Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren.
Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie unserer gemeinsamen Einladung zum Runden Tisch Kindesmissbrauch gefolgt sind.
Auf uns warten schwere Aufgaben. Was wir in den letzten Wochen über den sexuellen Missbrauch von Jungen und Mädchen lesen mussten, hat uns alle schockiert. Für viele ist das Ausmaß trotzdem keine Überraschung. Gerade die Expertinnen und Experten hier am Tisch kennen die Fakten seit langem: Allein für das vergangene Jahr weist die Kriminalstatistik 15.000 Opfer sexuellen Missbrauchs aus. Wir alle wissen, dass dies nur die Spitze des Eisberges ist. Fakt ist auch: Sexueller Missbrauch ist nicht nur körperlicher Missbrauch, sondern auch seelischer Missbrauch. Die Täter sind meist Menschen, denen die Kinder vertrauen, die sie respektieren und gern haben und von denen sie sich Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung erhoffen.
So war es auch in vielen kirchlichen und weltlichen Einrichtungen, die in den letzten Wochen in die Schlagzeilen geraten sind, weil Kinder und Jugendliche dort vergewaltigt, misshandelt und gedemütigt wurden. Wir haben viele Anrufe und Zuschriften von Opfern erhalten, in denen sie uns ihr Leid geschildert haben.
Ihre Worte waren teils laut und wütend, teils leise und verstört. Teils war die Erleichterung spürbar, dass das Schweigen gebrochen ist, teils der Schmerz, weil schlimme Erinnerungen und Traumata wieder wach wurden.
Die meisten Straftaten, von denen uns betroffene Männer und Frauen berichtet haben, sind längst verjährt. Verantwortung aber verjährt nicht. Wir stehen den Opfern gegenüber in der Verantwortung. Wir stehen auch allen Kindern und ihren Eltern gegenüber in der Verantwortung.
Unsere Aufgabe an diesem Runden Tisch ist deshalb zum einen, Geschehenes aufzuarbeiten. Das sind wir den Opfern schuldig. Unsere Aufgabe ist es zum anderen, alles in unserer Möglichkeit stehende zu tun, um sexuellen Missbrauch in Zukunft zu verhindern. Das sind wir den Kindern in unserer Gesellschaft schuldig! Aber wir sind es auch den Eltern schuldig! Denn jede Mutter, jeder Vater in Deutschland wird sich fragen: Wie kann ich meine Kinder vor solchen Erfahrungen schützen?
Meine Damen und Herren, ich möchte ein paar persönliche Gedanken und Fragen an den Anfang unserer heutigen Diskussion stellen, die mir bei der Vorbereitung auf die erste Sitzung des Runden Tischs immer wieder durch den Kopf gegangen sind. Da ist einerseits das Schweigen über Jahre und Jahrzehnte, das uns unbegreiflich ist. Viele Opfer litten unter diesem Schweigen.
Aber andererseits waren sexuelle Misshandlungen an den betroffenen Schulen und Einrichtungen häufig ein offenes Geheimnis. Wie kann es sein, dass so viele Menschen geahnt oder gewusst haben, was passiert – und trotzdem niemand etwas unternommen hat? Warum wurden Vorfälle selbst dann totgeschwiegen, wenn es Mitwisser gab und darüber getuschelt und gemunkelt wurde?
Ich würde mir für diesen Runden Tisch wünschen, dass wir alle den Mut haben, Defizite klar zu benennen: Defizite in unseren Institutionen, in den Strukturen, in der Zusammenarbeit, die Schutzräume für Pädosexuelle haben entstehen lassen und Schutzräume für Kinder verhindert haben. Dabei ist es ist richtig, dass wir die Opfer ins Zentrum rücken. Es ist auch wichtig, dass wir Institutionen und ihre Strukturen hinterfragen. Aber wir müssen uns auch mit den Tätern als Personen befassen.
Immer wieder habe ich gelesen, dass sich der sexuelle Missbrauch von Kindern Schritt für Schritt anbahnt. Pädosexuelle testen, wie weit sie gehen können, sie manipulieren ihr Umfeld, sie loten ihre Grenzen aus und verschieben sie schrittweise.
