In seinem Gastbeitrag "Familienpflegezeit - wenig Aufwand, große Hilfe" in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erläutert Josef Hecken, Staatssekretär im Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, die bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf durch die Familienpflegezeit:
Die Bundesregierung wird die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf umfassend verbessern. Zentral ist dabei die vom Kabinett im März beschlossene Familienpflegezeit. Vorbehaltlich der Zustimmung des Bundestags wird das Gesetz Anfang 2012 in Kraft treten. Die Familienpflegezeit sieht vor, dass Beschäftigte ihre Arbeitszeit für höchstens zwei Jahre auf bis zu 15 Stunden reduzieren können, um Angehörige zu pflegen. Wird zum Beispiel die Arbeitszeit in der Pflegephase von 100 auf 50 Prozent reduziert, erhalten die Beschäftigten weiterhin 75 Prozent des letzten Bruttoeinkommens. Zum Ausgleich müssen sie später wieder voll arbeiten, bekommen aber weiterhin nur 75 Prozent des Gehalts - so lange, bis das Zeitkonto wieder ausgeglichen ist.
In Deutschland beziehen rund 2,4 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung. Mehr als 1,6 Millionen Menschen werden zu Hause versorgt - durch Angehörige und ambulante Dienste. Die überwiegende Mehrheit der Berufstätigen möchte ihre Angehörigen so weit wie möglich selbst betreuen, stößt aber häufig auf große Schwierigkeiten. Die Familienpflegezeit gibt den Menschen Zeit für die Übernahme von Verantwortung im Pflegefall - ohne ihre Erwerbstätigkeit aufgeben zu müssen. Damit ist Union und FDP gelungen, ein modernes Modell zu entwickeln, von dem alle profitieren: Pflegebedürftige, pflegende Beschäftigte, Unternehmen - ohne Milliardenausgaben.
Schon 2020 ist die Wahrscheinlichkeit, einen über 85 Jahre alten Menschen zu treffen, etwa genauso hoch wie die Wahrscheinlichkeit, einen unter fünf Jahre alten zu treffen. Die Pflege eines Angehörigen wird in den nächsten 15 Jahren die gleiche gesellschaftliche Tragweite haben, wie die Sorge um Kleinkinder. Lösungen müssen gemeinsam von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft entwickelt werden. Diesen Weg geht die Familienpflegezeit. Es ist daher ernüchternd, dass die Hauptgeschäftsführerin von Gesamtmetall, Gabriele Sons, darin keinen Lösungsansatz sieht. Studien von Allensbach zeigen, dass wir mit der Familienpflegezeit einen grundlegenden Bedarf decken. Die meisten Menschen wollen die Verantwortung für die hochbetagten Eltern oder den krebskranken Lebenspartner nicht delegieren. Ich begrüße es daher, dass sich viele Unternehmen schon jetzt bemühen, Beschäftigten die Vereinbarkeit zu ermöglichen. Doch sagen 68 Prozent der Berufstätigen, die Angehörige pflegen, es falle ihnen schwer, Beruf und Pflege zu vereinbaren. Hier setzt die Familienpflegezeit an. Sie unterstützt Unternehmen durch die Einführung eines gesetzlichen Mindeststandards, die Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf weiter auszuschöpfen. Insofern konterkariert sie die Bemühungen der Unternehmen nicht, wie von Frau Sons befürchtet, sondern wirkt als Initiator zur Weiterentwicklung.
Die demographische Entwicklung zwingt uns, um den Erhalt unseres Erwerbstätigenpotentials zu kämpfen und so auch die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme sicherzustellen. Jeder dritte Unternehmer hat schon Rekrutierungsprobleme. 82 Prozent der Unternehmen halten es für wichtig, die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu erleichtern, und möchten durch flexible Arbeitszeiten einen Beitrag leisten. Die Familienpflegezeit ist hierfür ein wichtiges Instrument. Fast die Hälfte der Unternehmen, die pflegende Mitarbeiter beschäftigen, wäre bereit, die Familienpflegezeit einzuführen (41 Prozent). Jedes dritte Unternehmen, das noch keine Erfahrungen mit pflegenden Mitarbeitern hat, ist an der Familienpflegezeit interessiert.
Dabei ist es uns wichtig, Unternehmen nicht in ihrer wirtschaftlichen Entfaltung einzuschränken. Unser Konzept sieht daher vor, dass Unternehmen die Lohnvorausleistungen für Beschäftigte in der Pflegephase, unabhängig von der Unternehmensgröße und zinslos über das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben refinanzieren können. Das Bundesamt springt auch ein, wenn der Beschäftigte die Lohnvorauszahlungen aufgrund einer Privatinsolvenz nicht zurückzahlen kann. Eine Belastung des Arbeitgebers wird so ausgeschlossen. Außerdem muss jeder Beschäftigte das Risiko einer Berufs und Erwerbsunfähigkeit durch eine Versicherung absichern. Die Prämien sind gering.
Doch nimmt die Familienpflegezeit selbstverständlich auch die Unternehmen in die Pflicht. Sie sind gefragt, ihren Beschäftigten mit der nötigen Flexibilität entgegenzukommen und ihnen die Sicherheit zu geben, den Lohnvorschuss durch ihre Arbeitsleistung wieder auszugleichen. Durch einen anonymen Darlehensvertrag - wie von der Hauptgeschäftsführerin Gesamtmetall vorgeschlagen - lässt sich dies nicht gestalten. Dieser würde zudem zu einer Mehrbelastung der Pflegenden führen, da die Rückzahlungen aus versteuertem Einkommen zu leisten wären.
Die Familienpflegezeit stellt sicher, dass in der Pflege- und in der Nachpflegephase gleichmäßige Beiträge zur Sozialversicherung entrichtet werden. Beitragszahlungen in der Familienpflegezeit und die Leistungen der Pflegeversicherung zur gesetzlichen Rente bewirken zusammen einen Erhalt der Rentenansprüche, etwa auf dem Niveau der Vollzeitbeschäftigung. Personen mit geringem Einkommen werden bessergestellt. So trägt die Familienpflegezeit zur Verringerung von Altersarmut bei, die oftmals gerade bei Frauen Folge einer Pflegeauszeit ist.
In der betrieblichen Praxis soll sich die Familienpflegezeit am Modell der Altersteilzeit orientieren. Arbeitgeberund Arbeitnehmer schließen also eine Vereinbarung zur Familienpflegezeit ab. Die Erfahrung mit der Altersteilzeit zeigt eine große Akzeptanz bei Beschäftigten und Unternehmen, ohne diese gleichzeitig in gesetzliche Zwänge zu drängen.
Der Gastbeitrag erschien am 17. Mai 2011 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".