Hürriyet Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig zu Radikalismus und häuslicher Gewalt

Manuela Schwesig, Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel
Manuela Schwesig© Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel

Hürriyet: Frau Ministerin, es sind 600 Dschihadisten aus Deutschland in den Kampfgebieten Syrien und Irak. Sie sind ja als Familienministerin auch zuständig für die Jugend. Welche Präventionsmaßnahmen haben Sie getroffen, um der Radikalisierung der jungen Muslimen entgegenzutreten?

Manuela Schwesig: Wir haben zu Beginn des Jahres das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ gestartet: einer der Schwerpunkte ist die Prävention vor gewaltorientierten Islamismus und Salafismus. Es geht zugleich aber auch um die Bekämpfung der Islam- und Muslimfeindlichkeit. Denn beides bedingt sich. Die Feindlichkeit gegen die Religion Islam ist ja Nährboden für die Salafisten, die an Jugendliche herantreten, die sich ausgegrenzt und missverstanden fühlen, und sie radikalisieren. Besonders intensiv geschieht das in Gefängnissen. Dort rekrutieren Salafisten und Islamisten ganz gezielt muslimische Jugendliche, die straffällig geworden sind. Es gibt da ein sehr gutes Projekt - "Violence Prevention Network" heißt es: Sozialarbeiter gehen in die Gefängnisse - begleitet von Imamen und kümmern sich um diese Jugendlichen.

Hürriyet: Seit wann gibt es diese Maßnahme in den Gefängnissen?

Schwesig: Das gab es schon in der Vergangenheit, aber das wollen wir weiter ausbauen. Wir fördern auch z.B. das Projekt "Dialog macht Schule", das Studierende, die als Demokratielehrer, als Multiplikatoren in Schulen gehen, vor allem in sozialen Brennpunkten, und sich dort mit Jugendlichen austauschen. Ich glaube, dass die Prävention genauso wichtig ist für die Sicherheit und den Schutz unserer grundgesetzlich verankerten Freiheiten wie sicherheitspolitische Maßnahmen.

Hürriyet: Wie hoch ist dieser Etat?

Schwesig: Für das ganze Demokratieprogramm stehen jährlich 40,5 Millionen Euro zur Verfügung. Bereits im Sommer letzten Jahres habe ich gesagt: Wir müssen uns stärker um das Thema Islam-/Muslimfeindlichkeit und Islamismus kümmern. Der Bundestag hat dann das Programm noch einmal um 10 Millionen aufgestockt. Ursprünglich war es auf 30,5 Millionen Euro angelegt. Kürzlich habe ich mich mit Vertretern der Türkischen Gemeinde getroffen. Mit ihr arbeiten wir an einem ganz konkreten Projekt. Es heißt: "Young Voice. Bring dich ein, hinterlasse Spuren und schreib Geschichte". Da bekommen Jugendliche, die sich dem muslimischen Kontext zuordnen, Räume, um sich über Muslimfeindlichkeit in der deutschen Gesellschaft auszutauschen. Dabei geht es auch um die Diskriminierungserfahrungen, die sie im Alltag machen. Mit dem Projekt geben wir ihnen das Zeichen: Ihr seid uns wichtig, wir verstehen euch, wir wollen davon wissen. Sonst igeln sich diese jungen Leute ein, fühlen sich missverstanden und sind anfällig für die, die sie für ihre radikalen Ziele nutzen wollen.

Hürriyet: Demokratie leben heißt das Programm. Wie können die Leute das machen. Die rufen dort an, oder wie? Gibt es da Diskussionsforen?

Schwesig: Präventionsarbeit kann nur vor Ort gemacht werden. Deshalb müssen wir die Initiativen in den Dörfern, den Städten und Gemeinden stärken. Ich als Ministerin stelle dafür die Gelder zur Verfügung - denn die Ideen werden vor Ort geboren. Das können auch Diskussionsforen sein. Es geht mir auch darum, dass die muslimischen Gemeinden ermutigt werden, über die Religion zu sprechen, auch kritisch. Ich finde es wichtig, dass junge Leute auch kritische Fragen zu ihrer Religion stellen dürfen. Ich habe auch kritische Fragen zu meiner Religion, und sich da zu öffnen zu mehr Dialog, dafür haben wir zum Beispiel das Programm mit der Türkischen Gemeinde. Aber wir unterstützen z.B. auch einen Kongress, wo es einen Dialog gibt von Gelehrten, um sich über die Religion auszutauschen.