Ist es also möglich, zu verhindern, dass aus Neigungen Straftaten werden? Können wir in dieser Phase der Grenzverschiebung intervenieren? Hier sollten wir auf dem aufbauen, was wir bereits wissen und in der Praxis erproben. Darüber hinaus bringen viele von Ihnen umfangreiche Expertise mit, und auch in meinem Haus ist das Thema "Kindesmissbrauch in Institutionen" nicht neu. Wie können wir unsere bereits vorhandenen Einzelmaßnahmen bündeln und vernetzen, um zu verhindern, dass Männer mit pädophilen Neigungen die Grenzen zum Kindesmissbrauch überschreiten?
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen kurz vorstellen, was das Bundesfamilienministerium bereits für den besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen plant. Wir werden in diesem Jahr nicht nur das Kinderschutzgesetz auf den Weg bringen. Die Bundesregierung wird unter meiner Federführung auch den Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung weiterentwickeln. Mit dem Aktionsplan II werden wir bis Anfang nächsten Jahres ein ganzes Maßnahmenbündel zum Schutz vor sexueller Gewalt und Ausbeutung schnüren.
Ein Thema in diesem Aktionsplan wird auch der Missbrauch in Institutionen sein. Die ersten Ergebnisse unserer Diskussionen hier am Runden Tisch sollen deshalb in den Aktionsplan II einfließen.
Geeignete Maßnahmen brauchen wir aber auch für Bereiche, die nicht unter das Kinder- und Jugendhilfegesetz fallen, obwohl Kinder auch dort Erwachsenen anvertraut sind. Welche Bereiche das sind und welche Maßnahmen hier greifen, sind weitere wichtige Aspekte, die ich mit Ihnen diskutieren möchte. Wir werden uns zum Beispiel fragen müssen, wie wir es künftig mit dem erweiterten Führungszeugnis halten: Für die hauptamtlichen Kräfte in der Kinder- und Jugendhilfe ist das relativ unstrittig. Brauchen wir es auch für ehrenamtlich Tätige, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wir müssen sorgfältig abwägen zwischen den Erfordernissen eines wirksamen Kinderschutzes einerseits und der Förderung des ehrenamtlichen Engagements andererseits. Wie können wir Kinder beispielsweise in Vereinen schützen, ohne allzu große Hürden aufzubauen für Menschen, die sich hier engagieren wollen?
Wichtig wäre mir auch, dass wir uns auf die Einführung verpflichtender Standards in allen Einrichtungen einigen. Ob diese Standards ihre Wirkung entfalten, können wir am Runden Tisch natürlich nur begrenzt beeinflussen. Denn es genügt nicht, die Standards auf dem Papier zu haben. Standards mit Leben zu füllen bedeutet, für das Thema dauerhaft sensibel zu bleiben - auch wenn es keine Schlagzeilen mehr macht. Standards mit Leben zu füllen, erfordert eine dauerhafte Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Wir müssen uns insbesondere die Frage stellen, wer die Umsetzung und Einhaltung der Standards anstößt und überprüft. Ich weiß, dass es dazu bereits Konzepte und Modelle gibt, die erfolgreich umgesetzt werden. Die Politik könnte das unterstützen, indem wir die Vergabe von Fördermitteln an das Vorhandensein von Standards und verbindlichen Selbstverpflichtungserklärungen knüpfen. Dabei wären Bund, Länder und Kommunen als Zuwendungsgeber gleichermaßen gefragt. In jedem Fall machen verbindliche Standards aber nur Sinn, wenn die Leitung der Einrichtungen hinter diesen Maßnahmen steht. Deshalb wäre es wichtig, dass wir flächendeckend die Ausbildungscurricula sozialer Berufe beleuchten und bei Bedarf entsprechend verändern.
Eine weitere Frage, die mir als Jugendministerin am Herzen liegt, ist die Frage, wie wir Kinder und Jugendliche stark machen können? Auch diese Frage möchte ich mit Ihnen beraten. Wie können wir Kinder und Jugendliche in die Lage versetzen, Missbrauch zu erkennen, klar zu benennen und frühzeitig über Vorfälle innerhalb und außerhalb der Familie zu sprechen? Wie können wir deutschlandweit Eltern, Erzieher, Lehrer, Fachkräfte und Ehrenamtliche sensibilisieren, damit auch nonverbale Signale richtig gedeutet werden?
Meine Damen und Herren, vor uns liegen schwierige Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Vor uns liegen schwere Aufgaben, denen wir nur gemeinsam und im offenen Austausch gerecht werden können. Unserer Verantwortung werden wir nur gerecht, wenn wir ressortübergreifend, parteiübergreifend und institutionenübergreifend zusammen arbeiten.
Herzlichen Dank, dass Sie alle dazu bereit sind!