Bundesfamilienministerin Kristina Schröder im Interview mit der Ostsee-Zeitung

Bundesfamilienministerin Dr. Kristina Schröder gab der Ostsee-Zeitung (Erscheinungstag 13. Juni 2012) das folgende Interview:

Frage: Haben Sie Briefe mit den Schicksalen von DDR-Heimkindern gelesen?

Dr. Kristina Schröder: Sehr viele. Und mir ist dabei deutlich geworden, wie sehr die schrecklichen Erlebnisse zu einer Last für das ganze Leben geworden sind. Deshalb ist es so wichtig, dass dieses Leid nun anerkannt wird. Und dabei geht es nicht vorrangig um materielle Fragen. Ein Betroffener hat uns gesagt: Eigentlich will er von der Gesellschaft in den Arm genommen und getröstet werden. Das, finde ich, ist das Mindeste, was wir den Opfern schulden.

Frage: Opfer im Osten fühlten sich als Opfer zweiter Klasse. Sind Demütigungen und Übergriffe in staatlichen Kinderheimen der DDR weniger schlimm als in Heimen der Bundesrepublik?

Dr. Kristina Schröder: Dieser Eindruck konnte bei manchen leider entstehen. Der Auftrag des Bundestages bezog sich zuerst nur auf Geschehnisse in Heimen der Bundesrepublik. Deshalb ist es so unglaublich wichtig, dass nach dem Runden Tisch Heimkinder-West die Aufarbeitung Ost dazu kommt. Wir haben dort die Besonderheit, dass vielfach versucht wurde, politisch motiviert die Persönlichkeit zu brechen. Es sollten mit zum Teil drakonischen Mitteln so genannte sozialistische Persönlichkeiten geschaffen werden. Zynisch war von der inneren Umorientierung die Rede. Das war jenseits der Misshandlungen in westdeutschen Heimen noch einmal eine zusätzliche Qual.

Frage: Reicht ein Fonds von 40 Millionen Euro aus, um erlittenes schweres Unrecht wiedergutzumachen?

Dr. Kristina Schröder: Was diese Menschen erlitten haben, kann man mit einem solchen Fonds nicht wiedergutmachen, aber wir können das Unrecht anerkennen. Wir können die Folgen des Unrechts lindern helfen, psychologische Hilfen vermitteln, bei Fragen zu Renten und Krankenkassen helfen. Wenn man so will, ist der Fonds der Versuch der Gesellschaft, die Opfer in den Arm zu nehmen.

Frage: Warum wird es keine Opferrente geben, wie Betroffene es fordern?

Dr. Kristina Schröder: Was kommen wird, ist eine Art Entschädigungszahlung für diejenigen, die in den Heimen arbeiten mussten, ohne dass Sozialbeiträge abgeführt wurden. Sie können heute eine einmalige Zahlung von 300 Euro je Heim-Monat bekommen.

Frage: Der Hilfsfonds ist gedeckelt. Was passiert, wenn sich mehr Opfer melden, als Geld im Topf ist?

Dr. Kristina Schröder: Wenn das wirklich passieren sollte, dann müsste die Politik noch einmal schauen, was wir tun können. Aus der Erfahrung des Fonds Heimkinder-West - von 120 Millionen Euro sind erst drei Millionen abgeflossen, vor allem für Rentenersatzleistungen - sollten wir aber erst einmal die Zuversicht schöpfen, dass der Fonds-Ost ausreicht.

Frage: Wohin sollen sich Opfer wenden?

Dr. Kristina Schröder: Wir veröffentlichen die Ansprechpartner demnächst auf der Website www.fonds-heimerziehung.de. Meist werden das die Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen sein, wo ihnen weitergeholfen wird. In den jeweiligen Bundesländern wird es Beratungsstellen mit einem Ansprechpartner für ehemalige Heimkinder geben. Es wird jeweils eine Vereinbarung zwischen Beratungsstelle und Opfer über praktische und materielle Hilfe abgeschlossen. Dieser Rahmen bietet Raum für individuelle Ausgestaltungen jenseits von Antragsformularen zum Ankreuzen.

Frage: Waren Demütigung und Missbrauch in DDR-Heimen System oder waren es Auswüchse?

