Im Interview mit der Freien Presse spricht Bundesfamilienministerin Kristina Schröder über das Zusammenleben der Generationen und über fehlende männliche Erzieher in Kindertagesstätten.
Freie Presse: Frau Ministerin, im Fernsehen lief kürzlich der TV-Film "Aufstand der Jungen". Er schilderte eine Gesellschaft, in der der soziale Zusammenhalt auf der Strecke geblieben ist, die Jungen die Verlierer sind. War das Schwarzmalerei oder nur ein skeptischer Blick in die Zukunft?
Kristina Schröder: Ich habe den Film nicht selbst gesehen, sondern nur Kritiken gelesen. Demnach wird dort ein sehr düsteres Zukunftsszenario gezeichnet. Ich glaube, in Wirklichkeit sind wir in der Debatte um die demografische Entwicklung weiter. Diskussionen um solch heikle Themen laufen ja meist in drei Phasen ab: Erst Verdrängung, dann die Apokalypse und zum Schluss die realistische Auseinandersetzung damit. Insofern gehört dieser Film für mich in die zweite Phase.
Freie Presse: Welche Rolle spielt angesichts der demografischen Veränderungen die Familie? Muss sie dort einspringen, wo sich der Staat zurückzieht?
Kristina Schröder: Familie ist die Urform menschlichen Zusammenlebens. Ich finde, dass die Familie ein Erfolgsmodell ist, trotz der Abgesänge, die es etwa in den 60er Jahren zumindest im Westen Deutschlands gab. Damals war das Leben in Kommunen für viele das Modell der Zukunft. Natürlich gibt es heute mehr Scheidungen und mehr Mobilität. Viele Kinder wohnen häufig nur bei einem Elternteil, andere leben zwar mit den Eltern zusammen, bekommen sie aber nur selten zu Gesicht. Dennoch glaube ich, dass der Zusammenhalt in der Familie, historisch gesehen, vielleicht so groß ist wie noch nie. Es ist heute weniger die wirtschaftliche Not, die Familien zusammenhält - sondern die innere Bindung. Auch die Kinder sind fast immer Wunschkinder. Insofern ist der tatsächliche Zusammenhalt der Generationen heute sehr viel größer, als man denkt.
Freie Presse: Was können Familien noch aus Ihrem Ministerium erwarten?
Kristina Schröder: Familien brauchen Zeit füreinander. Deswegen setze ich mich für familienfreundliche Arbeitszeiten ein. Generell brauchen wir in den Unternehmen eine Kultur des Respekts vor familiären oder privaten Verpflichtungen. Es muss ja gar nicht immer um Kinder gehen, es geht auch um Ehe oder eine feste Beziehung. Dieser Respekt muss für Frauen und Männer gleichermaßen gelten. Wir müssen weg von der derzeitigen Präsenzkultur in Deutschland, also dem Glauben, dass derjenige der Beste ist, der am längsten an seinem Schreibtisch sitzt. Vielleicht ist er sogar der Ineffizienteste.
Freie Presse: Sie sagten, Familien brauchen vor allem Zeit. Nicht selten wird diese Zeit aber nicht gemeinsam genutzt, sondern Kinder landen vor dem Fernseher und die Eltern erledigen so lange andere Dinge. Sind die Medien neue Herausforderungen für Familien?
Kristina Schröder: Ja, mit Sicherheit. Das heutige mediale Angebot hat sich gegenüber meiner eigenen Kindheit enorm verändert, und so alt bin ich ja noch gar nicht. Meine Eltern hatten erst Kabelfernsehen, als ich etwa 15 Jahre alt war. Vorher bekamen wir nur das Öffentlich-Rechtliche. Internet gab es gar nicht. Mir ist es dabei aber sehr wichtig, dass wir bei den neuen Medien nicht nur die Gefahren sehen - sondern auch die Chancen. Das Internet kann ja zum Beispiel auch genutzt werden, um Freundschaften aufrechtzuerhalten oder um alte Freunde wieder zu finden. Oder ein anderes Beispiel: Wie oft haben Jugendliche vor 20 Jahren denn tatsächlich Briefe geschrieben? Heute kommunizieren sie alle wieder viel mehr schriftlich, etwa in Form von Mails oder über soziale Netzwerke.
Freie Presse: Was raten Sie Eltern und Jugendlichen, die Facebook nutzen?
Kristina Schröder: Ich denke, Eltern müssen mit ihren Kindern Vereinbarungen treffen, wie viel Zeit sie vor dem Computer verbringen dürfen. Wenn die 15-Jährige das Bedürfnis hat, mit ihren Freundinnen detailliert ihren Tagesablauf auszutauschen, finde ich das nicht tragisch: Das habe ich im Alter von 15 auch gemacht - nur eben telefonisch. Die Eltern sollten ihren Kindern aber auch deutlich machen, dass sie mit dem Austausch privater Informationen im Internet umsichtig umgehen müssen und es hier auch Gefahren und Missbrauch gibt.
Freie Presse: Wer vermittelt den Kindern die Kompetenz im Umgang mit den Medien? Viele Eltern sind damit ja meist allein technisch überfordert. Müssten die Schulen diese Lücke schließen?
Kristina Schröder: Es gibt unterschiedliche Wege. Wir haben zum Teil eigene Angebote für Eltern, etwa die Homepage "Schau hin! Was deine Kinder machen". Dort bekommen Eltern Tipps für die Medienerziehung. Außerdem gibt es die Suchmaschine "Blinde Kuh" speziell für Kinder, die sich als Startseite für das Internet eignet. Und es gibt bestimmte Programme für Browser, die nur den Zugriff auf bestimmte Seiten ermöglichen. Das alles können Eltern nutzen. Dennoch sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Ab einem bestimmten Alter ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Kinder ihren Eltern im Umgang mit dem Rechner überlegen sind.
