Europas politische Entscheidungsträger richten ihr Augenmerk auf die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung und die wachsende Abgabenbelastung der jüngeren Generation. Die Antworten auf zukünftige demographische und sozialstrukturelle Herausforderungen finden sich laut der deutschen Familienministerin Ursula von der Leyen und ihre dänische Amtskollegin Carina Christensen den Kinderzimmern des Kontinents.
Von Ursula von der Leyen, Bundesfamilienministerin und Carina Christensen, Familienministerin Dänemarks
Kinder sind eines der schönsten Geschenke des Lebens. Sie bereichern unseren Alltag und steigern unsere Lebensqualität. Und es sind nicht zuletzt die Kinder, die unsere Gesellschaft weiterentwickeln werden. Aus diesem Grund ist Familienpolitik auch ein Grundpfeiler der Gesellschaftspolitik.
Grundlage unseres gesellschaftlichen Wohlstands und unserer Wettbewerbsfähigkeit ist, dass ausreichend Kinder geboren werden. Entscheiden sich viele Paare gegen Nachwuchs, hat dies gravierende Konsequenzen. Wenn das Angebot an Arbeitnehmern sinkt und die steigende Lebenserwartung die Anzahl älterer Mitbürger anwachsen lässt, gerät das Verhältnis zwischen Versorgern und Versorgten ins Ungleichgewicht. Dies Problem kann nicht allein durch erhöhte Arbeitseffektivität und -mobilität erreicht werden. Für Wachstum und Innovation unserer Gesellschaften brauchen wir mehr Kinder in den Familien.
Viele junge Menschen in unseren Ländern sind gut ausgebildet und wollen ihre Chancen des beruflichen Vorwärtskommens nutzen. Sie sind sich auch der Anforderungen bewusst, die an ihre beruflichen Kompetenzen und ihren Einsatzwillen gestellt werden. Die Anforderungen im Beruf mit den Wünschen nach Kindern und Familie zu vereinbaren, ist jedoch nicht einfach. Dies führt häufig dazu, dass der Kinderwunsch hinter der beruflichen Entwicklung zurücksteht. Das Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes liegt sowohl in Deutschland als auch in Dänemark bei ca. 30 Jahren.
Charakteristisch für unsere modernen Gesellschaften ist neben der steigenden Lebenserwartung ein erheblicher Geburtenrückgang. Insbesondere Deutschland nimmt mit einer Geburtenrate von rd. 1,4 Kindern einen der letzten Plätze in Europa ein. In Dänemark liegt sie mit 1,8 Kindern pro Frau höher. Hier ist es - wie auch in einigen anderen europäischen Ländern - gelungen, den Geburtenrückgang abzuschwächen, eine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung wird dadurch aber nicht erreicht. Es gibt jedoch Hoffnung, denn in den Wünschen und Lebensentwürfen junger Menschen haben Familie und Kinder nach wie vor einen hohen Stellenwert. Die große Mehrheit wünscht sich Familie und beruflichen Erfolg gleichermaßen. Doch in Deutschland und Dänemark gibt es eine Diskrepanz zwischen den Kinderwünschen und deren tatsächlicher Realisierung. Verlängerte Ausbildungszeiten, späterer Berufseintritt, eine größere Vielfalt von Lebensformen junger Erwachsener und spätere Heirat sind typische Entwicklungen in Europa. Viele Paare schieben ihren Kinderwunsch immer weiter auf - bis es sich nicht mehr realisieren lässt. Mehr als in anderen Ländern ist in Deutschland jedoch Ausbildung und Berufsstart in einer kurzen Lebensphase zusammengepresst ("Rush-hour"). Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit ist deshalb sowohl eine Frage des Nacheinander von Lebensphasen als auch eine Frage des Nebeneinander von beruflichen und familiären Aufgaben.
Das Ziel der Familienpolitik ist darum klar: Es geht darum, positive Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Menschen ihre Familienwünsche realisieren können und durch Kinder in ihre Zukunft investieren. Familien sind Leistungsträger unserer Gesellschaften. Sie müssen in ihrer Leistungsfähigkeit und Eigenverantwortung wirksam gestärkt werden, damit sie Unsicherheiten und wechselnde Anforderungen gut bewältigen können. Starke Familien sind ein Garant für gesellschaftlichen Zusammenhalt, für Wachstum und Beschäftigung.
Dänemark ist - wie andere skandinavische Länder auch - frühzeitig und erfolgreicher als Deutschland den Herausforderungen des demografischen Wandels begegnet. Im Unterschied zu Deutschland werden hier mehr Kinder geboren, ist die Familienarmut geringer; es gibt eine geringere Arbeitslosigkeit und ein höheres Wirtschaftswachstum. Die Erwerbsquote von Männern und Frauen, aber auch von Müttern und Vätern ist höher und es gelingt, mehr Zeit und Raum innerhalb der Arbeitswelt für Kinder zu schaffen. Kinder sind in Tageseinrichtungen gut betreut und schneiden im internationalen Bildungsvergleich besser ab. Dahinter steht die Erkenntnis, dass nicht nur ein Instrument - wie zum Beispiel finanzielle Transferleistungen - notwendig ist, um für Familien gute Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Für eine nachhaltige Familienpolitik ist vielmehr ein wirksames Ineinandergreifen abgestimmter Maßnahmen in den Bereichen Infrastruktur, Zeit und Einkommen notwendig. Deutschland will von den erfolgreicheren Ländern lernen und diesen Weg konsequent gehen.
