Kristina Schröder über Pflegezeit und Regulierung im Interview mit dem Handelsblatt

Kristina Schröder und Martin Kannegiesser diskutieren im Interview mit dem Handelsblatt über die Familienpflegezeit und die Folgen für die deutschen Betriebe.

Handelsblatt: Frau Schröder, Sie wollen Arbeitnehmern per Gesetz ermöglichen, ihre Arbeitzeit für die Pflege eines Angehörigen für zwei Jahre bei Fortzahlung von 75 Prozent des Gehalts zu halbieren. Den Lohnzuschuss sollen sie später nacharbeiten. Warum?

Kristina Schröder: Die Betriebe stehen schon heute vor der Herausforderung, verdienten Mitarbeitern, die Angehörige pflegen, zu helfen. Der Bedarf wird weiter steigen - niemand kann sich dem entziehen. 

Martin Kannegiesser: Dass die Pflege wegen der demografischen Entwicklung eine enorme Herausforderung ist und auch vor Unternehmen nicht halt macht, ist eine Binsenweisheit. Die Betriebe müssen darauf genauso eingehen, wie wir es bei Kindern tun - bis hin zu Betriebskindergärten. Von denen glaubten wir mal, sie gehörten in eine andere Zeit. Das ist vorbei. Natürlich müssen die Betriebe auch auf das Thema Pflege eine Antwort finden. Die Frage ist, in welchem Umfang - und brauchen wir dafür ein Gesetz? 

Kristina Schröder: Gesetze bewirken Verhaltensänderungen. Auch Väter konnten früher schon Elternzeit nehmen, getan haben es aber nur 3,5 Prozent. Jetzt, nach Einführung der Vätermonate, tut es jeder fünfte. Dadurch hat sich auch die Arbeitskultur in Unternehmen geändert. Ohne Gesetz wären wir nie so weit gekommen.

Martin Kannegiesser: Ein Teil der Gesetze ist auch einem gewissen politischen Aktionismus geschuldet. Das führt zu einem Overkill an Regulierung, der noch mehr Hürden und Widerstände in den Unternehmen schafft. Im Kern geht es doch um Arbeitszeitflexibilität. Die haben wir längst: So gibt es nicht nur in der Metallindustrie Langzeitkonten, auf denen Mitarbeiter Überstunden ansparen, die sie später auch für die Pflege nutzen können. Außerdem gibt es den gesetzlichen Anspruch auf Teilzeit.

Kristina Schröder: Das stimmt. Ein Problem ist aber, dass der Arbeitnehmer kein Recht hat, Teilzeit später wieder auf Vollzeit aufzustocken. Das macht es Frauen oft unmöglich, die Arbeit für die Pflege eines Angehörigen zeitweise zu reduzieren.

Martin Kannegiesser: Das Aufstocken ist in der Praxis auch nicht so einfach. 

Kristina Schröder: Das behaupte ich auch nicht. Aber wen trifft denn das Pflegeproblem? Vor allem Frauen in den 50ern. Sie steigen heute in der Regel ganz aus, um etwa Eltern zu pflegen, und gehen damit oft den sicheren Weg in die Arbeitslosigkeit. Deswegen dockt mein Modell genau an den von Ihnen genannten Lebensarbeitszeitkonten an - und ergänzt es für diejenigen, die noch kein Arbeitszeitkonto angespart haben, indem sie die Zeit nacharbeiten können.  Kleinbetrieben helfen wir ohnehin, indem die KfW den Gehaltsvorschuss finanziert. 

Martin Kannegiesser: Dann kann der Arbeitnehmer doch direkt einen Kredit bei der KfW aufnehmen. Warum muss das über die Betriebe laufen?

Kristina Schröder: Weil wir wollen, dass von dem Gehaltsvorschuss auch Sozialabgaben gezahlt werden, um Altersarmut zu verhindern. Aber ich bin nicht blind für die Bedürfnisse der Wirtschaft: Deshalb werden Arbeitgeber bis 250 Mitarbeiter von jedem Risiko befreit. Größere Unternehmen können sich die Vorfinanzierung leisten. Den Ausfall bei Tod oder Berufsunfähigkeit muss der Arbeitnehmer selbst versichern. 

Handelsblatt: Wenn er aus anderen Gründen den Vorschuss nicht abarbeitet ...

Kristina Schröder: …dann muss er ihn komplett an den Betrieb zurückzahlen. 

Martin Kannegiesser: Das nützt ja nichts. Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen. Warum muss das denn alles so umständlich sein? 

Kristina Schröder: Wie wollen sie es einfacher machen? 

