Tagesspiegel "Wir Wendekinder" - Beitrag von Bundesministerin Manuela Schwesig

Manuela Schwesig, Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel
Manuela Schwesig© Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel

Die Wende fegte durch den Alltag, durch die Betriebe und durch die Politik. Wir alle können unsere Geschichten dazu erzählen. Jede dieser Geschichten ist anders. Manche jubelten an der brüchig gewordenen Mauer, andere saßen ungläubig vor dem Fernseher. Viele Ostdeutsche waren erleichtert, andere hatten Angst. Wer konnte das, was man dort plötzlich sah, schon sofort einordnen? Ich lese viele solcher Geschichten in diesen Tagen, und mir fällt auf: Wie sich jemand an diese Tage im Herbst 1989 erinnert, hängt zum großen Teil davon ab, welcher Generation er oder sie angehört.

Meine Generation, also diejenigen, die damals Kinder oder Jugendliche waren, hatte oft nur eine Ahnung von der Unterdrückung und den Ungerechtigkeiten in der DDR. Wir erlebten die Freiheit nach dem Fall der Mauer als persönliche Freiheit: Plötzlich standen uns Tür und Tor offen. Gleichzeitig mussten wir uns orientieren in einer Situation, in der alle um uns herum unsicher waren. Allen voran die Eltern, in deren Leben sich alles änderte. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man von heute auf morgen Ziele und Träume neu ausrichten muss. Niemand in meinem Bekanntenkreis hat den Beruf, den er oder sie sich damals gewünscht hat. Meine Generation, die "dritte Generation Ost", musste alles neu denken. Uns eint die Erfahrung von Umbruch in Verbindung mit der Erfahrung von Freiheit. Ich wollte Erzieherin werden, landete im Steuerrecht und bin heute Ministerin. Das Beste daran: Ich kann etwas für und mit Kindern machen. So wie ursprünglich erhofft.

Aber Kinder und Jugendliche leben nicht in Betrieben oder in der Politik. Wir Wendekinder haben das, was im Großen passierte, in der Familie und unter Freunden mitbekommen. Auch dort hat sich natürlich vieles verändert. Aber einige Selbstverständlichkeiten aus dem Familienleben haben wir mitgenommen. Zum Beispiel, dass es möglich sein muss, Familie und Beruf zu haben. Auch mithilfe eines dichten Netzes an Kinderbetreuungsangeboten. Ich musste mich nie rechtfertigen, hatte es deshalb leichter als viele Frauen im Westen. Und ich freue mich sehr, dass wir diese Möglichkeit nun für Familien in ganz Deutschland schaffen.

Die 25 Jahre seit der Wende sind auch eine Geschichte von uneingelösten Versprechen, Schönfärberei und enttäuschten Erwartungen. Mit diesem Frust hat nicht zuletzt die Politik zu kämpfen. Im Herbst 1989 sind die Menschen für freie Wahlen auf die Straße gegangen. Heute gehen viele nicht mehr wählen, andere wählen aus Protest rechtsextrem. Die Botschaft des 9. November 1989 aber ist eine andere: Wir sind das Volk! Wir können das Land verändern! Wir sollten uns daran erinnern. Es ist nötig und es lohnt sich, für Demokratie einzutreten.

Zum Glück gibt es, in Ost- wie in Westdeutschland, viele Menschen, die sich engagieren: gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus, für Demokratie und Beteiligung. Sie machen aus unserem vereinigten Deutschland ein Land, in dem ich gern lebe. "Demokratie leben!", der Titel meines neuen Programms für Demokratie und Vielfalt, steht 25 Jahre nach dem Mauerfall dafür, dass Demokratie und Freiheit nicht selbstverständlich sind. Wir müssen sie jeden Tag neu leben.

Es war mutig, 1989 für die eigenen Hoffnungen und Überzeugungen einzustehen. Denn es war damals durchaus möglich, dass der Mauerfall Gewalt mit sich bringt, vielleicht sogar Krieg ausbrechen lässt. Keine Gewalt - auch das ist eine ganz wichtige Botschaft von 1989. Es war damals eine Botschaft der Kirche, wo der Protest nicht zufällig Unterstützung fand. Die Kirche hatte Räume und Strukturen. Hier konnte man sich einigermaßen geschützt treffen. Manchmal gab es auch eine Druckmaschine für Flugblätter. Es war aber auch der Glaube selbst, der Kraft gab, Mut machte, auf Gewaltlosigkeit zu setzen. Von heute aus, vor dem Hintergrund blutiger Auseinandersetzungen an vielen Orten der Welt, wird es noch einmal besonders deutlich, wie klug es war, darauf zu beharren, friedlich zu bleiben. Wir werden uns in diesen Tagen an vieles erinnern. Wir werden persönliche und kollektive Leistungen würdigen und zurückblicken, Erfolgsgeschichten hören und an diejenigen denken, die im wiedervereinigten Deutschland keinen Platz für sich gefunden haben. Wir sollten aber auch darüber reden, wie die Erfahrungen der Wende die Generationen geprägt hat. Was können wir von denjenigen lernen, die im Umgang mit Unsicherheit und Umbrüchen geübt sind, weil sie im gerade wiedervereinigten Deutschland groß geworden sind oder mit 50 noch einmal neu anfangen mussten? Diese Menschen haben geholfen, aus der alten Bundesrepublik ein modernes Deutschland zu machen. Wir können ihre Erfahrungen heute gut gebrauchen. Hören wir ihnen zu, sie haben etwas zu sagen!