Ursula von der Leyen im Interview mit dem Focus über das geplante Frühwarnsystem.
Focus: Wie definieren Sie Unterschicht?
Ursula von der Leyen: Das Wort ist zu statisch. Für mich ist Familie dynamisch, das sieht man auch daran, dass ein Drittel der Familien innerhalb von zwei Jahren den Sprung aus der Armut wieder schafft. Die Debatte geht doch um die Familien, die oft seit Generationen von Sozialleistungen leben, in denen Bildung nichts wert ist und die isoliert leben. Für diese Gruppe ist es schwierig, je wieder aus der Armut herauszukommen.
Focus: SPD-Chef Kurt Beck sagt, viele dieser Menschen hätten sich eingerichtet in ihrer Welt. Sollte ihnen das Geld gekürzt werden, um sie "aufzuwecken"?
Ursula von der Leyen: Geld ist nicht der entscheidende Faktor. Wichtiger ist, sich um die Kinder zu kümmern, die hier aufwachsen. Sie haben kaum Anregungen oder Motivation, in diesen Familien gibt es zwei bis dreimal häufiger innerfamiliäre Gewalt. Sie werden geboren und haben schon keine Chancen mehr, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Für diese Kinder muss der Staat ein Wächteramt übernehmen und sie von der Stunde ihrer Geburt an konsequent und lückenlos begleiten.
Focus: Also eine "Rund-um-Kümmerstaat", der den Eltern alle Verantwortung abnimmt?
Ursula von der Leyen: Diese Eltern haben massive eigene Probleme. Sie sind kaum beziehungsfähig. Da können wir doch nicht die Kinder wie Teile eines Therapieversuches behandeln. Wir richten mit den Ländern ein Frühwarnsystem ein. Es ist für Kinder gedacht, deren Eltern durch ein Neugeborenes völlig überfordert sind. Drogensucht, Alkoholkonsum, Gewalt und Verwahrlosung bestimmen ihren Alltag. Es ist wichtig, diese Kinder schon während der Schwangerschaft und bei der Geburt zu finden. Die Kinder brauchen Förderung, Bezugspersonen im Alltag und andere Kinder - sie müssen in speziellen Kinderkrippen und Kindergärten untergebracht werden. Die Institutionen für das Frühwarnsystem sind da. Sie müssen in Zukunft aber so konsequent zusammenarbeiten, dass zu jedem Zeitpunkt jemand für das Kind verantwortlich ist.
Focus: Viele der chancenlosen Kinder leben in aus Haushalten mit Migrationshintergrund...
Ursula von der Leyen: In dieser Gruppe hat sich die Armutsquote von Kindern seit 1990 verdreifacht, wogegen sie in deutschen Familien gleich geblieben ist. Wir müssen eine engere Vernetzung von Kinderkrippen und Kindergärten mit den Elternhäusern erreichen. Voraussetzung ist, dass man Eltern aktiv anspricht. Bisher war das Netz der Kinderbetreuung eher eine Komm-Struktur. Die aufsuchende Familienarbeit wird wichtiger. Wir brauchen Mitarbeiter mit Migrationshintergrund ebenso wie Bildungspaten aus der Migrationsgemeinde, die den Eltern klar machen, dass Ausbildung und Schulbesuch für Kinde heute lebensnotwenig ist.
Focus: Oft ist es dann schon zu spät, weil die Kinder nicht deutsch sprechen.
Ursula von der Leyen: Deshalb plädieren wir für einen verpflichtenden Sprachtest für jedes Kind im vierten Lebensjahr. Sprache sagt viel aus über die Entwicklung eines Kindes, seine Kommunikations- und Beziehungsmöglichkeiten. Und das gilt nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund. Kinder, die nicht den Entwicklungsstand von Vierjährigen haben, müssen verpflichtend Förderprogramme besuchen, die nicht nur Sprache, sondern auch alle anderen Fähigkeiten vermitteln, sich in einer Gruppe oder der Schule zurecht zu finden. Wer sich verweigert, dem drohen Konsequenzen.
Focus: Es gibt also immer mehr teure Angebote für diese Familien?
Ursula von der Leyen: Für die Kinder! Die vielfältigen Forderungen, Geld zu kürzen hilft den Kindern in ihrem kargen Alltag keinen Deut weiter. Zu glauben, dass man durch Verschärfung der materiellen Knappheit Probleme beseitigt, ist eine Illusion. Es gibt Eltern, die sind völlig unfähig dazuzulernen. Und dort müssen die Kinder geschützt werden. Wenn wir hier wegen der Kinder die Sozialleistungen weiter beschneiden, bekommen das die Kinder bitter zu spüren.
Focus: Was halten Sie von dem Vorschlag, einen Teil des Kindergeldes einzubehalten, wenn die Vorsorgeuntersuchungen nicht regelmäßig wahrgenommen werden?
Urusla von der Leyen: Wer diesen Vorschlag macht, hat das kleine Einmaleins unseres Staates nicht verstanden. Kindergeld wird an die Eltern bezahlt, die arbeiten. Wer nicht arbeitet - und das sind unsere typischen Problemfälle - erhält Sozialgeld. Es wäre doch grundverkehrt, den arbeitenden Eltern das Kindergeld zu kürzen, während die, die von der Sozialhilfe oder Hartz IV leben, weiterhin ihr Geld für das Kind bekommen.
Focus: Wäre den Kindern geholfen, wenn die Eltern sie billig im Ganztagskindergarten unterbringen?
Urusula von de Leyen: Kinder aus sozial hochschwierigen Verhältnissen, die meistens noch einen Migrationshintergrund haben, zahlen heute schon keine Gebühren. Trotzdem kommen zwanzig Prozent dieser Kinder nicht. Entweder weil die Eltern kein Interesse mehr an einer gelingenden Erziehung ihres Kindes haben oder weil sie bewusst das Kind in ihrem Kulturkreis lassen wollen. Es gibt die Fälle - und das ist die größere Gruppe - wo die Eltern morgens es nicht schaffen aufzustehen, das Kind anzuziehen, das Brotpäckchen zu packen und das Kind in den Kindergarten zu bringen...
Focus: Der nordrhein-westfälische Familienminister Armin Laschet (CDU) wirft Ihnen vor, zu langsam auf Missstände zu reagieren.
Ursula von der Leyen: Was Herr Laschet fordert, geschieht bereits seit Jahresbeginn. Bund und Länder schließen mit neuen Initiativen Lücken im Netz der Hilfe, wir prüfen erfolgreiche Ansätze für den flächendeckenden Einsatz. Das Ministerium von Herrn Laschet ist an allem beteiligt. Ich werde für Ende November zu einer vierten Jugendministerkonferenz einladen, um eine Zwischenbilanz zu ziehen und weitere Schritte zu verabreden.
Das Interview ist am 23.10.2006 im Focus erschienen. Das Interview führten Nicola Brüning und Henning Krumrey.