Ich habe einen Traum: Beitrag von Ursula von der Leyen in der Wochenzeitung "DIE ZEIT"

In der ZEIT-Serie "Ich habe einen Traum" berichten Prominente von ihren Träumen: von Wunschträumen, Tagträumen, Phantasien und Albträumen. Der Beitrag von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen ist am 10.5.2007 in der ZEIT erschienen.

von Ursula von der Leyen

Mein Mann und ich haben seit vielen Jahren eine ungestillte Sehnsucht nach mehr Zeit. Eine Zeit, die ich nicht für mich alleine brauche. Denn die habe ich, wenn ich im Ministeramt arbeite. Ich sehne mich nach Zeit für uns beide und Zeit mit meinen Kindern. Gemeinsam im sonnendurchfluteten Garten den Tag verbringen, jeder nach seiner Facon, ist mein ganzes Glück.

Das größte Opfer meines intensiven Lebens als Mutter und Politikerin ist die Muße. Von außen betrachtet mag dieses politische Leben hoch spannend und schillernd sein. Für mich, die ich mittendrin stehe, ist das Drängen der Probleme immer stärker als der Genuss des schon Erreichten. Im Kopf rattern all die kleinen Rädchen, die gerade nicht ineinander greifen wollen, dazu kommt der Druck, der intern herrscht. Dieses ewige Hetzen und innere Treiben in der Politik, noch was zu schaffen in dieser Legislaturperiode, auch noch diese Ernte in die Scheuer zu bringen... Ich glaube, erst wenn man eines Tages mal draußen ist, kann man sich zurücklehnen, verweilen und genießen.

Jeder Rückblick macht milde, das merke ich heute schon. Ich denke mir manchmal: Hätte ich doch von Anfang an Tagebuch geschrieben! Warum, frage ich mich, habe ich nach der Wahl 2005 nicht begonnen, die kleinen Niederlagen, Errungenschaften und Absurditäten des politischen Alltags aufzuschreiben? Das bereue ich sehr.

Eines Tages werden mein Mann und ich die Zeit haben, nach der ich mich heute sehne. Doch in meine Vorstellung schleicht sich die leise Sorge ein, ob wir nicht beide zu sehr darauf vertrauen, dass wir dann auch gesund und geistig voll da sein werden.

Meine Mutter starb vor fünf Jahren ganz plötzlich an Krebs. Wir hatten immer gedacht, sie würde meinen Vater überleben, weil sie stets die Stärkere, Gesündere, Lebensfrohere war. Für meinen Vater war der Tod meiner Mutter ein Schock; nichts in seinem Lebensentwurf hatte ihn darauf vorbereitet. Mir öffnete der plötzliche Tod die Augen. Seitdem wird mir immer stärker bewusst, dass man Lebenszeit nicht bedingungslos in die Zukunft verschieben kann. Man muss im heute leben.

Im Moment erlebe ich, wie sich die Krankheit Alzheimer ohne Vorankündigung eines Menschen bemächtigen kann; wie jemand beginnt, sich von seinen Mitmenschen abzulösen, sich leise verliert und alle, die ihn umgeben, nichts dagegen tun können. Man bewegt sich unaufhaltsam auseinander, obwohl man aneinander fest hält. Es ist ein mühevoller Lernprozess zwischen der zunächst irritierten Umgebung und dem Alzheimerkranken selbst.

Kaum entwachse ich langsam der Verantwortung für meine Kinder, prompt finde ich mich in einer tiefen Verpflichtung gegenüber der Elterngeneration. Viele Frauen und Männer um uns herum werden das in Zukunft ähnlich erleben. Umso mehr, je später wir Kinder bekommen. Unbestimmte Jahre liegen da vor uns. Keiner weiß, wie lange sie dauern und wie intensiv sie uns fordern werden.

Diese Erfahrung lässt mich auch demütig werden. Alzheimer hat noch viel mehr als Schlaganfall, Herzinfarkt, Krebs mit dem Alter selbst zu tun und ruft Ängste in mir wach, was mit uns in zwei, drei Jahrzehnten geschehen wird. Wir haben es nicht selbst in der Hand.

