Berliner Zeitung Anne Spiegel: Wir wollen die Vielfalt von Familien stärken

Porträt von Anne Spiegel
Anne Spiegel© Bundesregierung/Steffen Kugler

Berliner Zeitung: Frau Spiegel, ist es Ihnen schon gelungen, in Berlin eine Wohnung zu finden für Ihren Mann, vier Kinder und Katze?

Anne Spiegel: Ja, wir hatten Glück. Wir haben auf dem freien Markt eine gefunden, konnten sogar die Katze mitnehmen. Alles ist ganz frisch, man kann noch in Stunden berechnen, wann wir als Familie hier in Berlin angekommen sind.

Berliner Zeitung: Ihre Kinder sind noch klein. Wie ist es für sie, mitten in der Omikron-Krise in neuen Schulen und Kitas anzufangen?

Anne Spiegel: Es ist schwierig in der Corona-Pandemie einen Schulstart hinzulegen. Die Kinder sind es bereits gewohnt, dass alles unter Pandemiebedingungen stattfindet. Nach einer Kita suchen wir noch.

Berliner Zeitung: Etliche Zeitungen haben schon berichtet, dass Ihr Mann seit der Geburt des ersten Kindes im Hauptberuf Vater ist. Mussten Sie ihn zum Rollentausch überreden?

Anne Spiegel: Nein, überhaupt nicht. Doch wundert mich, dass ich so häufig gefragt werde, wie viel Hausarbeit ich denn genau mache.

Berliner Zeitung: Wenn der Mann für eine große Kinderschar sorgt und die Frau in der Politik Karriere macht, ist das immer noch etwas Besonderes.

Anne Spiegel: Mir ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass auch Männer, die zu Hause sind, von Diskriminierung betroffen sind. Und ob man als männlicher Minister auch gefragt wird, wie viel Hausarbeit man macht?

Berliner Zeitung: Sie waren schon fünf Jahre Familienministerin in Rheinland-Pfalz und kurze Zeit Umweltministerin - welche Aufgabe hat Sie mehr interessiert?

Anne Spiegel: Beides sind reizvolle Aufgaben. Als Familienministerin kann ich zu meinen Herzensthemen zurückkehren, die nah dran sind am Leben der Menschen. Als Umweltministerin habe ich mich mit den großen Linien beschäftigt: Wie muss die Energieversorgung aussehen in fünfzehn Jahren, damit wir Klimaneutralität erreichen? Mit sehr technischen Dingen: dem Ausbau der Erneuerbaren, dem Strommarktdesign. Was ich jetzt schon vermisse sind meine Termine als Forstministerin - ich fand es herrlich, in den Wäldern von Rheinland-Pfalz unterwegs zu sein.

Berliner Zeitung: Wie würden Sie den Aufbruch beschreiben, der sich in den letzten Jahren in der grünen Familienpolitik ereignet hat?

Anne Spiegel: Ein Höhepunkt als Landesfamilienministerin war für mich, als die Ehe für alle beschlossen wurde. Der Gesetzentwurf wurde sogar von Rheinland-Pfalz eingebracht, allerdings von meiner Vorgängerin, da will ich mich nicht mit fremden Federn schmücken! Das war eine wichtige Etappe, und jetzt haben wir noch viel mehr vor. Wir wollen die Vielfalt von Familien stärken: Alleinerziehende, Patchwork, Regenbogen, die Kinderreichen ... In den letzten Jahren ist eine neue Vielfalt von Familien entstanden, die wir endlich auch im Recht abbilden wollen.

Berliner Zeitung: Da gibt es erfreuliche Entwicklungen wie zum Beispiel die gemeinsame Elternschaft von lesbischen Paaren. Aber traurig sind die vielen Trennungen. Für die betroffenen Kinder sind sie fast immer eine Katastrophe. Im Koalitionsvertrag heißt es: Man wolle die Trennungsberatung verbessern "und dabei das Wechselmodell in den Mittelpunkt" stellen. Sollen dann alle Trennungsfamilien das Wechselmodell leben?

Anne Spiegel: Nein, es gibt keine pauschale Lösung. Für manche Familien ist das Wechselmodell genau das Richtige, für andere genau das Falsche. Eine gute Beratung ist von unschätzbarem Wert, um das richtige Modell zu finden. Wichtig ist, dass dabei der Blick auf das Kindeswohl gerichtet wird.

Berliner Zeitung: Was wollen Sie in dieser Legislatur unbedingt erreichen?

Anne Spiegel: Mit einer Kindergrundsicherung können wir viele Kinder aus der Armut holen. Dann will ich bei der Gleichstellung weiterkommen, beim Kampf gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, bei der Demokratieförderung.

