FUNKE Mediengruppe: Frau Prien, haben Sie übermenschliche Kräfte? Warum trauen Sie sich als Doppelministerin für Bildung UND Familie zu, was Ihre Vorgängerinnen nicht mal zu zweit geschafft haben?
Karin Prien: Es wächst jetzt zusammen, was eigentlich schon immer zusammen gehört hat: Das, was Eltern und Kitas leisten - und das, was die Schulen leisten. Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft, in der Bildungserfolg nur dann gelingen kann, wenn man Vorschulzeit und Schulzeit zusammen denkt.
FUNKE Mediengruppe: Sie haben drei Söhne großgezogen und gleichzeitig im Beruf alles erreicht, was Sie wollten. Was können andere Frauen von Ihnen lernen?
Karin Prien: Mein Weg ging nur in einer funktionierenden Partnerschaft. Mein Mann und ich haben uns die Aufgaben grundsätzlich geteilt. Wir hatten dazu eine tolle Kita, die mir geholfen hat, zu lernen, wie man Kinder erzieht. Und wir hatten das Glück, viel Unterstützung zu bekommen: Au-Pair, Freunde und Familie. Man braucht zusätzliche Netzwerke, damit es gelingt.
FUNKE Mediengruppe: Möchten Sie ein Vorbild für andere Frauen sein?
Karin Prien: Ich würde gerne zeigen, dass es geht. Natürlich habe ich mich immer wieder einmal gefragt, ob ich als Mutter, als Rechtsanwältin, als Politikerin den Aufgaben gerecht geworden bin. Das ist vielleicht typisch für Frauen, aber auch Väter sollten sich das ab und zu fragen. In jedem Fall aber gilt: Man muss hartnäckig sein und einen festen Willen haben.
FUNKE Mediengruppe: Welche Note geben Sie Deutschland als Bildungsministerin?
Karin Prien: Deutschlands Schulen sind besser, als ihr Ruf! Es gibt große Unterschiede zwischen Ländern, Regionen und einzelnen Schulen. Insgesamt müssen alle Ebenen daran arbeiten, soziale Herkunft und Bildungserfolg zu entkoppeln. Aber ich würde doch sagen: Im Mittel eine Zwei bis Drei.
FUNKE Mediengruppe: Das Problem beginnt oft schon in der Kita: Viele Kinder sind nicht schulreif, wenn sie eingeschult werden. Wie wollen Sie das ändern?
Karin Prien: Das Problem beginnt nicht in der Kita, sondern im Elternhaus. Wir stellen fest, dass sich viele Eltern mit ihrer Erziehungsaufgabe schwer tun: Sie haben weniger Zeit als früher, viele widmen ihrem Handy mehr Aufmerksamkeit als ihren Kindern. Dabei ist es für die Entwicklung eines Kindes entscheidend, wie viel Augenkontakt, Ansprache und Aufmerksamkeit es erlebt, wie viel vorgelesen und gemeinsam gespielt wird.
FUNKE Mediengruppe: Das müssen dann die Kitas kompensieren. Doch auch da gelingt es nicht immer.
Karin Prien: Hier setzen wir an: Zunächst müssen wir Eltern stärker machen und dann in den Kitas gezielt fördern. Aber es gilt: Keine Förderung ohne Diagnostik: Wo hapert es noch beim Wortschatz, wo gibt es Defizite bei den Deutschkenntnissen? Dazu wollen wir bundesweit verpflichtende diagnostische Tests für alle Vierjährigen und verpflichtende Förderung für Kinder mit Nachholbedarf einführen.
FUNKE Mediengruppe: Gibt es dafür Geld vom Bund für die Länder?
Karin Prien: Es gibt hier einen erheblichen Finanzbedarf. Wir werden die Länder deshalb bei der Einführung der vorschulischen Tests und der Fördermaßnahmen unterstützen. Konkret wollen wir die Sprach-Kitas wieder aktivieren und zudem Kitas in sozialen Brennpunkten, rund um die Schulen im Startchancen-Programm, unterstützen. Dadurch investieren wir massiv in Kita-Bau und -Qualität.
FUNKE Mediengruppe: Wann soll es losgehen?
Karin Prien: Das muss anständig aufgesetzt sein, aber klar: So schnell wie möglich. Das ist der entscheidende Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
FUNKE Mediengruppe: Bei Kitas und im Ganztagsausbau der Grundschulen geht es um viel Geld. Woher soll das kommen?
