Ursula von der Leyen im Interview mit Deutschlandradio: Risiken früher erkennen

Ursula von der Leyen spricht im Interview mit Deutschlandradio über die Ergebnisse des Kindergipfels.

Das Interview im Wortlaut:

Sandra Schulz: Und wir bleiben beim Thema; Am Telefon begrüße ich nun die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU). Guten Morgen!

Ursula von der Leyen: Guten Morgen, Frau Schulz!

Schulz: Frau von der Leyen, Anlass für den Kindergipfel gestern waren ja die Fälle von Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen, die jüngst bekannt wurden. Warum bedarf es eigentlich solcher Anlässe?

Ursula von der Leyen: Wir sehen, dass die Anzahl der Kindstötungen nicht zugenommen hat in den letzten zehn Jahren, aber wenn ein Kind getötet wird, dann ist das die Spitze des Eisberges, und darunter liegt das Thema Verwahrlosung, Vernachlässigung, Misshandlung von Kindern. Und da können wir besser werden, nämlich dass wir vorbeugen, früher eingreifen, es gar nicht dazu kommen lassen, dass diese Spirale aus Isolation einer Familie, die sich dann in Aggression gegen das Kind entlädt, dass das gar nicht erst geschieht.

Schulz: Blicken wir auf die Ergebnisse von gestern Abend. Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten sind sich ja darüber einig, dass Vorsorgeuntersuchungen für Kinder verbindlich werden sollen. Gilt damit das Argument nicht mehr, man dürfe die Eltern nicht unter Generalverdacht stellen?

Ursula von der Leyen: Nein. Es ist allgemeine Meinung und Konsens gewesen, dass wir das verbindliche Einladungswesen, also verbindliche Vorsorgeuntersuchungen, weiter stärken. Einige Länder sind da schon ganz vorbildlich vorangegangen und haben genau das getan, was richtig ist: schnell und unbürokratisch, nämlich alle werden eingeladen. Der überwiegende Teil der Eltern kommt gerne zur Vorsorgeuntersuchung und freiwillig. Und diejenigen, die nicht kommen, da wird ein zweites Mal nachgehakt. Dann kommt auch ein ganz großer Teil. Die haben es schlicht und einfach oft vergessen. Und diejenigen, die dann nicht kommen, da geht das Jugendamt oder die Gesundheitsbehörde direkt in die Familie und schaut nach. In diesen Fällen ist es häufig auch ganz richtig, dass nachgehakt wird. Das fällt unter den Begriff des verbindlichen Einladewesens, und da sind wir uns alle einig, dass das alle Bundesländer haben sollten.

Schulz: Welche Sanktionen drohen den Eltern, wenn sie sich entziehen?

Ursula von der Leyen: Sanktionen sind nicht richtig, weil: Was nützt es dem Kind, das in Not ist, wenn seine Eltern bestraft werden, denn dann wird es im Zweifelsfall noch mehr geprügelt. Das Richtige ist: reingehen in die Familien, gucken, wie es den Kindern geht, und dann konsequent die Kinder schützen. Beziehungsweise ideal ist es, früher, bevor es richtig kritisch wird in den Familien, schon da sein - idealerweise von der Geburt eines Kindes an -, wenn Eltern noch gerne gute Eltern sein wollen, aber eigene massive Probleme haben, dort so zu unterstützen, dass es gar nicht in diese Spirale, in diese Negativspirale hineingeht. Das ist der zweite Punkt, den wir ganz konkret besprochen haben, nämlich: Wie können wir die Risiken früher erkennen, idealerweise bei der Geburt eines Kindes? Ich sage ein paar Stichworte: wenn es Drogen- oder Alkoholprobleme in der Familie gibt, wenn es innerfamiliäre Gewalt gibt, einer schlägt, wenn zum Beispiel bekannt ist, dass die Eltern psychiatrische Probleme wie Depressionen oder Wahnvorstellungen haben, schwere soziale Probleme. Dann wissen wir: Wir können die nicht mit einem Neugeborenen nach Hause lassen und hoffen, dass es gut geht, sondern wir müssen dran bleiben, ein dichtes Netz knüpfen, idealerweise mit einer Familienhebamme am Anfang, weil die sehr akzeptiert ist bei diesen jungen Eltern. Und dann müssen eben Jugendamt, Kinderärzte, die Hebammen, auch Polizei, wenn es notwendig ist, wenn die Erkenntnisse hat, ganz eng zusammenarbeiten, dass immer klar ist: Wer kümmert sich morgen?

Schulz: Reichen die Ressourcen aus, die den Ämtern und Behörden zur Verfügung stehen, um diesem engen Netz zu entsprechen?