Martin Kannegiesser: Wenn bei uns einer kommt, und sagt, ich hab ein Problem, dann finden wir einen Weg, schon um wertvolle Mitarbeiter zu halten. Mit ihrem Gesetz laufen Sie Gefahr, dass Unternehmen Arbeitnehmer ausgrenzen, weil sie eine alte Mutter zu Hause haben und so zum Risiko werden. 

Kristina Schröder: Hätten Sie Recht, müssten Sie viele ausgrenzen: 64 Prozent der über-50-jährigen haben bereits pflegebedürftige Angehörige oder rechnen damit, dass dieser Fall binnen zehn Jahren eintritt. Zwei Drittel der Berufstätigen wollen das auch gern selbst machen. 

Martin Kannegiesser: Aber die wenigsten trauen sich das auch zu. Zudem wohnen ja viele oft weit weg von den Eltern.

Kristina Schröder: Nochmal. Zwei Drittel wollen das. Aber 79 Prozent sagen auch, dass sich Pflege und Beruf derzeit schwer vereinbaren lassen. Und genau da setzt die Familienpflegezeit doch an. Wir müssen denjenigen, die ihre Angehörigen pflegen wollen, dies auch ermöglichen.

Martin Kannegiesser: … wenn es zur Situation im Betrieb passt. Man kann nicht einfach eine Granate rein werfen, und sagen: nun seht zu, wie ihr klarkommt. Es ist vernünftiger, wenn die Wirtschaftsverbände hier bei ihren Mitgliedern für mehr Flexibilität werben - wie bei der Kinderbetreuung …

Kristina Schröder: ... wo sich auch erst durch Gesetze was geändert hat.

Martin Kannegiesser: Da hätten wir mit und ohne Gesetz etwas unternommen. Aber der ganze Kram kann nicht im Zentrum stehen, unsere Hauptaufgabe ist schließlich die Produktion von Waschmaschinen oder Autos. Und gerade weil uns Fachkräftemangel droht, können wir auf niemand verzichten.

Kristina Schröder: Sie zeichnen hier zwar ein schönes Bild, aber wenn das gängige Praxis wäre, gäbe es viel mehr Menschen, die Pflege und Job vereinen. Die meisten geben aber unter massiven Einkommenseinbußen den Job auf und den Unternehmen fehlen dann die Fachkräfte. 

Handelsblatt: Lassen sie uns generell über Teilzeit reden - Frau Schröder, Sie sind für die 30-Stunden-Woche.  

Kristina Schröder: Statistisch klafft noch viel zu oft eine Kluft zwischen Vollzeit und Halbtagsjobs. Den meisten jungen Eltern sind 40 Stunden aber zu viel, und 20 Stunden führen aufs Karriere-Abstellgleis. Ich wünsche mir hier die Beweglichkeit, weit mehr 30-Stunden-Jobs anzubieten.  

Martin Kannegiesser: Wir sind aber nicht allein auf der Welt. Ich kann mir vorstellen, dass sich mancher bei 25 oder 20 Stunden noch wohler fühlt. Aber wir müssen die Wirtschaft am Laufen halten. 

Kristina Schröder: Deshalb will ich ja kein Gesetz, nur mehr Flexibilität. 

Martin Kannegiesser: In meinem Betrieb, einem relativ kleinen Laden, haben wir heute schon 120 verschiedene Arbeitszeitmodelle. 

Kristina Schröder: Schön, dass das in der Metallbranche möglich ist. Auch in meinem Ministerium haben wir viele verschiedene Arbeitzeitmodelle. Aber etwa in Kanzleien oder Beratungsunternehmen herrscht eine Kultur, wonach der der Beste ist, der 70 Stunden arbeitet. Auch Führungsjobs müssen in 30 Stunden machbar sein.  

Martin Kannegiesser: Es ist richtig, dass Deutschland bei der Teilzeit hinterher hinkt. Wir dürfen aber keine falschen Erwartungen schaffen - der globale Wettbewerb wird immer härter.

Kristina Schröder: Eben. Und um darin zu bestehen, brauchen sie gute Fachkräfte. Deshalb müssen Sie denen entgegenkommen, die Familie und Job vereinbaren wollen. 

Martin Kannegiesser: Das ergibt sich doch von selbst. Auch ich habe zum Beispiel einen tollen Mitarbeiter mit drei Kindern aus Prag, dessen Frau dort eine gute Stelle hat. Es ist doch normal, dass wir uns Gedanken machen, wie wir das lösen, wenn wir den Mann halten wollen.  

Kristina Schröder: Ich fürchte doch, Sie verallgemeinern ihre positiven Erfahrungen … 

Martin Kannegiesser: … und Sie die negativen. Ich gebe zu, dass die Metallindustrie besonders flexibel sein muss, weil wir hauptsächlich Fachkräfte haben. 

Das Interview erschien am 31. Mai im Handelsblatt. Das Gespräch führten Barbara Gillmann und Peter Thelen.