Karin Prien: Wir werden in den kommenden Jahren Milliarden in die Kitas und Schulen investieren. Das Geld wird zu einem großen Teil aus dem Sondervermögen für die Infrastruktur kommen. Die Finanzierung ist also gesichert. Investitionen in Bildung sind Investitionen in den Wohlstand unseres Landes.
FUNKE Mediengruppe: Seit Jahren steigt auch die Zahl der Schulabbrüche - die Politik wirkt machtlos dagegen. Wie wollen Sie die Zahlen senken?
Karin Prien: Die steigenden Zahlen liegen auch an der gestiegenen Zahl der Geflüchteten, die erst spät in unser Bildungssystem kommen. Eine verbesserte Sprachstandserhebung und Sprachförderung sind deswegen ein entscheidender Faktor. Bildung schafft Integration! Wir müssen aber auch die Lehrinnen und Lehrer so ausbilden, dass sie mit anspruchsvolleren, schwierigeren Schülergruppen klarkommen. Und: Wir müssen die Angebote der Jugendhilfe enger mit den Schulen vernetzen. Immer mehr Kinder brauchen solche zusätzlichen Hilfen, weil sie aus Lebenslagen kommen, wo die Schule allein ihnen nicht umfassend helfen kann.
FUNKE Mediengruppe: Welches Ziel haben Sie sich gesetzt?
Karin Prien: Die Schulabbruchquote muss deutlich gesenkt werden. Bund und Länder müssen darüber sprechen, die Quote bis 2035 zu halbieren.
FUNKE Mediengruppe: Welche Rolle spielen TikTok, Instagram und YouTube? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen steigenden Bildschirmzeiten und sinkenden Leistungen?
Karin Prien: Die Studienlage wird zunehmend klarer: Zu lange Bildschirmzeiten führen zu schlechteren Lernleistungen, zu geringeren sozialen Kompetenzen und zu psychischen Problemen. Wir müssen uns damit sehr schnell und sehr intensiv beschäftigten.
FUNKE Mediengruppe: Gehören Handys in den Unterricht?
Karin Prien: Grundsätzlich ist das natürlich Sache der Länder, aber meine Haltung ist klar: In der Grundschule sollte die private Handynutzung verboten sein. An den weiterführenden Schulen sollten möglichst altersgerechte Regeln gefunden werden. Die Kultusminister der Länder beschäftigen sich zur Zeit intensiv damit. Der Bund wird den Prozess unterstützen, indem wir die wissenschaftliche Grundlage liefern. Aus meiner Erfahrung geht es darum die private Handynutzung weitgehend aber altersgerecht aus den Schulen zu verbannen. Die Erfahrung zeigt, dass die Schulen und die meisten Eltern dankbar sind, wenn es klare, einheitliche Vorgaben gibt.
FUNKE Mediengruppe: Sollte es bundesweit an Schulen und in Behörden auch einheitliche Regeln zum Gendern geben?
Karin Prien: Gerade in einem Einwanderungsland ist es wichtig, dass nach einheitlichen Regeln unterrichtet und geschrieben wird. Schulen und Behörden sollten sich an die Regeln des Rats der deutschen Rechtschreibung halten: Geschlechtersensible Sprache ist wichtig, aber Sonderzeichen wie Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich sollten in der Schule nicht gelehrt und nicht genutzt werden.
FUNKE Mediengruppe: Wie halten Sie es in Ihrem Ministerium?
Karin Prien: Mir sind diese Regeln wichtig. Ich werde sie einhalten.
FUNKE Mediengruppe: Die Koalition will das Elterngeld reformieren, damit sich Väter mehr als bislang beteiligen. Was haben Sie vor?
Karin Prien: Wir wollen, dass es attraktiv ist, in Deutschland Kinder zu bekommen. Da geht es nicht nur um Elterngeld, aber eben auch. Deshalb sollen die Mindest- und Höchstbeträge steigen.
FUNKE Mediengruppe: Bis jetzt gibt es maximal 1800 Euro Elterngeld. Wie viel müsste es sein?
Karin Prien: Es muss mehr werden, aber ich bitte um Verständnis, dass ich da jetzt keine Zahl sagen kann. Das werden wir in der Koalition beraten.
FUNKE Mediengruppe: Wenn das Elterngeld mit der Inflation schrittgehalten hätte, läge die Obergrenze bei 2480 Euro, die Untergrenze bei 413 Euro. Ist das realistisch?
Karin Prien: Das kommt darauf an, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Man darf sich da nichts vormachen: Alle sozialen Leistungen hängen letztlich von unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab.