Ursula von der Leyen: Darüber haben wir auch gesprochen, und wir haben gute bestehende Systeme, aber unser Fehler liegt darin - und das arbeiten wir im Augenblick auf -, dass wir sie viel zu wenig miteinander vernetzt haben, nämlich den Ansatz haben, lasst uns das Kind als Gesamtheit innerhalb der Familie anschauen und nicht dass jedes Amt oder jede Behörde sich einen Teil anschaut, also zum Beispiel die Psychiatrie die kranke Mutter oder das Jugendamt nur die Kinder, sondern man muss schon die Familie als Gesamtheit sehen und sicherstellen, dass gehandelt wird. Und dann ist das Prinzip - und das sagen die Kommunen, die erfolgreich sind auf diesem Gebiet -, das ist sehr gut investiertes Geld am Anfang, denn das nicht da ist, dieses Netz, dann hat man Dinge wie die Kinder müssen aus den Familien raus, in Heimen untergebracht werden, was viel teurer ist, oder wir haben Schulabbrecher, wir haben Jugendkriminalität. Das wird richtig teuer für eine Kommune oder eine Gesellschaft, denn das ist der Reparaturdienst, wo man besser vorgebeugt hätte.

Schulz: Werden zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt?

Ursula von der Leyen: Das ist in der Entscheidung einer jeweiligen Kommune oder zum Beispiel beim Gesundheitswesen ist es eine Entscheidung, ob wir eine weitere Vorsorgeuntersuchung einführen. Zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr ist unseres Erachtens die Lücke zu groß. Das ist eine klassische Aufgabe der Krankenversicherung. Das würden dann zusätzliche Mittel sein. Aber noch mal: Es ist gut investiertes Geld, so wie wir jetzt bundesseitig zum Beispiel gesagt haben, wir investieren zehn Millionen Euro, um zu lernen an Modellprojekten, die wir mit den einzelnen Ländern finanzieren, wie können wir dieses Raster am Anfang, nämlich die kritischen Familien finden und den Kindern, die in Not geraten, früh helfen, wie können wir das aufbauen? Das ist immer richtig investiertes Geld.

Schulz: Für den Krippenausbau hat der Bund ja tief in die Tasche gegriffen und vier Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Heißt das, der Krippenausbau ist wichtiger als der Kinderschutz?

Ursula von der Leyen: Nein, im Gegenteil. Auch der Ausbau der Krippen ist ein ganz wichtiges Teil im Kinderschutz. Ich sage Ihnen ein Beispiel: Die Kinder, die von Anfang an mit begleitet werden und die in Familien sind, wo man sich nicht kümmert, die profitieren in hohem Maße, wenn sie von Anfang an gleich früh in einer Krippe sind, wo jeden Tag sich jemand kümmert, wo sie nicht vor dem Fernseher geparkt werden, wo dafür gesorgt wird, dass sie vernünftig gefördert werden, dass sie sprechen lernen, dass sie vernünftig ernährt werden. Das sind wichtige Bausteine mit dem Kinderschutz. Und man darf nicht vergessen, dass jeder auf seiner Seite, der Bund, die Länder und die Kommunen, ihre Aufgaben machen müssen und dementsprechend auch investieren. Das eben genannte Nationale Zentrum für frühe Hilfen haben wir jetzt im April diesen Jahres eingerichtet, um genau aus den Fehlern zu lernen und das wieder an die Kommunen zu verbreiten, auch aus der internationalen Erfahrung zu lernen. Das ist frisches Geld, das der Bund mit diesen zehn Millionen Euro investiert, aber es ist nur ein kleiner Baustein unter den vielen, die ich eben genannt habe, wo alle zusammenstehen müssen.

Schulz: Frau von der Leyen, lassen Sie uns noch auf einen anderen Streitpunkt blicken. Ich habe ein Zitat mit ins Studio gebracht: "Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung". Was ist daran falsch?

Ursula von der Leyen: Daran ist überhaupt nichts falsch. Wenn Sie, was ich schon ahne, jetzt darauf anspielen, auf den Streit, der immer geht, soll man Kinderrechte noch mal stärker in der Verfassung verankern, ja oder nein, dann kann ich Ihnen von gestern Nachmittag berichten, dass wir darüber gesprochen haben, uns aber einig waren, das ist eine juristische Auseinandersetzung, was gehört wie ins Grundgesetz oder nicht. Wir wollen jetzt nicht diesen Geist der Gemeinsamkeit, dass alle 16 Ministerpräsidenten da sind mit der Kanzlerin und mit den Fachministern zusammen das Thema anzugehen, darüber verstreichen lassen, dass wir uns juristisch auseinandersetzen über ein Thema, wo Staatsrechtler sich stundenlang streiten können, sondern wir wollen konkret jetzt handeln.

Schulz:Vielen Dank Ihnen!

Ursula vonder Leyen: Danke Ihnen.

Das Interview führte Sandra Schulz. Es ist am 20. Dezember 2007 erschienen.
Mit freundlicher Genehmigung des Deutschlandradio.