BILD am Sonntag Lisa Paus: Kinderarmut zu bekämpfen ist meine wichtigste Aufgabe

Bundesfamilienministerin Lisa Paus
Bundesfamilienministerin Lisa Paus© Bundesregierung/Steffen Kugler

BILD am SONNTAG: Frau Paus, wie hart trifft die Energiekrise die Familien in Deutschland?

Lisa Paus: Sehr hart. Wer Kinder großzieht, bekommt die gestiegenen Preise für Energie, Lebensmittel, Benzin doppelt und dreifach zu spüren. Der Bundesregierung ist das sehr bewusst. Deshalb hat sich die Ampel auf inzwischen drei Entlastungspakete und einen Abwehrschirm mit 200 Milliarden Euro geeinigt. Sicher ist: Wenn die richtig dicken Rechnungen für Strom und Heizung kommen, werden die Hilfen da sein.

BILD am SONNTAG: Studien zeigen, dass arme Familien zwar besonders hart von der Krise getroffen werden, aber weniger von den Entlastungspaketen profitieren als Wohlhabende. Halten Sie das für gerecht?

Lisa Paus: Das Entscheidende ist, dass wir jetzt schnell Familien in finanzieller Bedrängnis unterstützen. Es geht ja inzwischen längst darum, ob man es sich leisten kann, den leeren Kühlschrank wieder aufzufüllen. Da hilft besonders die Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderzuschlages sowie die Ausweitung des Wohngeldes. Damit kompensieren wir die höheren Lebensmittelpreise und gleichen die höheren Energiekosten zumindest teilweise aus.

BILD am SONNTAG: Was bedeutet es für ein Kind, arm zu sein?

Lisa Paus: Ausgrenzung. Das erleben Kinder oft bereits in der Kita. Da löst schon die Einladung zum Kindergeburtstag zu Hause Stress aus, weil das Geld zu knapp für ein Geschenk ist. Die Erfahrung, ausgeschlossen zu sein, zieht sich dann weiter durch die ganze Jugend. Wenn Schulfreundinnen und Schulfreunde ins Kino gehen, sitzen Kinder aus armen Familien zu Hause.

BILD am SONNTAG: Kurz nach Ihrem Amtsantritt stieg die Kinderarmut in Deutschland auf den Rekordwert von 20 Prozent.

Lisa Paus: Dass Kinder in so einem reichen Land wie Deutschland überhaupt in Armut aufwachsen müssen, macht mich wütend. Es ist mir daher nicht nur persönlich eine Herzensangelegenheit, die Kinderarmut zu bekämpfen. Auch als Ministerin sehe ich das als meine wichtigste Aufgabe an.

BILD am SONNTAG: Was können Sie konkret ausrichten?

Lisa Paus: Das zentrale Projekt der Bundesregierung muss hier die Kindergrundsicherung sein. Sie wird einen Garantiebetrag für alle Kinder umfassen und zusätzlich höhere Leistungen für Kinder, deren Eltern wenig oder kein Einkommen haben. Sie wird so gestaltet werden, dass sie nahezu automatisch ausgezahlt wird, ohne dass eine Familie unzählige Formulare ausfüllen muss. Mein Ziel: In Zukunft wird ein digitaler Antrag genügen. So bekommen alle Kinder und ihre Eltern endlich das, was ihnen zusteht.

BILD am SONNTAG: Aber das bedeutet doch nicht automatisch mehr Geld?

Lisa Paus: Doch, für arme Familien definitiv. Ein Beispiel: Für Eltern, die für die Grundsicherung zu viel verdienen, aber zu wenig, um ihre Familie gut zu versorgen, gibt es in Deutschland den Kinderzuschlag. Das sind 250 Euro im Monat. Der Zuschlag ist aber so wenig bekannt, dass nur rund ein Drittel der anspruchsberechtigten Eltern ihn beantragen. Das bedeutet, 70 Prozent verzichten ungewollt auf das ihnen zustehende Geld. Mit der Kindergrundsicherung bekommen diese Familien die 250 Euro automatisch ausgezahlt. Allein das ist ein Riesen-Fortschritt.

BILD am SONNTAG: Die Kinder von reichen Eltern fördert der Staat stärker als von Normalverdienern. Finden Sie das gut?

Lisa Paus: Ich empfinde es als unsozial, dass ich als Ministerin für meinen Sohn mehr Geld vom Staat bekomme als zum Beispiel eine Sekretärin für ihr Kind. Familien erhalten heute entweder Kindergeld oder den Kinderfreibetrag, mit dem sie weniger Steuern zahlen müssen. Bei der Einkommensteuer prüft das Finanzamt, was für die Eltern günstiger ist. Diejenigen, die ohnehin mehr verdienen, stehen dann mit dem Kinderfreibetrag noch besser da. Für etwa 80 Prozent der Eltern mit geringem und normalem Einkommen gibt es das Kindergeld. Ab Januar 2023 sind das 237 Euro pro Monat. Aber für die wohlhabendsten 20 Prozent der Eltern gibt der Staat pro Monat bis zu 332 Euro über die Steuerentlastung durch den Kinderfreibetrag zurück.

BILD am SONNTAG: Das sind fast 100 Euro mehr.

Lisa Paus: Deshalb will ich das ändern. Auch der Kinderfreibetrag muss in einer zweiten Stufe in die Kindergrundsicherung integriert werden.

BILD am SONNTAG: Wann ist das so weit?

Lisa Paus: Die Eckpunkte für die Kindergrundsicherung will ich im kommenden Januar vorlegen, bis Ende 2023 soll dann der Gesetzentwurf stehen. Die ersten Auszahlungen der Kindergrundsicherung, so der Plan, wird es dann 2025 geben.

BILD am SONNTAG: Der dritte Corona-Winter steht bevor. Dazu kommt die Energiekrise. Werden Kinder und Jugendliche wieder den größten Preis zahlen müssen, weil alles, was für sie da ist, geschlossen wird?

Lisa Paus: Auf keinen Fall dürfen in diesem Herbst und Winter Kitas und Schulen, Turnhallen und Jugendclubs dichtgemacht werden. Nicht wegen Corona und auch nicht wegen Energieeinsparungen. Die Schließungen in der Corona-Krise hatten verheerende Folgen: Nicht mehr jeder zehnte, sondern jeder vierte junge Mensch leidet heute unter Depressionen. Viele Kinder sind während der Pandemie nicht nur dicker geworden, auch die Zahl der Essstörungen ist gestiegen. Einen dritten Winter, in dem die Kinder und Jugendlichen zu Hause rumsitzen müssen, dürfen wir ihnen nicht zumuten. Zu Recht fühlt sich die Jugend zu wenig gehört und gesehen.

BILD am SONNTAG: Mit welchen Folgen?

Lisa Paus: Eine ganze Generation hat die Erfahrung gemacht, dass ihre Interessen zu wenig geachtet wurden und sie die größten Opfer bringen mussten. Das trägt nicht dazu bei, sie für unsere Demokratie zu begeistern. Der Verdruss ist spürbar. Da müssen wir gegensteuern.