Ursula von der Leyen im Interview mit dem Hamburger Abendblatt

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen im Interview mit dem Hamburger Abendblatt zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und zum geplanten Frühwarnsystem.

Hamburger Abendblatt: Wie regeln Sie eigentlich Ihre Kinderbetreuung?

Ursula von der Leyen: Wir haben seit 17 Jahren eine Tagesmutter, inzwischen die zweite, weil die erste in Pension gegangen ist. Im Augenblick ist es so, daß alle sieben Kinder vormittags in der Schule sind. Nur nachmittags kommt die Tagesmutter.

Hamburger Abendblatt: Bei ihrem Arbeitspensum haben Sie ja Schwierigkeiten, selbst halbe Tage bei Ihren Kindern zu sein. Haben Sie manchmal das Gefühl, eine Rabenmutter zu sein?

Ursula von der Leyen: Ich weiß gar nicht mehr, wen ich in Deutschland mehr verteidigen soll: Die Mütter, die sich entschieden haben, ganz bei ihren Kindern zu Hause zu bleiben oder die Mütter, die weiter erwerbstätig sein wollen. Ich bin Familienministerin für beide. Und wir brauchen auch beide. Es ist absurd, daß wir beiden ein schlechtes Gewissen machen. Denn beide Mütter haben sich für Kinder entschieden. Und das ist das Entscheidende. Im Übrigen kenne ich beide Lebensentwürfe. Ich war zusammen gerechnet sieben Jahre zu Hause, habe Teilzeit und Vollzeit gearbeitet. Alles hat Vor- und Nachteile.

Hamburger Abendblatt: Das bedeutet aber auch, daß für beide Mütter etwas getan werden sollte.Täuscht der Eindruck oder geht es derzeit eher um die Mütter, die neben dem Kind weiter arbeiten wollen?

Ursula von der Leyen: Wenn Sie auf die Steuerbeschlüsse von Genshagen anspielen...

Hamburger Abendblatt: ...wo bessere Abschreibungsmöglichkeiten für die Kosten der häuslichen Kinderbetreuung beschlossen wurden...

Ursula von der Leyen: ...da wurde das Ziel formuliert, neue Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Ein Ziel ist, Tagespflege und Tagesmütter aus der Schwarzarbeit zu holen. Und neben diesen 460 Millionen Euro wurden weitere zwei Milliarden Euro bereitgestellt für Beschäftigungsförderung rund um den Haushalt, unabhängig davon ob die Mutter zu Hause bleibt oder erwerbstätig ist. Da sind also starke Akzente gesetzt worden: Familie schafft Wachstum und Arbeit. Es ist also absurd beide Lebensformen gegeneinander auszuspielen.

Hamburger Abendblatt: Sind Sie von der Diskussion überrollt worden? Wird das Thema zerredet?

Ursula von der Leyen: Der Rahmen von Genshagen sollte bleiben. Das ist wichtig. Denn der Beschluß fördert Arbeit und erleichtert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Davon abgesehen ist es aber gut, daß eine Grundsatzdiskussion darüber geführt wird, wie Familie künftig behandelt werden muß. Sie ist lebenswichtig für die Zukunft unserer Gesellschaft. Mit Kindern entscheidet sich die Frage nach Innovation, nach Arbeitsplätzen und Arbeitskräften und damit nach Wirtschaftswachstum und sozialem Zusammenhalt. Das ist bisher viel zu wenig thematisiert worden. Insofern ist die Diskussion sehr fruchtbar.

Hamburger Abendblatt: Hat Deutschland zu schlechte Rahmenbedingungen für Familien?

Ursula von der Leyen: Deutschland hinkt hinterher. Wenn wir über die Grenzen schauen,wird es Zeit, von den erfolgreicheren Ländern zu lernen. In den Ländern, wo Mütter und Väter selbstverständlicher und entspannter auch beide arbeiten können, werden mehr Kinder geboren und schneiden die Kinder bei Pisa-Schultests besser ab als bei uns. Und diese Länder haben eine geringere Arbeitslosigkeit, eine höhere Wirtschaftskraft und sie schaffen den Eltern im Arbeitsleben verlässliche Zeit für ihre Kinder. Das muß für uns doch ein Weckruf sein.
Wir müssen sehen, daß junge Menschen heute, wenn sie sich für das erste Kind entscheiden, dies aus dem Beruf heraus tun. Und deshalb stellen sie natürlich die Frage: Wie geht es weiter im Beruf? Das war vor 50 Jahren anders. Da wurde die Entscheidung aus einer Ehe heraus gefällt, in der die Frau meist schon nicht berufstätig war. Das hat sich einfach verändert.

Hamburger Abendblatt: Ist Deutschland ein kinderfeindliches Land?

