Die Bundesfamilienministerin spricht im Interview mit der "Bild am Sonntag" über die geplante Bildungs-Card, das Elterngeld für Geringverdiener und einen möglichen freiwilligen Zivildienst.
BILD am SONNTAG: Frau Familienministerin, in Deutschland leben rund zwei Millionen Kinder in Hartz-IV-Familien. Was sie dem Staat wert sind, steht auf den Euro genau fest: 215 Euro im Vorschulalter, 251 Euro ab 6 Jahren und 287 Euro ab 14. Müssen diese Sätze im Rahmen der vom Bundesverfassungsgericht angeordneten Neuregelung erhöht werden?
Kristina Schröder: In den Sätzen, die Sie genannt haben, sind nicht die Leistungen enthalten, die Familien zusätzlich bekommen, wie zum Beispiel für Miete, Heizung oder für mehrtägige Klassenfahrten der Kinder. Zu einer fairen Bestandsaufnahme gehört, dass eine vierköpfige Familie, die von Hartz IV lebt und eine durchschnittliche Miete zahlt, bis zu 1585 Euro netto vom Staat erhält. Das muss man als Arbeitnehmer und als jemand, der seine Familie durch Arbeit ernährt, erst einmal netto verdienen. Dafür muss man dann früh aufstehen und hart arbeiten. Trotzdem müssen wir nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts den Bedarf für Kinder sachgerecht überprüfen. Ob das am Ende zu einer Erhöhung von Hartz-IV-Sätzen führt, kann ich derzeit nicht sagen, weil die Berechnungen dazu noch laufen.
BILD am SONNTAG: Arbeitsministerin von der Leyen plädiert für eine Bildungs-Card. Mit dieser Scheckkarte sollen Hartz-IV-Kinder dann Sportvereine, Musikkurse, Schulmaterial, Nachhilfe, Freibad- oder Zoo-Besuche bezahlen. Das richtige Modell?
Kristina Schröder: Grundsätzlich finde ich es richtig, dass zusätzliche Leistungen für Bildung und Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung als Sach- und nicht als Geldleistungen für Kinder aus Hartz-IV-Familien gegeben werden. Denn aus Untersuchungen wissen wir, dass in solchen Familien häufig das Problem nicht Geldmangel ist, sondern ein Mangel an Anleitung, Bildung und sinnvoller Freizeitbeschäftigung. Die Chipkarte kann das richtige Instrument sein, dies zu ändern. Es gibt aber noch Probleme, beispielsweise beim Datenschutz.
BILD am SONNTAG: Inwiefern?
Kristina Schröder: Die Chipkarte darf nicht dazu führen, dass wir künftig Bewegungsprofile von Kindern und Jugendlichen erstellen können oder staatliche Stellen präzise Informationen über deren Freizeitverhalten sammeln.
BILD am SONNTAG: Der Paritätische Wohlfahrtsverband lehnt die Bildungs-Card ab, weil weder das Bundessozialministerium in Berlin noch die Bundesagentur in Nürnberg wissen können, was jedem der 1,8 Millionen betroffenen Kindern wirklich fehlt. Ist das so falsch?
Kristina Schröder: Das ist ein kritischer Punkt, der auch mir große Sorge macht. Denn in den Ländern und Kommunen ist auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahren unglaublich viel passiert, und es sind vielfältige und genau auf die jeweilige Region und die Bedürfnisse der Menschen vor Ort zugeschnittene Angebote entstanden. Häufig handelt es sich um Angebote für alle Kinder und Jugendliche und nicht nur für solche aus Hartz-IV-Familien.
BILD am SONNTAG: Welche Städte meinen Sie?
Kristina Schröder: Wiesbaden hat zum Beispiel eine FamilienCard mit Angeboten für kinderreiche Familien, für Alleinerziehende und für Familien mit Pflegekindern. Vor Ort weiß man eben viel besser, woran es wirklich fehlt. Es wäre fatal, wenn wir durch eine neue zentralistische Bildungs-Card Modelle wie in Stuttgart oder Wiesbaden kaputt machen oder von oben deckeln würden. Das können Sie zentral von Berlin oder Nürnberg aus gar nicht steuern, denn dort weiß niemand, was in jeder einzelnen Stadt oder Gemeinde passgenau nötig ist.
BILD am SONNTAG: Nach den Plänen Ihrer Kollegin von der Leyen sollen die Cards über die Jobcenter der Bundesagentur für Arbeit an die Familien ausgegeben werden. Dort sollen künftig Familienlotsen tätig werden.
Kristina Schröder: Wenn der Familienlotse vor allem dazu dient, die Familien mit den bestehenden kommunalen Angeboten vertraut zu machen, kann das sinnvoll sein. Dazu braucht er aber die nötige Expertise, also viel Erfahrung und gute Kenntnisse über die lokalen Angebote. Natürlich können sich Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit einarbeiten. Das Ganze darf aber nicht zu teuren und unnützen Doppelstrukturen führen. Denn es gibt ja schon die Jugendhilfe in jeder Kommune, die gute Arbeit leistet, und auch die Länder nehmen ihre Verantwortung sehr ernst. Weder die Länder noch die Kommunen brauchen Aufseher von der BA aus Nürnberg.
BILD am SONNTAG: Die Bildungs-Card könnte auch neuen Sozialneid hervorrufen. Denn die Kinder von Menschen, die arbeiten, aber wenig verdienen, kämen im Gegensatz zu ihren Altersgenossen aus Hartz-IV-Familien nicht in den Genuss der neuen staatlichen Leistungen. Damit lohnt sich Arbeit wieder ein Stück weniger gegenüber dem Empfang staatlicher Wohltaten...