FUNKE Mediengruppe: Im Koalitionsvertrag ist auch die Rede von einem Pflegegeld als Lohnersatz, analog zum Elterngeld, das Millionen Menschen entlasten würde. Kommt das?
Karin Prien: Wir haben als Gesellschaft ein riesengroßes Interesse daran, dass eine solche Leistung kommt. Es wird mit unserer demographischen Entwicklung nicht möglich sein, dass Pflege allein von Fachkräften geleistet wird. Deshalb müssen wir einen Einstieg in ein Pflegegeld als Lohnersatz für pflegende Angehörige schaffen.
FUNKE Mediengruppe: Wie könnte ein Einstieg aussehen?
Karin Prien: Da sind viele Varianten denkbar. Man kann über die Bezugsdauer reden, über die Höhe, über eine soziale Staffelung.
FUNKE Mediengruppe: Aber es kann auch sein, dass nichts von all dem kommt?
Karin Prien: Wir arbeiten mit Hochdruck daran, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessert. Aber auch wenn das klappt, wird man Schwerpunkte setzen müssen. Und oberste Priorität hat für mich mehr Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche.
FUNKE Mediengruppe: Laut Koalitionsvertrag soll es ein "übergreifendes digitales Portal" geben, auf dem Familien einfach erfahren, welche Leistungen ihnen zustehen. Ist das alles, was unter Schwarz-Rot von der Kindergrundsicherung übrig bleibt?
Karin Prien: Es wäre jedenfalls ein großer Fortschritt, wenn die, die den Anspruch haben, die Leistungen auch beantragen können, unbürokratisch und ohne Scham. Und wir müssen insgesamt in Deutschland noch besser darin werden, dass Eltern überhaupt wissen, was ihnen und ihren Kindern zusteht. Wer mit persönlichen Härten konfrontiert ist, kapituliert leicht vor der Bürokratie und dem Paragraphenwald. Da sind zentrale, auch mehrsprachige Informationen unglaublich wichtig.
FUNKE Mediengruppe: Die Ampel-Koalition wollte Kinder mit der Kindergrundsicherung aus der Armut holen. Geklappt hat das nicht, aber im neuen Koalitionsvertrag steht nicht mal mehr das Ziel. Warum nicht?
Karin Prien: Weil Konzepte wie die Kindergrundsicherung nicht das sind, was wir in erster Linie umsetzen müssen, um Kinder und Jugendliche zu fördern. Wir müssen mehr in die Systeme investieren und für mehr Chancengerechtigkeit sorgen. Das hat für mich Priorität.
FUNKE Mediengruppe: Sie kommen aus einer christlich-jüdischen Familie. Sehen Sie sich als erste jüdische Ministerin?
Karin Prien: 1969 wurde der Sozialdemokrat Gerhard Jahn Justizminister. Seine jüdische Mutter Lilli wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Und ich bin jetzt die erste Frau am Kabinettstisch, deren Familie zu erheblichen Teilen von den Nationalsozialisten verfolgt und ausgelöscht wurde. Das verbindet mich mit vielen Jüdinnen und Juden. Insofern bin ich eine jüdische Ministerin, auch wenn ich keiner jüdischen Gemeinde angehöre und auch nicht bekennend religiös bin. Von der jüdischen Community werde ich als jüdische Ministerin wahrgenommen.
FUNKE Mediengruppe: Wird das in Ihrer Arbeit sichtbar werden?
Karin Prien: Es ist mir wichtig, jüdisches Leben sichtbar zu machen. Es ist ein echtes Problem, wenn Jüdinnen und Juden primär als Opfer gesehen werden. Natürlich müssen wir über Antisemitismus reden - den es in vielen Ecken der Gesellschaft gibt. Aber ich werbe sehr dafür, dass wir uns mehr damit beschäftigen, wie sehr jüdische Kultur, jüdisches Denken, jüdische Kunst unsere deutsche Identität geprägt haben und noch heute prägen.
FUNKE Mediengruppe: Die AfD ist stark wie nie, rechtsextreme Gewalt nimmt zu. Macht Ihnen das gesellschaftliche Klima in Deutschland Angst?
Karin Prien: Ich sehe diese Entwicklung mit großer Sorge. Wir sind in Deutschland, aber auch weltweit in einer Konkurrenz mit autoritären Kräften, die uns weismachen wollen, dass sie die leistungsfähigeren Systeme haben. Viele Menschen haben gerade Zweifel an der Funktionalität unseres politischen Systems und fühlen sich zu wenig repräsentiert. Das aufzubrechen ist auch eine Aufgabe dieses Ministeriums.