Hürriyet: Die Moscheen haben keine richtigen Internetseiten, in denen sie über Islam und Radikalismus aufklären können. Und wo es keine Aufklärung gibt, nutzt das dem Radikalismus. Werden im Kampf gegen den Radikalismus auch Moscheen von Ihnen finanziell unterstützt?

Schwesig: Wenn sich diese Moscheen in ein Projekt einbringen, ist das möglich. Es kommt auf das Projekt vor Ort an. Radikalisierung findet auch über das Internet statt, das stimmt. Und junge Leute sind netz-affin, die sind dort unterwegs. Hier haben wir ein Programm, das wir bundesweit machen wollen mit "Jugendschutz.net". Das ist ein Träger, der sich mit dem Thema Radikalisierung übers Netz beschäftigt. Da haben wir schon gute Erfahrungen im Kampf gegen Rechtsextremismus gemacht, und das wollen wir jetzt ausbauen für den Bereich Salafismus, weil es da im Netz noch zu wenig Aufklärung gibt.

Hürriyet: Welche Möglichkeiten gibt es für Eltern, die merken, dass sich ihre Kinder immer mehr radikale Anschauungen aneignen? Was können die verzweifelten Eltern in so einer Situation tun und wo können Sie Hilfe bekommen?

Schwesig: Ich kann die Sorgen der Eltern verstehen und es ist wichtig, dass die Eltern da aufmerksam sind und genau hinschauen. Es kann in jeder Familie passieren, dass die Kinder vom rechten Weg abkommen. Es ist wichtig, dass die Eltern Unterstützung bekommen. Dafür gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: In den Schulen gibt es Schulsozialarbeiter, an die sich auch Eltern wenden dürfen. Aber wir wollen auch entsprechende Beratungsstellen für Eltern ausbauen. In den Demokratiezentren in allen 16 Bundesländern gibt es Beratungsstellen, an die sich auch Eltern wenden können. Und darüber hinaus gibt es die "Beratungsstelle Radikalisierung" beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - erreichbar unter Telefon-Nr. (0911) 943 43 43. Viele Eltern trauen sich nicht, das anzusprechen, weil sie sich schämen und denken, es ist ihre Schuld. Diese Sorge muss man ihnen nehmen.

Hürriyet: Nach den Anschlägen in Paris sind auch die Muslime in Deutschland verzweifelt und in Sorge, dass sie unter Generalverdacht  gestellt werden. Was würden Sie ihnen empfehlen: Wie sollen sie dem entgegentreten?

Schwesig: Ich verstehe diese Sorge, und es ist gut, dass wir mit den muslimischen Verbänden in Deutschland mit der Solidaritätsbekundung vor dem Brandenburger Tor ein starkes Zeichen gesetzt haben. Es ist gut, dass sich die muslimischen Verbände ganz klar von diesen Terroranschlägen distanziert haben. Wichtig ist, dass auch die Muslime in unserem Land, die modern und friedlich leben, ihre Stimme erheben und sagen: Das verurteilen wir, und dass sie sich in die Diskussion einbringen. Es darf aber auch kein Tabu sein, über Fragen, die man in Deutschland zum Islam hat, zu sprechen, und zu fragen: Warum ist das so, dass der Islam so missbraucht wird für den Terrorismus? Warum ist es ausgerechnet diese Religion, die sich diese Terroristen suchen? Und ich würde mir wünschen, dass auch viel mehr die Frauen zu Wort kommen. Ich erlebe viele muslimische Frauen, die sich sehr solidarisch verhalten, sehr für Gerechtigkeit stehen und sehr modern sind. Es ist wichtig, dass die auch sichtbar sind und zu Wort kommen.

Hürriyet: Es besteht die Gefahr, dass sich die Vorurteile gegen den Islam verstärken und die Gesellschaft  spalten. Wie wollen Sie solchen Vorurteilen entgegentreten?

Schwesig: Indem wir beides bekämpfen: auf der einen Seite die Vorurteile, die es gegen den Islam und gegen Muslime gibt. Mit Schulprojekten, wo Jugendliche verschiedener Religion zusammenkommen. Denn wenn sich die Islamfeindlichkeit verstärkt, wird auf der anderen Seite auch die Radikalisierung muslimischer Jugendlichen stärker, und dann wird die friedliche Mitte zwischen diesen beiden Polen zusammengedrückt. Mein Sohn, der wird jetzt bald acht, und wir schauen oft zusammen Kindernachrichten. Da gibt es jetzt viel zu Pegida und zu den Anschlägen. Da hat er natürlich viele Fragen. Ich versuche ihm dann zu erklären, dass es Leute gibt, die andere ablehnen, weil sie an einen anderen Gott glauben. Und da sagt mein Sohn: Das versteht er nicht, es kann doch jeder an den Gott glauben, an den er möchte, und es kann jeder beten, wo er möchte. Dann sag ich: Ja, eigentlich könnte die Welt so einfach sein, aber die Erwachsenen machen es schwieriger. Ich glaube, dieser Respekt - nicht nur Toleranz - und diese Offenheit sind wichtig. Es muss möglich sein, zu Dingen, die fremd sind in der Religion des Anderen, Fragen stellen zu dürfen.