Berliner Zeitung: Die Kindergrundsicherung ist wohl das größte und schwierigste Vorhaben. Sie sagten, dass diese kein neues Label auf alten Leistungen sei, sondern ein Paradigmenwechsel. Inwiefern?

Anne Spiegel: Wir müssen wegkommen von dem Herumdoktern an einem System, das Kinderarmut nicht nachhaltig bekämpft. Gegenwärtig gibt es ungefähr 150 familienpolitische Leistungen. Und man muss sich schon sehr hineinknien, um zu verstehen, wo und wann man die als Eltern jeweils beantragen kann, welchen Anspruch man hat.

Berliner Zeitung: Mit der Folge, dass die Leistungen oft gar nicht beantragt werden. Den Kinderzuschlag beantragen zum Beispiel nur 30 Prozent der anspruchsberechtigten Familien.

Anne Spiegel: Deshalb wollen wir ein System schaffen, das einfacher wird. Alle bisherigen Leistungen - Kindergeld, Sozialleistungen für Kinder, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie den Kinderzuschlag wollen wir in einer einzigen Leistung bündeln. Diese soll nach der Geburt eines Kindes automatisiert berechnet und ganz unbürokratisch an die Eltern ausgezahlt werden. Es soll einen Grundbetrag geben und einen einkommensabhängigen Zusatzbetrag.

Berliner Zeitung: Wollen Sie auch ein neues soziokulturelles Existenzminimum festschreiben?

Anne Spiegel: Geplant ist, dass wir eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe einsetzen. Gemeinsam mit dem Arbeits- und Finanzministerium werden wir uns auf ein Modell verständigen und die Höhe des Betrags. Auch die Frage nach dem Existenzminimum wird Gegenstand sein.

Berliner Zeitung: Die Idee einer eigenständigen Existenzsicherung für Kinder gibt es schon lang. Ihre Vorgängerinnen Renate Schmidt und Ursula von der Leyen haben vergeblich versucht, etwas Ähnliches durchzusetzen. Was macht Sie zuversichtlich, dass Sie diese große Aufgabe stemmen können?

Anne Spiegel: Also ich nehme eine große Entschlossenheit wahr aufseiten der Bundesregierung. Für manche Vorhaben braucht es einen langen Atem, und ich hoffe, dass wir am Ende der Legislatur sagen können, der lange Atem hat sich gelohnt.

Berliner Zeitung: In der Ära von der Leyen hieß es, dass die Einführung einer Kindergrundsicherung etwa 36 Milliarden kosten würde. Wissen Sie, wo im Haushalt Sie diese große Summe abzweigen wollen?

Anne Spiegel: So würde ich das nicht formulieren. Denn jeder Euro zur Bekämpfung von Kinderarmut ist ein sehr gut investierter Euro. Um Details zur Kindergrundsicherung zu entwickeln, setzen wir eine Arbeitsgruppe mit den beteiligten Ressorts unter Leitung meines Ministeriums ein.

Berliner Zeitung: Zeit für Familien - warum ist das wichtig?

Anne Spiegel: Wenn ein Rat von Generation zu Generation weitergegeben wird, dann der: Dass man sich wirklich Zeit nehmen soll für seine Kinder. Früher dachte ich: Ach, was mir meine Oma so erzählt ... Aber letztlich stimmt es, dass die Kindheit der eigenen Kinder eine sehr besondere Zeit ist, die nicht wiederkommt. Und selbstverständlich muss der Staat gute Rahmenbedingungen schaffen, damit Familien Zeit miteinander verbringen können.

Berliner Zeitung: Bedeutet die neue Zeitpolitik der Grünen auch einen Abschied von der neoliberalen Arbeitsgesellschaft?

Anne Spiegel: Wie meinen Sie das?

Berliner Zeitung: Wir leben ja doch in einer Zeit, wo sich viele Eltern sehr stark über die Erwerbsarbeit definieren, immer mehr arbeiten und es für die Familien zeitlich eng wird.

Anne Spiegel: Ja, es gibt gewaltige Umbrüche. Stichwort Homeoffice, aber auch Stichwort Entgrenzung. Deshalb ist es auch meine Aufgabe zu prüfen: Was die Digitalisierung der Arbeitswelt mit dem Familienleben macht, wo Chancen liegen, aber auch wo neuer Druck entsteht? Ich glaube, dass viele Familien vor der Herausforderung stehen, hochwertige Zeit miteinander verbringen zu können.

Berliner Zeitung: Sind in Ihren Augen Erwerbsarbeit und Care-Arbeit gleich viel wert?

Anne Spiegel: Wenn man von "Arbeit" spricht, denken die meisten sofort an die bezahlte Arbeit. Wir brauchen da einen anderen Blick: Die Sorge für Kinder, die Pflege von Angehörigen, das ist für unsere Gesellschaft von unschätzbarem Wert, auch wenn das nicht die gleiche Sichtbarkeit hat wie die Erwerbsarbeit.