Ein konkretes Beispiel vernünftiger familienpolitischer Maßnahmen ist eine flexible Elternzeit nach der Geburt eines Kindes. Die dänische Regierung hat eine einjährige Elternzeit eingeführt, die es Eltern ermöglicht, diesen Zeitraum zu teilen, zu verlängern, hinauszuschieben, gleichzeitig in Anspruch zu nehmen oder über einen längeren Zeitraum zu verteilen, während die Arbeit teilweise wieder aufgenommen werden kann. In Deutschland trat 2002 das Elternzeitgesetz in Kraft, das ebenfalls viele Möglichkeiten einer flexiblen Nutzung der Elternzeit erlaubt. Um jungen Familien eine größere finanzielle Sicherheit zu geben und um deutliche Einkommensverluste zu vermeiden, wurde in Deutschland ein Elterngeld mit Lohnersatzfunktion zum 1. Januar 2007 eingeführt. Auch bei diesem familienpolitischen Instrument konnten wir uns in Deutschland an guten Beispielen im europäischen Ausland orientieren.
Familien brauchen eine funktionierende Infrastruktur und familienunterstützende Angebote um das Familienleben und den Familienalltag zu erleichtern. Gut funktionierende Tagesbetreuungsangebote und entsprechende Betreuungsangebote nach der Schule sind hier wichtige Pfeiler. Dänemark hat in den vergangenen Jahren ein System aufgebaut, dass Unsicherheiten von (zukünftigen) Eltern abbauen helfen soll. Erfahrungen mit dem dänischen System haben gezeigt, dass Arbeit und kleine Kinder miteinander vereinbar sind. In Deutschland - insbesondere in Westdeutschland - muss beim Kinderbetreuungsangebot für unter Dreijährige noch einiges getan werden. Das 2005 in Kraft getretene Tagesbetreuungsausbaugesetz verlangt den weiteren Ausbau zu einem bedarfsgerechten Angebot. Der erste Bericht der Bundesregierung zur Ausbausituation zeigt, dass wir in Deutschland auf einem guten Weg sind. Der qualitäts- und bedarfsorientierte Ausbau der Betreuung ist ein wichtiger Beitrag zur Innovationsfähigkeit unserer Länder. Gute Kinderbetreuung und frühe Förderung ermöglichen Kindern echte Chancengleichheit in Bildung und Erziehung und ihren Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit.
Es gibt keine Patentlösung dafür, wie man Erwerbstätigkeit und Familie gut miteinander in Einklang bringen kann. Aber es ist sehr wichtig, dass jede Familie die Möglichkeit hat, entsprechend ihrer Bedürfnisse und Lebensvorstellungen frei zwischen unterschiedlichen Modellen wählen zu können. Die Angebotspalette für Familien mit Kindern reicht von finanziellen Unterstützungen über gute Betreuungs- Dienstleistungsangebote bis hin zu familien- und kinderfreundlichen Arbeitsbedingungen.
Familien müssen sich permanent mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen und Anforderungen auseinandersetzen. Deshalb müssen wir immer wieder neue Ideen und Lösungskonzepte entwickeln. Wie könnten noch bessere Rahmenbedingungen für Familien mit Kindern aussehen? Wie können wir voneinander in Europa lernen? Um gute Lösungen für Familien finden zu können, brauchen wir starke Partner nicht nur in der Politik sondern auch in Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Verhältnisse in Europa unterscheiden sich stark von Land zu Land. Es ist jedoch für alle Familien wichtig, eine gute Balance zwischen Familien- und Arbeitsleben zu finden. Sind auch die Unterschiede im Hinblick auf staatliche Leistungsangebote, die Rolle der Familie in der Gesellschaft und die Regulierung der Kräfte am Arbeitsmarkt von Land zu Land unterschiedlich – die Herausforderungen des Alltags für eine Familie mit zwei erwerbstätigen Eltern sind überall bemerkenswert gleich.
Familien in Europa - in all ihrer Verschiedenheit und Vielfalt - müssen mit ihren Anliegen und Bedürfnissen stärker in den Blickpunkt rücken. Ihnen muss, wenn es benötigt wird, Unterstützung zu teil werden und ihnen müssen größtmögliche Entwicklungschancen eröffnet werden, damit sich mehr Frauen und Männer entsprechend ihrer Wünsche für Kinder entscheiden. Deshalb brauchen wir eine europäische Allianz für Familien.
Eine Europäische Allianz für Familien soll eine Plattform bereitstellen für einen Erfahrungs- und Meinungsaustausch auf allen Ebenen zwischen den Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament sowie weiteren Institutionen der EU, Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft. Sie soll gewährleisten, dass relevante Initiativen auf diesem Gebiet aufeinander abgestimmt sind. Alle Mitgliedstaaten werden von einem solchen Austausch profitieren. In Abstimmung mit anderen europäischen Staaten wird Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 die Europäische Allianz für Familien auf den Weg bringen. Es besteht die berechtigte Chance, dass die Allianz für Familien erfolgreich sein wird, wenn die Mitgliedstaaten diesen Prozess nachhaltig unterstützen und begleiten.