Hürriyet: Sie waren auf der Islamkonferenz. Was haben Sie aus dieser Konferenz mitgenommen?

Schwesig: Viel, ich nenne hier nur zwei Dinge: Zum einen, dass das Leben der Muslime in Deutschland sehr vielfältig ist. Dass es eine große Bereitschaft gibt, an einem Strang zu ziehen. Und dass es falsch ist, aus der Islamkonferenz eine Sicherheitskonferenz zu machen. Das war in diesem Jahr zum Glück nicht der Fall.

Hürriyet: Es gibt keine muslimischen Wohlfahrtsverbände ähnlich den kirchlichen Organisationen Diakonie und Caritas. Die Alten- und Pflegeheime in Deutschland sind nicht auf muslimische Senioren eingestellt. Sie sind ja auch für die Senioren zuständig. Haben Sie konkrete Pläne, um das zu ändern?

Schwesig: Ich möchte nicht, dass Menschen, die hier ihr Leben lang gearbeitet haben und hier ihre Kinder und Enkel haben, denken, sie müssten in die Türkei zurück, weil sie hier für sich keine Pflege bekommen. Deswegen wollen wir durch so genannte kultursensible Pflege auf die besonderen Bedürfnisse eingehen. Mein Ministerium unterstützt so ein Projekt zur kultursensiblen Pflege. Wir wollen aber auch, dass die Wohlfahrtsverbände den muslimischen Verbänden helfen, bestimmte Strukturen aufzubauen. Die großen Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie z.B. sind durch die verschiedenen Angebote im sozialen Bereich gewachsen. Es ist wichtig, dass auch die muslimischen Verbände Angebote machen können. Die bestehenden Verbände wie Diakonie oder der Paritätische Wohlfahrtsverband müssen offen sein für die Bedürfnisse der muslimischen Bürger.

Hürriyet: Wie soll das konkret zusammengebracht werden?

Schwesig: Es gibt bereits ein Projekt des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, das die muslimischen Verbände unterstützen will. Wichtig ist, dass wir wegkommen von der Sonderförderung. Besser wäre es für muslimische Verbände, sie würden in die bestehende Förderung integriert, die andere auch bekommen: für die Pflegearbeit, für die Kinder- und Jugendarbeit. Es gibt vorbildliche Städte, die haben in ihrem Kinder- und Jugendausschuss muslimische Verbände mit drin. Dort wird ja entschieden, welche Projekte gemacht werden. Andere haben das noch gar nicht auf dem Schirm. Wenn die muslimischen Verbände in die Regelsysteme kommen, wenn sie Regelangebote machen können für Kinder und Jugendliche, aber auch für ältere Menschen, dann wachsen auch diese Verbände.

Hürriyet: Muslimische Verbände haben auf der Islamkonferenz einen solchen Verband wie die kirchlichen Organisationen gefordert und sagen, ein solcher Verband könnte zu einer weiteren Gleichberechtigung des Islams beitragen. Wie stehen Sie dazu?

Schwesig: Ich verstehe die Forderung. Aber sie muss auch mit Leben gefüllt werden. Es muss konkrete Angebote vor Ort geben: In der Kinder- und Jugendarbeit und in der Altenpflege. So sind auch die anderen großen Verbände gewachsen: nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben. Die Voraussetzung ist auch, dass sich die muslimischen Verbände - sie haben ja jetzt eine Arbeitsgruppe - sich auch unter einem Dach versammeln. Das ist auch eine große Herausforderung.

Hürriyet: Sie haben eine Kindergelderhöhung schon in diesem Jahr als dringend notwendig bezeichnet. Wie steht es jetzt mit dieser Forderung?