Berliner Zeitung: Was glauben Sie: Kann man Feministin sein und sich in einer bestimmten Lebensphase auf Care-Arbeit spezialisieren?

Anne Spiegel: Feminismus bedeutet für mich nicht, dass man mit Care-Arbeit nichts mehr zu tun haben will.

Berliner Zeitung: Es gibt eine Strömung im 68er-Feminismus, die sagt: Du kannst nur eine befreite Frau sein, wenn du eine berufstätige Frau bist. Und damals war diese Rhetorik nötig, weil sie den Frauen neue Möglichkeiten eröffnet hat. Aber heute ist sie eher kontraproduktiv, weil sie Care-Arbeit abwertet und die Wahlfreiheit von Frauen und Männern einschränkt. Sie haben ja eindrücklich geschildert, wie Ihr Mann diskriminiert wird, weil er im Hauptberuf Vater und Hausmann ist.

Anne Spiegel: Ich glaube, dass die Feministinnen 1968 genau das Richtige getan haben, als sie für mehr berufliche Möglichkeiten auf die Straße gegangen sind. Doch heute kommt der Druck von zwei Seiten: Wenn man als Mutter einen Beruf hat, steht immer die Frage im Raum, ob mit ihrem Familienleben alles in Ordnung ist. Und auf der anderen Seite wird die feministische Gesinnung bezweifelt, wenn eine Frau sagt, ich möchte Care-Arbeit machen.

Berliner Zeitung: Im Mittelpunkt der grünen Familienpolitik steht das Ideal der Partnerschaftlichkeit. Heißt das, dass die Elternpaare Erwerbsarbeit und Care-Arbeit gleichmäßig aufteilen sollen, und jeder in jeder Lebensphase beides macht?

Anne Spiegel: Mir ist wichtig, dass jede Familie, jede Partnerschaft, jede Verantwortungsgemeinschaft für sich austariert und entscheidet, wie sie das organisieren möchte. Doch Studien zeigen, dass rund fünfzig Prozent der Mütter sich mehr Zeit für den Beruf wünschen und rund fünfzig Prozent der Männer mehr Zeit für die Kinder. In der Politik sind wir deshalb gefragt, nachzusteuern und diese Form von Partnerschaftlichkeit zu ermöglichen. Es geht nicht darum, jemandem vorzuschreiben, wie er oder sie seinen Familienalltag zu organisieren hat! Doch muss der Staat bessere Rahmenbedingungen schaffen, damit Wunsch und Wirklichkeit nicht so weit auseinanderklaffen.

Berliner Zeitung: Wahrscheinlich ist es klug, dass Sie diesen Umschwung in der Argumentation vollziehen - die Wahlfreiheit in den Mittelpunkt zu stellen und nicht mehr die Umverteilung.

Anne Spiegel: Was heißt hier "Umschwung"? Noch nie wollte ich anderen vorschreiben, wie sie zu leben haben.

Berliner Zeitung: Das glaube ich Ihnen. Aber in der Art, wie die Grünen das 24-monatige Elterngeld konzipiert haben, gibt es doch den Versuch, die jungen Paare zu einem 50:50-Modell zu "erziehen". Und mir scheint, dass die Dreißigjährigen von heute dieses Modell auch vor Augen haben: Im Anschluss an die Elternzeit möchten beide Partner etwa 30 Stunden im Beruf arbeiten und sich die Betreuung der Kinder gleichmäßig aufteilen, zusammen mit Kitas und bezahlten Helfern. Warum auch nicht! Gefährlich ist nur, wenn man sagt: Dieser Hut passt auf jeden Kopf!

Anne Spiegel: Das stimmt, und doch müssen wir die Vereinbarkeitsdebatte vor allem als Umverteilungsdebatte führen!

Berliner Zeitung: Aber vielleicht nicht nur als eine Umverteilung von weiblichen auf männliche Schultern, sondern auch im Lebenslauf. Wir müssen nicht alles auf einmal wollen, sondern können vieles nacheinander machen - studieren, arbeiten, lieben, Kinder erziehen, pausieren, uns weiterbilden, wieder arbeiten, reisen, Enkel hüten. Mit etwas Glück haben wir 90 Jahre Zeit dazu!

Anne Spiegel: In dieser Debatte ist das ein wichtiger Punkt. Feminismus bedeutet für mich nicht, dass man jungen Frauen sagt: Hurra, jetzt habt ihr die Chance, Karriere zu machen und für die kleinen Kinder zu sorgen und die eigenen Eltern zu stützen und außerdem noch den Kuchen für das Schulfest zu backen, sodass sie mit hängender Zunge durch ihren Alltag hecheln und sich fragen, wann kann ich mal durchschnaufen. Ich kämpfe für Gleichberechtigung und nicht für Aufreibung.