den sich viele Eurer Großeltern noch erinnern können. Als dieses Gebäude vor 150 Jahren gebaut wurde, durften Frauen auch noch nicht wählen: also alle jungen Frauen hier im Saal, ihre Mütter und Großmütter, hätten nicht wählen dürfen. Schon gar nicht hätten Wähler mich als Politikerin wählen können. Es konnten nur Männer Männer wählen.
Nach dem ersten Weltkrieg haben sich die Frauen das Wahlrecht erkämpft: Es gibt Fotos von der Wahl 1919: der ersten Wahl, an der Frauen teilnehmen durften. Überall im Land bildeten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen, auch auf Dörfern und in Kleinstädten. 87,7 Prozent der Frauen wollten ihr neu errungenes Recht wahrnehmen. Sie hatten Recht - denn auch wenn es mit den Frauenrechten mal voran, dann wieder zurück, und dann wieder voran ging. Insgesamt haben wir als Gesellschaft in den letzten hundert Jahren durch die Gleichstellung der Geschlechter ein viel besseres Leben für alle gewonnen.
Nun haben wir wieder etwas Neues erreicht. Zum ersten Mal dürfen in Deutschland bei den Wahlen zum Europaparlament junge Menschen ab 16 Jahren mitmachen. Das ist enorm wichtig. Denn im europäischen Parlament wird über die Zukunft der EU entschieden. Die Jugend Europas ist im Wahlvolk aber eine Minderheit. Ich bin überzeugt: Eure Interessen könnt ihr selbst am besten vertreten. Darum habe ich mich so sehr für das Wahlalter 16 eingesetzt.
Vielleicht fragt Ihr, was hat die Europa-Wahl mit mir zu tun? Das Europäische Parlament in Brüssel ist doch 1000 Kilometer weg. Was machen die dort für mich? Das lässt sich ganz konkret beantworten. Ihr braucht nur in euren Geldbeutel zu schauen. Das Europäische Parlament hat beschlossen, dass Ihr in fast allen Ländern mit demselben Geld bezahlen könnt. Außerdem wurden vor einigen Jahren die Roaming-Gebühren in der EU abgeschafft. Deshalb könnt Ihr fast überall in Europa mit Euren Handys das Internet benutzen - ohne extra dafür bezahlen zu müssen. Dank Erasmus-Plus könnt ihr jetzt in jedem EU-Land für drei Wochen an einem Jugendaustausch teilnehmen. Es geht aber im europäischen Parlament nicht nur um Dinge, die für euren Alltag schön und praktisch sind - es geht um die großen Themen der Gegenwart und Zukunft.
Es stimmt nicht, was böse Zungen behaupten: dass das Europäische Parlament nichts Wichtiges zu entscheiden hätte. Es geht beispielsweise um den Klimaschutz - der Green Deal ist ein europäisches Programm. Es geht darum, ob Unkrautvernichter wie Glyphosat eingesetzt werden dürfen oder nicht. Es geht darum, ob Kinder von EU-Bürgern, die in Deutschland arbeiten, Kindergeld bekommen oder nicht. Es geht darum, ob Sanktionen wegen des Ukraine-Krieges gegen Russland verschärft werden, oder nicht. Es geht um Migration: Die Neuregelung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems GEAS wurde letzte Woche erst im Europäischen Parlament beschlossen. Auch wenn ihr das Ergebnis überhaupt nicht gut findet, zeigt das: Die Zusammensetzung des EP entscheidet, wie solche wichtigen Abstimmungen ausgehen. Und nun dürft auch ihr am 9. Juni darüber abstimmen, welche 96 Menschen aus Deutschland Euch in den nächsten fünf Jahre im Europaparlament vertreten.
Damit gehört ihr zu den 1,4 Millionen jungen Menschen, die erstmals ihre Stimme bei den Europawahlen abgeben. Falls Ihr es schwierig findet, Euch über Politik und Parteien in Brüssel zu informieren, habe ich einen Tipp. Wer von Euch kennt den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung? Bitte einmal die Hand heben! Für diejenigen, die ihn noch nicht kennen, hier die Erklärung: Der Wahl-O-Mat fragt euch zu unterschiedlichen Themen nach eurer Meinung. Dann sagt er euch, welche politische Partei in Brüssel am ehesten eurer Meinung entspricht. Das ist für viele Menschen eine große Entscheidungshilfe. Nutzt Sie. Macht Briefwahl oder geht am 9. Juni zur Wahl! Nehmt dorthin noch ein paar Eurer Freundinnen und Freunde mit. Denn in Deutschland sind die Hälfte der Wahlberechtigten über 60. Um der Meinung der jungen Generation eine gewichtigere Stimme zu verschaffen, braucht es jeden einzigen von Euch im Wahllokal! Und jetzt bin ich gespannt auf eure Fragen - vielen Dank!