Freie Presse: Wie steht es um die Kompetenz der Kinder und Jugendlichen bei der Beurteilung von Informationsquellen?
Kristina Schröder: Es gibt viele Lehrer, die mir berichten, dass viele Jugendliche unkritisch und unvorsichtig mit Informationen aus dem Internet umgehen. Häufig sind sie nicht in der Lage, die Informationen und unterschiedlichen Quellen richtig zu gewichten. Manche Quellen sind ja mehr, andere weniger zuverlässig, und dafür gibt es auch Indikatoren. Die Vermittlung von Medienkompetenz ist deshalb äußerst wichtig und sollte in der Schule auch eine Rolle spielen.
Freie Presse: Wie wäre es, ganz auf Fernseher und Computer zu verzichten?
Kristina Schröder: Wenn Eltern sich dafür entscheiden, haben sie sich das sicher wohl überlegt. Ich persönlich glaube aber, dass radikale Lösungen nicht weiterführen. Es geht ja gerade darum, einen vernünftigen Umgang mit den Medien zu erreichen. Da können die Eltern viel vorleben. Dass etwa der Fernseher aus bleibt, wenn gegessen wird. Wenn die Eltern ihren Kindern vorleben, dass sich das Leben nicht allein um das Fernsehen dreht, dann geht das auf die Kinder über. Auch wenn sie die Zeitung oder Bücher lesen - oder noch besser: vorlesen - können sie Vorbilder sein.
Freie Presse: Sie widmen sich als Ministerin auch der Jungenförderung. Lange galten Frauen und Mädchen als besonders förderbedürftig. Jetzt sind Jungs die Problemgruppe. Wie konnte es dazu kommen?
Kristina Schröder: Ich glaube, Eltern haben ein Gespür dafür, dass es viele Jungs schwer haben. Der Grund für das Problem ist ein Mangel an männlichen Rollenvorbildern, besonders wenn Kinder bei allein erziehenden Müttern aufwachsen und der Vater sich aus der Verantwortung verabschiedet hat. Oft erleben sie auch in der Kita und in der Grundschule keine männlichen Erzieher oder Lehrer. Und wenn sie dann nicht das Glück haben, einen starken Trainer im Sportverein oder einen engagierten Patenonkel zu haben, kann es sein, dass Jungs bis ins Alter von zehn Jahren weit gehend ohne männliche Vorbilder aufwachsen. Das ist negativ. Es ist aber auch für Mädchen nicht gut. Kinder profitieren davon, wenn sie beide Geschlechter erleben.
Freie Presse: Wie bekommt man mehr Männer in Erziehungsberufe?
Kristina Schröder: Man darf sich sicher nicht der Illusion hingeben, dass wir irgendwann mal 50 Prozent Erzieher in den Kitas haben, ebenso wie wir wohl niemals 50 Prozent Elektrotechnikerinnen haben werden. Darum geht es auch nicht. Ich bin strikt gegen Umerziehung. Aber es wäre ja schon viel gewonnen, wenn all jene Männer, die dieser Beruf interessiert, sich trauen, ihn auch auszuüben. Dass sie es bislang nicht tun, kann nämlich nicht allein eine Frage des Gehalts sein, denn ein KFZ-Mechatroniker verdient kaum mehr. Ein Projekt, das mir deshalb sehr am Herzen liegt, ist die Initiative 'Mehr Männer in Kitas', die ich letztes Jahr gestartet habe. In den meisten Kitas gibt es fast nur Erzieherinnen, dabei können auch männliche Erzieher sehr fürsorglich sein, Windeln wechseln und Tränen trocknen. Und viele von ihnen spielen eher als ihre weiblichen Kolleginnen auch mal Fußball mit den Jungs und den Mädchen.
Freie Presse: Wie kann man mehr Männer für diesen Beruf gewinnen?
Kristina Schröder: In Brandenburg gibt es hierzu eine sehr gute Initiative. Das Land schult seit Jahren arbeitslose Männer zu Erziehern um. Diese Männer haben sich darum beworben. Das Projekt ist sehr erfolgreich. Inzwischen werden diese Brandenburger Erzieher sogar von anderen Bundesländern abgeworben. Deswegen werde ich ein solches Programm auch bundesweit starten.
Freie Presse: Haben Eltern Vorbehalte gegen männliche Erzieher? Vielleicht Angst vor Kindesmissbrauch?
Kristina Schröder: Nach den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen sind diese Bedenken zwar da, aber sie sind nicht sonderlich ausgeprägt. In einer aktuellen Studie haben wir Eltern zu ihrer Einstellung gegenüber Männern in Kitas befragt: 86 Prozent von ihnen sagen, dass sie ihr Kind bedenkenlos einem männlichen Erzieher anvertrauen würden.
Freie Presse: Ab wann wird es dieses bundesweite Umschulungsprogramm geben?
Kristina Schröder: Wir wollen noch in diesem Jahr damit beginnen. Es soll in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit laufen.
Freie Presse: Ab welcher Quote wäre das Ziel erreicht?
Kristina Schröder: Es wäre schon ein großer Erfolg, wenn wir in jeder Kita ein oder zwei Männer hätten.
Das Interview erschien am 15. Januar in der Freien Presse. Das Gespräch führten Torsten Kleditzsch und Alessandro Peduto.