Kristina Schröder: Das ist in der Tat nicht zuletzt ein Gerechtigkeitsproblem. Wo ziehen wir da die Grenze? Wir müssen aufpassen, dass es nicht für viele Familien dann heißt: Zu reich für Hartz IV, aber zu arm für zusätzliche Bildung. Deswegen ist es mir so wichtig, dass für jedes Kind die kommunalen Angebote zugänglich bleiben. Ich stehe für faire Chancen für alle Kinder.
BILD am SONNTAG: Was halten Sie von der Idee, allen Kindern eine Card zu geben, für die aber nur in Fällen von Bedürftigkeit der Staat aufkommt? Denn die Karte könnte schnell Kultstatus bei den Kids haben...
Kristina Schröder: Für mich gilt: Der Bund hat jetzt den Auftrag, für Hartz-IV-Kinder eine Lösung zu finden. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Das lehrt die Erfahrung jahrzehntelanger Sozialpolitik. Unabhängig davon müssen wir dafür sorgen, dass mit den Karten unter den Kindern kein schwunghafter Handel oder anderer Missbrauch betrieben wird.
BILD am SONNTAG: Viele Menschen arbeiten, sind aber wegen ihres zu niedrigen Einkommens trotzdem auf Hartz-Leistungen angewiesen. Wie wollen Sie diese "Aufstocker" beim Elterngeld behandeln?
Kristina Schröder: Wer vor der Geburt seines Kindes einen Teil seines Einkommens selbst erarbeitet hat, muss dafür auch Elterngeld erhalten. Das werde ich gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen im Parlament durchsetzen. Denn wir dürfen nicht die Väter und Mütter bestrafen, die nicht von Hartz IV leben wollen, deshalb jeden Tag arbeiten gehen, aber insgesamt zu wenig verdienen.
BILD am SONNTAG: Verteidigungsminister Guttenberg will die Bundeswehr umbauen. Von den fünf Varianten, die sein Ministerium erarbeitet hat, bedeuten vier ein zeitlich unbefristetes Aussetzen der Wehrpflicht. Stellen Sie sich mit Blick auf den Zivildienst schon auf ein Ende der Wehrpflicht ein?
Kristina Schröder: Zivildienst heißt ja Wehrersatzdienst und deshalb muss ich mich auf dieses Szenario einstellen. Derzeit leisten 90.000 junge Männer Zivildienst. Sie werden dringend gebraucht und sind nicht so einfach zu ersetzen. Trotzdem ist es meine Aufgabe, ein Konzept zu erarbeiten, wie wir einen möglichen Wegfall der 90.000 Zivis kompensieren können, falls die Koalitionsparteien hier gravierende Veränderungen beschließen sollten.
BILD am SONNTAG: Woran denken Sie?
Kristina Schröder: Wenn es so kommt, kann ich mir vorstellen, einen neuen bundesweiten freiwilligen Zivildienst für Männer und Frauen einzuführen. Aber auch damit könnte man nur einen Teil dessen, was wegfallen würde, kompensieren. Deshalb muss man parallel dazu auch die bewährten Freiwilligendienste in der Regie der Länder wie das freiwillige soziale oder ökologische Jahr stärken.
BILD am SONNTAG: Wer sollte sich denn da freiwillig melden, um Alte und Behinderte zu pflegen anstatt zu studieren oder einen deutlich besser bezahlten Job anzutreten?
Kristina Schröder: Schon jetzt gibt es ein freiwilliges soziales Jahr, das sehr beliebt bei jungen Leuten ist. Und: Kaum jemand, der Zivildienst geleistet hat, möchte diese Zeit später missen. Der neue freiwillige Zivildienst müsste aber noch deutlich attraktiver werden. Dabei geht es weniger um Geld als um Benefits – also zum Beispiel um eine Anrechnung dieser Zeit fürs Studium. Und die jungen Männer und Frauen sollen ihre Dienstzeit selbst bestimmen können.
BILD am SONNTAG: Wie schnell können Sie jetzt reagieren?
Kristina Schröder: Rein rechtlich ist die Sache klar: Mit Aussetzung der Wehrpflicht endet am selben Tag auch der Zivildienst. Falls das so beschlossen würde, stehen wir vor einer Mammutaufgabe und müssen bis Ende des Jahres ein tragfähiges Konzept vorlegen, um die negativen Folgen für die soziale Infrastruktur zumindest abzufedern.
BILD am SONNTAG: Frau Schröder, Sie sind diese Woche aus dem Urlaub zurückgekommen - ihr erster seit den sechs Flittertagen im Februar. Wie war es denn?
Kristina Schröder: Sehr schön. Mein Mann und ich waren in Südtirol zum Wandern. Mein erster klassischer Wanderurlaub. Wir sind bis zur Schneefallgrenze hoch gestiegen - ich hatte also diesen Sommer bereits Schnee in der Hand.
BILD am SONNTAG: Wie fällt nach gut sechs Monaten Ehe Ihre Zwischenbilanz aus?
Kristina Schröder: Ich finde es wunderbar, verheiratet zu sein.
BILD am SONNTAG: SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles hat auch in diesem Jahr geheiratet und erwartet jetzt ein Kind. Wie ist der Stand Ihrer Familienplanung? Planen Sie schon eine Spielecke im Ministerium?
Kristina Schröder: Ich gratuliere Frau Nahles ganz herzlich. Beruf und Familie zu vereinbaren, ist eine wichtige Aufgabe meines Ministeriums und ich freue mich, dass die Generalsekretärin der SPD da mitmacht. Alles andere bespreche ich mit meinem Mann...
Das Interview erschien am 22. August in der "Bild am Sonntag". Das Gespräch führten Michael Backhaus und Roman Eichinger.