Dr. Kristina Schröder: Ich glaube schon, dass es dem Geist des Systems entsprochen hat, Menschen auch mit solchen Methoden zu brechen. Hier haben schlimme Menschenrechtsverletzungen stattgefunden. Und ich verstehe Opfer, die sich darüber aufregen, wenn Leute sagen, formal-juristisch sei in den Heimen insgesamt nicht komplettes Unrecht geschehen, weil es irgendwelche DDR-Gesetze gab, die das zuließen.

Frage: Frühere Erzieher wehren sich gegen Pauschal-Urteile, zu Recht?

Dr. Kristina Schröder: Als Westdeutsche tue ich mich schwer, hier Urteile zu fällen - ich weiß auch nicht, ob ich in der DDR eine Heldin gewesen wäre. Und ganz sicher gab es auch Erzieherinnen und Erzieher in DDR-Heimen, die gute Arbeit geleistet haben, die die ihnen anvertrauten Kinder gut erzogen haben, die aufrecht und anständig geblieben sind und die Kinder nicht drangsaliert haben. Aber es gab eben auch andere.

Frage: Ein anderes Thema: Sie sind gerade mit Ihrer Tochter im Kinderwagen unterwegs. Wird es bald normal in Deutschland, dass Politikerinnen kleine Kinder haben?

Dr. Kristina Schröder: Ich finde es großartig, dass es immer mehr junge Politikerinnen gibt, die kleine Kinder haben, wenn ich nur an Andrea Nahles oder Katja Kipping denke. Wir haben heute einfach auch bessere Rahmenbedingungen als die Politikerinnen vor 20 oder 30 Jahren.

Frage: Also schon eine Selbstverständlichkeit?

Dr. Kristina Schröder: Nein, es bleibt eine große Herausforderung, Kind, Familie und Politik unter einen Hut zu bringen. Einfach ist es auch heute nicht. Zum Beispiel haben Abgeordnete des Deutschen Bundestages kein Recht auf Elternzeit - Abgeordnete  können ja nicht einfach ein Jahr aus dem Parlament ausscheiden, sondern müssen direkt nach dem achtwöchigen Mutterschutz die Vereinbarkeit von Politik, Mandat und Kind hinbekommen.

Frage: Das riecht aber nach Diskriminierung von frei gewählten Abgeordneten.

Dr. Kristina Schröder: Nein, das hat einen demokratietheoretischen Grund. Man kann ja nicht einfach den Wählern sagen, wir legen jetzt mal für ein Jahr das Mandat nieder.

Frage: Müssen Wickeltische zur Grundausstattung von Bundestag, Ministerien und Verwaltungen gehören?

Dr. Kristina Schröder: Wickeltische und alles, was zur Betreuung der Kleinsten dazu gehört, müssen überall üblich sein. Ich selbst habe das Glück, dass ich meine Tochter zwei, drei Mal im Monat mit ins Büro nehmen kann. Dafür bin ich dankbar, denn das geht nicht in jedem Betrieb.

Frage: Sie sind schließlich die Ministerin, die Chefin.

Dr. Kristina Schröder: In meinem Ministerium kann das jeder, der darauf angewiesen ist, auch tun. Das ist eine Frage der innerbetrieblichen Kultur. Dazu gehört bei mir auch, dass ich die vielen Abendtermine in der Politik kritisch überdenke. Muss das wirklich in jedem Fall sein?

Frage: Sind das nicht oft von Männern gemachte Termine, das heißt, ohne Rücksicht auf Familien?

Dr. Kristina Schröder: Manches hat sich in Jahrzehnten ritualisiert, meistens von Männern ausgedacht, die damit die Schwere der Situation, die Intensität des Ringens in den Abend- und Nachtstunden unterstreichen wollen. Was sehr spät stattfindet, muss bedeutsam sein. Späte Termine hat sich ganz bestimmt niemand ausgedacht, der abends noch seine Tochter ins Bett bringen muss oder will.

Frage: Gibt es einen Austausch von Politiker-Müttern über Parteigrenzen hinweg?

Dr. Kristina Schröder: Ja, den gibt es. Am Rande des Plenums unterhalte ich mich oft mit anderen Müttern. Auch mit Katja Kipping habe ich mich neulich ausgetauscht. In dem Punkt haben wir jungen Mütter in der Politik gemeinsame Anliegen, etwa endlose Abendsitzungen nach Möglichkeit zu vermeiden. Auch in dieser Hinsicht sollte Politik familienfreundlicher werden.