Ursula von der Leyen: Ich habe lange im Ausland gelebt. Dort ist die grundsätzliche Freude an Kindern im Alltag, für die Anerkennung der Menschen, die Kinder erziehen, ganz unabhängig davon, wie und ob sie arbeiten, viel größer. Man hat Freude am Lärm und dem Dreck, den Kinder machen. Einfach weil sie da sind. Je weniger Kinder wir in Deutschland sehen, desto weniger sind wir an die Glücksmomente gewöhnt, die sie auslösen. Und desto skeptischer sind wir bei der Frage, ob sie eher eine Freude oder eine Last im Alltag sind. Dieser Teufelskreis muß durchbrochen werden.

Hamburger Abendblatt: Wie familienfreundlich ist denn die deutsche Wirtschaft?

Ursula von der Leyen: Familienfreundlichkeit rechnet sich. Das müssen Unternehmer verstehen. Wir werden in absehbarer Zeit einen Fachkräftemangel haben. Das heißt, es wird ein Wettbewerb um die jungen Menschen einsetzen. Die Firmen, die eine familienfreundliche Personalpolitik betreiben, werden die jungen Erziehenden anziehen, halten und binden. Das wird die Kreativität fördern. Es sind Menschen, die durch ihren Erziehungs- und Beziehungsalltag Managementqualitäten entwickeln. Investition in diesen Bereich bringt Rendite. Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, daß Menschen über sich hinauswachsen, wenn die Balance zwischen Familie und Beruf stimmt. Mitarbeiterzufriedenheit kann ungeahnte Kräfte wecken. Dieses Thema in den Führungsetagen zu etablieren, ist mir ein großes Anliegen.

Hamburger Abendblatt: Ein anderes großes Thema der letzten Monate waren vernachlässigte Kinder. Hat sich das Problem verschärft oder ist nur die Aufmerksamkeit der Bevölkerung dafür gestiegen?

Ursula von der Leyen: Gesicherte Zahlen zu den Fällen von Kindesvernachlässigung gibt es nicht. Aber die Aufmerksamkeit der Bevölkerung sowie die Berichterstattung der Medien hat zugenommen. Das heißt aber nicht, daß es nicht ein bedrückendes Thema wäre. Jeder Fall von Kindesvernachlässigung ist ein Drama.

Hamburger Abendblatt: Was muß dagegen getan werden?

Ursula von der Leyen: Man muß das Thema sehr ernst nehmen. Weil wir wissen, daß entscheidende Weichen für die Entwicklung des Kindes in den letzten Wochen der Schwangerschaft und in den ersten Monaten des Kindes gestellt werden, müssen wir bei den Familien, die mit der Erziehung eines Kindes überfordert sind, gezielter hinschauen und gezielter Hilfe in die Familien bringen. Wir müssen mehr vorbeugen. und verhindern, dass die Probleme erst im Kindergarten oder in der Schule auffallen. Das ist zu lange.
Wir entwickeln gerade zusammen mit Geburtshelfern, Hebammen, Geburtskliniken und Familienhelfern ein Frühwarnsystem, um bei den Routineuntersuchungen aufmerksamer zu sein. Und zwar bei Schwangerschaften, bei denen Zeichen von Streß vorhanden sind,  sei es durch Armut, Alkohol, Gewalt in der Familie oder einfach durch schwere psychische Überforderung.
In solchen Fällen müssen solche Familien ganz eng betreut werden. Wichtig ist, wie die ersten Wochen mit dem Neugeborenen verlaufen, ob die Eltern die gewaltige Umstellung bewältigen oder sie Hilfe brauchen.

Hamburger Abendblatt: Wann wird dieses Frühwarnsystem starten?

Ursula von der Leyen: Wir werden etwa Mitte des Jahres mit den ersten Modellprojekten beginnen, von denen sich einige auf den norddeutschen Raum konzentrieren werden.

Hamburger Abendblatt: Hamburg hat gerade eine Bundesratsinitiative gestartet, um die Kinderuntersuchungen von der Geburt bis kurz vor dem Grundschulalter zur Pflicht zu machen. Halten Sie das für den richtigen Weg?

Ursula von der Leyen: Eine solche Pflicht allein löst das Problem nicht. Wenn jemand sein Kind nicht zur Untersuchung bringt, bedeutet das nicht zwangsläufig, daß das Kind mißhandelt wird. Und: Psychiater berichten immer wieder, daß Eltern, die ihre Kinder mißhandeln, leider Techniken entwickeln, um Mißhandlungen zu vertuschen. Die Kinder werden 14 Tage vorher einfach nicht mehr geschlagen. Dann sind die blauen Flecken weg und am Tag danach gehen die Schläge wieder los. Zwischen zwei Untersuchungen liegen manchmal ein bis zwei Jahre. Wir würden uns also in einer falschen Sicherheit wiegen, würden wir uns nur auf die Pflicht zur Untersuchung verlassen. Es muß schon ein dichtes Netz aus Verantwortung geben, das viel früher im Leben eines Kindes trägt.

Das Interview ist am 26. Januar 06 im Hamburger Abendblatt erschienen. Interview: Günther Hörbst, Andreas Thewalt