Rede des EU-Kommissars Vladimir Spidla am 17. April 2007 anlässlich des Europäischen Kongresses "Demografischer Wandel als Chance: Wirtschaftliche Potenziale der Älteren", Berlin

Sehr geehrte Frau Ministerin von der Leyen,

sehr geehrte Frau Ministerin Cotman,

sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, diese Konferenz eröffnen zu dürfen. Insbesondere deshalb, weil ich dies zusammen mit Ihnen, Ministerin von der Leyen, Ministerin Cotman und Frau Suckale tun kann - und ich weiß, dass ihnen unser heutiges Thema genauso sehr am Herzen liegt wie mir!

Diese Konferenz spiegelt einen allgemein spürbaren Bewusstseinswandel wider, den die Europäische Kommission mit ihrem Grünbuch zum demografischen Wandel im März 2005 anstoßen wollte.

Und nicht ohne Grund haben mein Kollege Joaquin Almunia und ich unserer Mitteilung vom Oktober letzen Jahres folgenden Titel gegeben : "Der demografische Wandel in Europa -  Von der Herausforderung zur Chance". Es ist höchste Zeit, so dachten und denken wir, mit den Klagen über Bevölkerungsschwund und das alternde Europa aufzuhören!

Natürlich ist der demografische Wandel eine Herausforderung. Aber dabei sollten wir auch nicht die Chancen vergessen, welche mit jeder Herausforderung einhergehen.

André Gide, der große französische Schriftsteller schrieb einmal:

"Das Alter als Abstieg zu betrachten ist genauso ungehörig, wie in der Jugend nur ein Versprechen zu sehen. Jedes Alter ist einer besonderen Vollkommenheit fähig." Und er hatte Recht!

Bezogen auf die Situation älter werdender Gesellschaften heißt das, dass wir die Erfahrungen, Kenntnisse und Leistungen der älteren Menschen besser erkennen und pflegen sollten. Denn darin liegt ein wertvolles Potential. Wenn wir es zum Wohle aller entwickeln, dann können wir die große Chance nutzen, welche die demografische Herausforderung für uns bereithält.

Das Alter muss in unserem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben einen neuen Stellenwert erhalten.

Wir müssen weg von dem Gedanken, dass 'Alter' gleich "Ruhestand, Stillstand und Brache" ist. Erfahrung ist nicht durch Wissen zu ersetzen! Deshalb sind ältere Menschen ein wertvoller Schatz an Erfahrungen und Fähigkeiten. Begünstigt durch den wachsenden Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft, beginnen wir umzudenken.

So wissen wir schon heute, dass sich in der Europäischen Union der Anteil der über 65-jährigen an der Bevölkerung bis 2050 auf etwa 30 Prozent verdoppeln wird. Der Anteil der über 80-jährigen wird sich im selben Zeitraum sogar auf gut über elf Prozent verdreifachen. Schließlich wird die Lebenserwartung weiter steigen. Sie könnte - so die Prognose - europaweit bis ins Jahr 2050 um weitere fünf Jahre anwachsen. Das Alter ist also im Aufschwung!

Unsere heutige Konferenz will sich vor allem der Frage widmen, wie wir in Europa das wirtschaftliche Potential älterer Menschen besser zur Entfaltung bringen können.

Deshalb möchte ich mich nun in den kommenden zehn Minuten auf folgende drei Punkte konzentrieren:

  1. Zunächst werde ich erläutern, dass ältere Menschen ein großes und oft noch ungenutztes Potential als Verbraucher, Arbeitnehmer, Unternehmer oder Berater in unserem Wirtschaftsleben darstellen.
  2. Darauf aufbauend werde ich argumentieren, dass ältere Menschen ihr Potential nur dann entfalten können, wenn die Weichen in Wirtschaft und Gesellschaft jetzt gestellt werden! Konkret bedeutet das, dass wir ihre Bedürfnisse ernst nehmen, das aktive Altern unterstützen und eine nachhaltige Seniorenwirtschaft fördern müssen.
  3. In meinen Schlussfolgerungen werde ich darauf eingehen, was wir auf europäischer Ebene tun können, um das wirtschaftliche Potential der älteren Menschen zu fördern.

I.
Also, zuerst zur Bestandsaufnahme!

Ein höherer Anteil von Senioren an der Bevölkerung bedeutet, dass sie als Verbraucher immer wichtiger werden. Zum Beispiel zeigt die DIW-Studie, die auf dieser Konferenz vorgestellt werden wird, dass Personen über 60 zur Zeit schon ein Drittel des Verbrauches in Deutschland abdecken, und dieser Anteil bis 2050 auf 40 Prozent steigen könnte.

Darüber hinaus braucht eine alternde Gesellschaft auch neue Produkte. Bisher dachten viele beim Konsumverhalten älterer Menschen nur an Heizkissen, Rheumadecken oder die berühmt-berüchtigten Kaffeefahrten.

Doch die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen hat zum Beispiel errechnet, dass die Verkaufszahlen für Autos um fünf bis acht Prozent gesteigert werden könnten, wenn diese nur besser an die Bedürfnisse von Senioren angepasst wären.

Ähnliches kann meines Erachtens auch für Informations- und Kommunikationstechnologien gelten. Bisher verläuft der digitale Graben in unseren Gesellschaften auch zwischen den Generationen. Doch Computer, Internet und Co müssen für alte Menschen kein Buch mit sieben Siegeln bleiben; sie sollten stattdessen an die Anforderungen älterer Menschen angepasst werden.

Auch steckt in Technologien und Dienstleistungen zur Unterstützung und Hilfe älterer Menschen im Alltag ein Wachstumsmarkt: Videotelefone, Spracherkennungsprogramme, Notfall- und Hilfsdienste und so weiter können Senioren ein unabhängiges Leben ermöglichen. Zudem wird im Zuge der Bevölkerungsalterung auch die Nachfrage nach relevanten Gesundheits- und Sozialdienstleistungen steigen. Wer sich heute auf diesen Bereich spezialisiert, dem ist Beschäftigungssicherheit garantiert!

Zu guter letzt dürften Senioren auch als Zielgruppe für die Tourismusbranche immer interessanter werden. Statt der schon erwähnten Kaffeefahrten dürften dann vielleicht Wellness-Angebote an Attraktivität gewinnen.

Aber es geht beim wirtschaftlichen Potential der älteren Menschen nicht nur um den Konsum. Warum sollten Senioren nicht ihr eigenes Unternehmen gründen? