Namensbeitrag Lisa Paus Rassismus ist Teil unserer Gesellschaft - aber das Bewusstsein dafür wächst

Lisa Paus
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Lisa Paus© Laurence Chaperon

Vor drei Jahren erschoss ein Attentäter in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven. Was ist seither passiert - und was bleibt zu tun?

Am Abend des 19. Februar 2020 starben in Hanau neun Menschen, getötet von einem rechtsextremistischen Täter mit rassistischer Ideologie. Drei Jahre nach dieser schrecklichen Tat stellen sich alte und neue Fragen.

Haben wir Wort gehalten und unterstützen heute Menschen, die unter Rassismus und Diskriminierung leiden, stärker? Fühlen diese sich inzwischen sicherer in Deutschland? Sind sie in unserer Gesellschaft häufiger in Positionen zu finden, in denen sie unser Zusammenleben mitgestalten können? Haben wir bessere Gesetze? Haben sich Sensibilität und Bewusstsein der Menschen im täglichen Miteinander verändert?

Wie also steht es tatsächlich um uns als Gesellschaft, die für sich beansprucht, Rassismus zu bekämpfen?

Die Hinterbliebenen der Toten von Hanau müssen mit dem Verlust geliebter Menschen leben. Wir schulden ihnen ehrliche Antworten, ebenso wie allen potentiell und tatsächlich Betroffenen von Extremismus und Menschenfeindlichkeit.

Eine Selbstbefragung sind wir uns aber auch als Gesellschaft schuldig. Denn unsere Demokratie muss den Anspruch haben - und sich daran messen lassen - dass kein Mensch angegriffen wird oder Angst um sein Leben haben muss, nur weil jemand ihn nicht als gleichwertig anerkennt. Menschen vor Angriffen zu schützen, jedwede Ideologie der Ungleichwertigkeit zu bekämpfen und Diskriminierungen auch rechtlich entgegenzutreten, ist Wesenskern unseres Selbstverständnisses und Grundlage unserer Verfassung.

Auch, wenn es manche noch immer nicht anerkennen wollen: Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft, in einem Land, in dem in einem Drittel aller Familien mindestens ein Elternteil nicht als deutsche Staatsbürgerin oder deutscher Staatsbürger geboren wurde. 39 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. In Städten wie Augsburg oder Frankfurt am Main sind es mehr als 50 Prozent.

Bei der Befragung für den Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung im vergangenen Jahr haben 22 Prozent aller Menschen in Deutschland angeben, bereits mindestens einmal rassistisch angefeindet worden zu sein. Nur ein Drittel der Bevölkerung gibt an, noch nie mit Rassismus in Berührung gekommen zu sein.

Rassismus ist also für viele Menschen Alltag in Deutschland, auch wenn sie einen deutschen Pass haben. Sie bekommen in der Schule schlechtere Noten oder finden schwerer eine Wohnung. Sie werden beleidigt, angespuckt, attackiert, geschlagen. Das trifft die, die eingewandert oder geflüchtet sind, aber ebenso Menschen, die wie schon ihre Eltern und Großeltern hier geboren wurden: Schwarze Menschen, Sintize und Sinti, Romnja und Roma, Jüdinnen und Juden, Musliminnen und Muslime - aber auch Menschen, die wegen ihrer asiatischen oder slawischen Herkunft diskriminiert werden.

Aber auch der gesellschaftliche Seismograf schlägt schneller aus als vor dem Anschlag von Hanau, wie der Rassismusmonitor belegt: Inzwischen sind knapp 70 Prozent der Menschen in Deutschland bereit, Rassismus entgegenzutreten und sich zu engagieren, vor allem die Jüngeren. Das Bewusstsein, dass unsere Gesellschaft hier ein massives Problem hat, wächst also, ebenso wie die Erkenntnis, dass wir etwas tun müssen. Das gibt Hoffnung.

Wie können wir nun rassistische Vorstellungen in den Köpfen, in den Strukturen und im Alltag bekämpfen? Zunächst müssen wir rhetorischen Grenzüberschreitungen entgegentreten. Wenn Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine "Sozialtourismus" vorgeworfen wird und Kinder und Jugendliche mit arabischem Migrationshintergrund als "kleine Paschas" diffamiert werden, darf das nicht unwidersprochen bleiben.

Ein echter Lackmustest für die Bereitschaft, etwas zu ändern, wird die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Für die Bundesregierung ist klar: Der Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit muss für Migrantinnen und Migranten, die auf Dauer in Deutschland leben, einfacher werden. Das ist nicht nur Standard in modernen Einwanderungsländern, sondern auch eine Frage des Respekts, erst recht vor der Lebensleistung der ersten Generation mit Einwanderungsgeschichte.

Wichtig ist auch das Demokratiefördergesetz, mit dem wir ein besseres Fundament schaffen, um gesellschaftliche Vielfalt zu gestalten, Diversität anzuerkennen, Extremismus vorzubeugen und einen respektvollen Umgang aller Menschen zu fördern.

Wir müssen aber auch den strukturellen Rassismus in den Blick nehmen - die rechtsextremen Chatgruppen in Polizei und Justiz haben hier ein erschreckendes Schlaglicht geworfen. Das gilt für alle Lebensbereiche: Erst, wenn in Fragen von Gesundheit, Wohnen oder Bildung alle Menschen gleichwertig behandelt werden, erreichen wir eine umfassende gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe. Darum arbeitet die Bundesregierung an der Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und einem neuen Partizipationsgesetz.

Alle diese Maßnahmen resultieren aus der Verantwortung, die wir spätestens seit dem Terroranschlag von Hanau spüren. Die Namen der Opfer zu nennen, ist ein kleines Zeichen, dass wir diese Verantwortung annehmen. Sie sind unvergessen: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.