"Oh", soll Ursula von der Leyen, damals noch Sozialministerin in Niedersachsen, einmal gesagt haben, als sie das Familienfoto einer Amtskollegin auf deren Schreibtisch bemerkte, "was für ein schönes Bild, das habe ich ja noch nie in der Zeitung gesehen!" -"Und das werden Sie auch nie sehen", lautete angeblich die ätzende Antwort der Kollegin.
Solche Anekdoten werden natürlich nicht in freundlicher Absicht erzählt. In der Tat, es geht um Bilder: um Aufnahmen mit Kindern, Ponys und Zwergziegen - und die Frage, ob die neue Familienministerin, die Ärztin und siebenfache Mutter, ihren Nachwuchs und ihre Kleintiere fahrlässig oft ins Rampenlicht schiebt, um politisch zu profitieren. Im gleichen Zusammenhang wird häufig, gern auch von Unionsfrauen, die Auffassung geäußert, wenn man so privilegiert lebe wie Ursula von der Leyen, dann, ja dann sei auch die Vereinbarkeit von Ministerberuf und Großfamilie ein Kinderspiel.
Das ist sozusagen die partykompatible, die Oberflächendebatte über "Merkels schönste Ministerin", so das Bild-Zeitungs-Klischee. Doch subkutan geht es um andere Bilder, nicht zuletzt um die unterschiedlichen Familienbilder von Union und SPD, die beide nicht ganz schmerzlos mit von der Leyens familienpolitischem Entwurf zur Deckung zu bringen sind. Und es geht um die Frage, warum Familienpolitik auf einmal so spannend zu werden scheint. Warum gibt es wochenlange heftige Diskussionen über ein auf den ersten Blick eher technisches Detail aus der Koalitionsvereinbarung, die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten? Warum steht ausgerechnet die christdemokratische Familienministerin im Zentrum des ersten großkoalitionären Fingerhakelns?
"Sie sind siebenfache Mutter, wie wollen Sie das schaffen?"
Ursula von der Leyens Antwort lautet so: "Je unsicherer die Welt wird, je mehr wir die negativen Folgen der Individualisierung spüren, desto mehr konzentrieren wir uns auf Dinge, die wir überhaupt noch beeinflussen können. Dazu gehört der Glaube - und die Familie." Mithin wäre das aufflammende familienpolitische Interesse eine Art gesellschaftliche Selbstvergewisserung über die Frage, wie man heute, unter schwierigen wirtschaftlichen und zwischenmenschlichen Bedingungen, zusammenleben will, kann oder gar soll - eine Debatte, die von der Leyens Vorgängerin Renate Schmidt bereits angeschoben hatte. Nun wird die Neue darin zum Katalysator.
Ursula von der Leyen hat Volkswirtschaft und Medizin studiert, in Göttingen, Münster, London und Hannover. Sie ist promovierte Gynäkologin und hat zudem einen Abschluss als Master of Public Health. Vier Jahre lang lebte sie in den USA und erwarb in Stanford Zusatzqualifikationen in der Gesundheitssystemforschung. Das ist jener bildungsorientierte Teil ihres modernen Frauenlebens, gegen den heute niemand mehr etwas einzuwenden hat. Zugleich aber bekam sie - höchst untypisch für deutsche Akademikerinnen - zwischen 1987 und 1999 sieben Kinder. Dennoch arbeitete sie nicht nur als Ärztin, sondern machte auch noch eine unorthodoxe politische Karriere, ohne lebenslange JU-Freundschaften und Ortsverbandserfahrung, aber mit dem Rat ihres Vaters Ernst Albrecht, des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten, im Rücken. Ursula von der Leyen ist sich völlig im Klaren darüber, dass sie ohne ihre Ausnahmebiografie ihre augenblickliche Position nicht erreicht hätte.
"Ich säße nicht hier", sagt sie am Konferenztisch ihres frisch eingeräumten Ministerbüros am Alexanderplatz, "und ich hätte auch nicht alle meine Kinder bekommen ohne zwei Dinge: diesen Schritt hinaus aus Deutschland, nach Amerika, wo ich erlebte, was es heißt, wenn Kinder willkommen sind und mütterliche Berufstätigkeit zugleich akzeptiert, ja erwartet wird. "Und natürlich", sagt sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag, "habe ich mit meiner Lebenssituation auch einen gewissen politischen Symbolwert." Den sahen sowohl Christian Wulff, der sie als Landesministerin aufbaute, als auch Angela Merkel, die von der Leyen erst in die Herzog-Kommission, dann in ihr Kompetenzteam und schließlich ins Bundeskabinett berief.
Was sich hingegen erst nach und nach abzeichnet, sind die vielen Aspekte in ihrem Leben, die beim Publikum ein gewisses Sich-Sträuben auslösen - vielleicht aber gerade dadurch die lang überfällige Debatte über Lebensstile und Lebensformen befeuern.