Ich träume davon, im hohen Alter geistig rege neben meinem gesunden Mann auf einer Bank zu sitzen. Der Ort ist unwichtig. Wie berühren uns innig, vielleicht halten wir uns auch die Hände, in unserer grenzenlosen Vertrautheit schweigend. Miteinander schweigen zu können ist für mich die tiefste Form von Verständnis.

Meine einzige Möglichkeit, mich auf die Unwägbarkeiten des Alters vorzubereiten, liegt darin, ein Geflecht aus menschlichen Beziehungen zu spannen, um mich und diejenigen herum, die ich liebe. Ich habe während unserer Jahre in Kalifornien erlebt, welche Lebenskraft ein derartiges Netz von Nachbarn, Bekannten und Freunden spenden kann.

Als sich meine Zwillinge ankündigten, hatten mein Mann und ich bereits drei Kinder im Alter von zwei, vier und sechs Jahren. Im Bewusstsein, wie klapprig ich mich nach jeder Geburt fühlte, war ich überzeugt, fünf Kinder unter sieben Jahren könnte ich nicht schaffen. Doch es ging, auch dank der Fürsorge von einigen Nachbarsfamilien, die ich kaum kannte. Einen Monat lang wurden wir jeden Abend von einer anderen Familie köstlich bekocht. Nie wieder habe ich so exotisch gegessen: mexikanisch, kanadisch-französisch, koreanisch... Und meine eigene tiefe Dankbarkeit erdrückte mich nicht, weil sich die Mithilfe auf so viele Schultern verteilte. Diese wunderbare amerikanische Mischung aus Pragmatismus und Hilfsbereitschaft! Je besser es einem geht, desto mehr setzt man sich für Andere ein. Davon wünschte ich mir eine ordentliche Portion für unser Land.

Wir sollten lernen, dass Zeit das Kostbarste überhaupt ist. Noch als Studentin bin ich extrem chaotisch mit meiner Zeit umgegangen. Lag noch mittags in den Federn, brauchte Stunden, um mich an meine Bücher zu setzen. Jede Geburt eines Kindes lehrt einen, mit Zeit besser umzugehen. Allein das Geschrei zwingt einen, Prioritäten zu setzen. Manchmal denke ich, dass mein Mann und ich die Phasen der totalen Überbeanspruchung vor allem durch unsere völlig unterschiedlichen Streitkulturen überstanden haben. Ich bin als junge Frau und Schwester von fünf Brüdern aufbrausend gewesen, apodiktisch und habe die Türen geknallt. Er ist das andere Extrem, ewig abwägend. Hätten wir ähnliche Streitkulturen gehabt, wir  hätten uns entsetzlich hochgeschraubt. So aber verpuffte unser Streit meistens, bevor er eskalieren konnte.

Heute bin ich zwar immer noch in manchen Gebieten eine schreckliche Perfektionistin, die partout immer alles im Griff haben will. Aber im Rückblick weiß ich, wie lehrreich es in der Kindererziehung war, dass ich mich als Mutter phasenweise völlig überfordert fühlte. Das hat den Kindern einerseits mehr Freiheiten gegeben, weil ich loslassen musste, und andrerseits hat es sie in die Pflicht genommen, selbst Verantwortung für sich und ihren Tagesablauf zu übernehmen.

Man wird durch nichts so erzogen wie durch seine Kinder. Bei meinem ersten Kind dachte ich noch, oh Gott, wie schaffst Du es, dass dieses Kind heil ins Leben kommt. Inzwischen, nach sieben Kindern, habe ich gelernt und sage mit unendlicher Dankbarkeit und Entlastung: Gottlob bin ich nicht diejenige, die die Kinder "erschafft" und bis ins letzte Detail formt. Sondern es gibt andere Kräfte in ihnen, die ihre Individualität hervorbringen. Sie entwickeln sich eigenständig und gehen ihren Weg.

Und ich gebe zu, natürlich ist da ein Teil in mir, der sich leise darauf verlässt, dass die Kinder, sollten mein Mann und ich irgendwann abbauen, zusammenstehen und für uns da sein werden. Das aber ist kein "Du musst!", sondern ein "Ich vertraue darauf".