FUNKE Mediengruppe: In einer aktuellen Umfrage stimmen vier von zehn Befragten der Forderung nach einem "Schlussstrich" unter die NS-Zeit zu, der Anteil ist zuletzt gestiegen. Wie hält man die Erinnerung wach?
Karin Prien: Das muss von Generation zu Generation neu beantwortet werden. Kinder und Jugendliche müssen sich wieder mehr mit der Frage beschäftigen, wie ist es eigentlich in meiner Familie gewesen? Und wir müssen das Element des forschenden Lernens stärker nutzen, weil es eben auch immer weniger Zeitzeugen gibt. Auch Begegnungen mit Nachfahren von Opfern können ein Weg sein - nicht nur aus Israel, sondern auch aus Mittel- oder Osteuropa. Es gibt viele Wege, aber es muss pädagogisch gut gemacht sein. Der Besuch eines KZs allein macht noch keine Antifaschisten und keine Demokraten.
FUNKE Mediengruppe: Sollte jeder Schüler, jede Schülerin im Laufe ihrer Schullaufbahn einmal ein KZ besucht haben?
Karin Prien: Das wäre gut. Erinnerungsorte und die Beschäftigung mit Einzelschicksalen vermitteln Empathie.
FUNKE Mediengruppe: Sollten Schulen dazu verpflichtet sein?
Karin Prien: Die Lehrpläne sollten das vorsehen. Diese Besuche müssen eingebettet sein in guten Unterricht, sonst bringt es wenig. Es geht um das Wissen, wie so etwas entstehen konnte. Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und der Judenmord haben ja nicht in Auschwitz begonnen. Es begann mit einer schleichenden Entrechtung, Entmenschlichung, Enteignung. Schule und Gesellschaft müssen Empathie vermitteln.
FUNKE Mediengruppe: Wie meinen Sie das?
Karin Prien: Wer nicht Mitgefühl für seinen Nächsten empfindet, der ist eher verführbar. Wir müssen Kindern beibringen, dass Menschenwürde etwas wahnsinnig Kostbares ist und immer wieder beschützt werden muss. Das können nicht nur Schulen und Eltern, sondern auch Vereine und Jugendarbeit. Jemand, der bei den Pfadfindern lernt, für andere einzustehen und Verantwortung zu übernehmen, der ist besser davor gefeit, solchen unmenschlichen Ideologien auf den Leim zu gehen.
FUNKE Mediengruppe: Der Verfassungsschutz stuft die AfD als ganze Partei als gesichert rechtsextrem ein. Muss es jetzt ein Verbotsverfahren geben?
Karin Prien: Ein Verbotsverfahren ist juristisch und praktisch eine hochkomplexe Angelegenheit. Was das richtige Vorgehen ist, maße ich mir nicht ohne Aktenstudium an. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.
FUNKE Mediengruppe: Wer muss jetzt aktiv werden?
Karin Prien: Die Voraussetzungen für ein Verbotsverfahren zu prüfen, ist Regierungsaufgabe. Die Streichung der Mittel kann auch die Regierung angehen - und das sollten wir auch. Ein Verbotsverfahren allein reicht aber nicht. Wir sind in einer Vertrauenskrise, ein Teil der Bevölkerung fühlt sich nicht repräsentiert in diesem System. Das müssen wir anpacken.
FUNKE Mediengruppe: Sind Sie eigentlich sauer, dass Friedrich Merz mehr Männer als Frauen ins Kabinett berufen hat?
Karin Prien: Er hat deutlich gemacht, dass Kompetenz von Frauen und Männern für ihn entscheidend ist. Ich selber komme aus einem Kabinett in Schleswig-Holstein, das paritätisch besetzt ist. Meine Erfahrung ist: Paritätische Teams arbeiten besser. Man sollte dieses Ziel weiter anstreben.
FUNKE Mediengruppe: Im Koalitionsausschuss als Machtzentrum dieser Regierung gibt es nur eine einzige Frau. Das ist bitter, oder?
Karin Prien: Das ist bitter.
FUNKE Mediengruppe: Sie gelten in der Union als Liberale. Hört Friedrich Merz auf Ihren Rat?
Karin Prien: Wir haben ein sehr gutes Verhältnis und sprechen sehr offen miteinander. Dieses Vertrauens- und Vertraulichkeitsverhältnis ist die Grundlage für gute Politik.