Unter den Skeptikern sind zunächst jene Frauen und Männer, die sich für ein traditionelles Familienmodell entschieden haben: Häusliche Erziehung wird in diesen Familien naturgemäß als hoher Wert betrachtet - und die fortschreitende programmatische Orientierung der Union auf die "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" misstrauisch beäugt. Es ist schwer einzuschätzen, wie groß diese Gruppe unter den CDU- und CSU-Anhängern noch ist, aber dass sie existiert, hat Ursula von der Leyen auf ihrem vergleichsweise kurzen politischen Weg immer wieder erlebt: "Bei meiner Kandidatur für ein Landtagsmandat 2003 stand ein Mann auf und fragte: Sie sind siebenfache Mutter, wenn ich sehe, wie viel meine Frau mit einem Kind zu tun hat - wie wollen Sie das schaffen?" "Wie wollen Sie das schaffen", wiederholt von der Leyen. "In Deutschland wird kaum je gefragt: Wie wollen wir das schaffen?"
Die latente Blindheit der Gesellschaft für die Bedürfnisse der jungen Frauen hat sie als wesentliche Ursache für die Geburtenkrise im Verdacht. Wenn die überwältigende Mehrheit der Dreißigjährigen berufstätig, dreißig aber zugleich das Durchschnittsalter für das erste Kind sei, dann gehe es für Angehörige dieser Generation nicht mehr darum, ob sie einen Beruf ausübten, sondern ausschließlich darum, ob sie Kinder bekämen. Diese Bestandsaufnahme liegt den meisten Vorhaben zugrunde, die im Koalitionsvertrag festgeschrieben sind, vom Ausbau der Betreuungsangebote für unter Dreijährige über die aktuell umstrittene Absetzbarkeit für Haushaltshilfen, Tagesmütter und Kita-Kosten bis hin zum einkommensabhängigen Elterngeld. Verfechtern der Traditionsfamilie muss diese Agenda der schwer arbeitenden Vielfachmutter als völlig falscher Plan vorkommen - und sie selbst als Symbolfigur einer heillosen Moderne.
Manchen Sozialdemokraten hingegen erscheint die Familie bis heute als Zwangsverband, dessen schädlichen Einfluss man durch öffentliche Angebote der Kinderbetreuung einhegen muss. Zudem besteht auf sozialdemokratischer Seite traditionell eine Abneigung gegen "Dienstmädchen" und eine vorsichtige Distanz zu Tagesmüttern.
Die Powerfrau gibt sich bürgerlich - mit Perlenkette und Hausmusik
Von der Leyens Power-Frau-Effekt, der auf der Linken im Großen und Ganzen gut ankommen müsste, wird zudem untergraben durch ihre offensive Bürgerlichkeit, durch brave Frisur und CDU-verträgliche Perlenkette, durch die demonstrative Wertschätzung der Hausmusik, durch Erziehungsratschläge in der Boulevardpresse, die sich gegen überlange Fernsehzeiten und Bewegungsmangel bei Kindern wenden - und gegen ähnliche Erscheinungsformen elterlicher Nachlässigkeit. Für einen gewissen Zeitgeist jenseits von rechts und links ist das irgendwie alles zu viel: zu viele Kinder, zu viel Erfolg, zu viel Meinung, zu viel Disziplin, zu viel Lächeln bei öffentlichen Auftritten.
Dabei ist die Familienministerin eben nicht die glatte "Alles kein Problem"-Karrierefrau, als die sie manchmal dargestellt wird. Sie kann ausgiebig und höchst glaubwürdig vom schlechten Gewissen während der Berufstätigkeit mit kleinen Kindern berichten. Kollegen sehen ihr den Stress an, wenn zum dritten Mal in der Stunde Sprösslinge auf dem Handy anrufen - aber natürlich müssen sie anrufen dürfen. "Selbstverständlich habe ich Grenzen", sagt Ursula von der Leyen. "Ich war mir zum Beispiel absolut sicher, dass ich es nicht schaffe, zum Ministeramt auch noch einen Bundestagswahlkreis ordentlich zu betreuen. Wäre das Bedingung gewesen, hätte ich die Sache gelassen." Auch ohne Wahlkreis bringt der Sprung auf die Bundesebene genug zeitliche Zusatzbelastung mit sich; und die Kinder können nicht mehr, wie früher in Hannover, zur Not zum Essen in die Kantine des Ministeriums kommen.
Nach Berlin werde die Familie trotzdem nicht umziehen, offenbarte von der Leyen Anfang der Woche in einer Talkshow: Es sei unsinnig, ihretwegen, die praktisch immer unterwegs sein müsse, acht andere Menschen zu entwurzeln und zu verpflanzen. Diese Entscheidung wird sicher wieder Diskussionen über die Schwierigkeiten einer Wochenendfamilie auslösen - wie tausendfach im richtigen Leben. Zu viele Kinderfotos? Die privaten Shootings will von der Leyen künftig drastisch reduzieren. Aber ihr Familienbild darf bleiben.
Das Porträt ist am 26.Januar 2006 in der ZEIT erschienen. Autorin: Susanne Gaschke