Schwesig: Ich bin im Gespräch mit dem Bundesfinanzminister, wie wir in diesem Jahr die Leistungen für die Familien aufstellen. Es gibt ja einen Steuerfreibetrag für Kinder, und wenn der angehoben wird, dann muss auch das Kindergeld angehoben werden. Ich habe aber auch ein Interesse dran, dass wir mehr für die Alleinerziehenden tun. Wir haben in Deutschland viele Alleinerziehende, vor allem Frauen, und die haben derzeit eine hohe Steuerlast, was ungerecht ist, weil sie arbeiten gehen und zugleich viel allein für ihre Kinder stemmen müssen.

Hürriyet: Kann man mit einer Kindergelderhöhung in diesem Jahr rechnen? Und wenn ja, in welcher Höhe?

Schwesig: Details stehen noch nicht fest. Die Verhandlungen mit dem Finanzminister sind noch nicht abgeschlossen.

Hürriyet: Sie wollten ein Gesetz für das gleiche Gehalt für Männer und Frauen. Wann wird es mit so einem Gesetz soweit sein?

Schwesig: Daran arbeiten wir. Weil wir wollen, dass Schluss damit ist, dass Frauen bei der Lohnfrage schlechter gestellt werden als Männer, insbesondere wenn sie die gleiche Arbeit machen. Da bin ich im Gespräch mit Unternehmern und auch mit den Gewerkschaften. Wir wollen ein Gesetz machen, das wirksam, aber auch unbürokratisch ist. Wir wollen es in diesem Jahr auf den Weg bringen.

Hürriyet: Nach einer Studie der EU ist etwa jede dritte Frau in Deutschland von körperlicher oder sexueller Gewalt betroffen. Rund 25% der Frauen erleben Gewalt in ihrer Partnerschaft. Wie können Frauen und Kinder, die Gewalt in der Familie erleben, sich dagegen schützen?

Schwesig: Mich bedrückt sehr, dass es so viele Frauen trifft, aber dass sich zwei Drittel von ihnen keine Hilfe holt, weil sie kein Vertrauen haben, dass ihnen jemand glaubt, weil sie Angst haben oder weil sie sich schämen. Aber nicht die Frauen, die geschlagen werden, müssen sich schämen, sondern die Täter, die Männer. Wichtig ist, dass die Frauen unkompliziert Hilfe bekommen - zum Beispiel über unser bundesweites Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen". Unter der kostenlosen Telefonnummer 08000 - 116 016 können sich Frauen rund um die Uhr anonym beraten lassen. Für diejenigen, die nicht oder nicht ausreichend deutsch sprechen, können Dolmetscherinnen für 15 Sprachen - auch Türkisch - hinzugezogen werden.

Wir haben auch im Internet die Möglichkeit eines anonymen Chats, wo wir den Frauen Beistand geben und sagen, das musst du dir nicht gefallen lassen. Wir vermitteln, falls gewünscht, an die verschiedenen Hilfsangebote: Frauenhäuser, Beratungsstellen, in vielen Bundesländern haben wir das Recht, dass der Mann aus der Wohnung muss und nicht die Frau. Davor haben viele Frauen Angst, dass sie nicht in ihrer Wohnung bleiben können. Aber der Täter muss raus. Es gibt viele Hilfsangebote, das Problem ist, dass viele nicht davon wissen.

Hürriyet: Gibt es Zahlen, wie oft diese Telefonnummer benutzt wird?

Schwesig: Wir hatten im ersten Jahr, wo wir es geschaltet haben, über 47.000 Anrufe, in fast der Hälfte der Fälle konnten wir auch helfen. Wir rechnen damit, dass die Zahlen inzwischen gestiegen sind. Wir haben sehr viele Kampagnen gemacht, Plakate gedruckt und Werbung für diese Telefonnummer gemacht.

Hürriyet: Gibt es Statistiken, wie viel Prozent der türkischen Frauen Gewalt in der Familie erleben?

Schwesig: Aus Studien wissen wir, dass türkische Frauen mit 38 % stärker von häuslicher Gewalt betroffen sind als die Frauen im Bundesdurchschnitt. Der liegt bei 25 % - eine Zahl, die zeigt, dass wir auch mit den türkischen Gemeinden darüber sprechen müssen, wie wir dieses Problem auch vor Ort zum Thema machen können. Es muss mehr auch über die Ursachen gesprochen werden. Wir haben übrigens in Deutschland auch Beratungsangebote für die Täter. Es ist auch möglich, denen, die schlagen, zu helfen. Häusliche Gewalt darf aber kein Tabuthema sein, dieses Tabu müssen wir brechen. Das ist eine wichtige Aufgabe auch der türkischen Gemeinde. Nicht zuletzt, weil die Kinder am meisten darunter leiden.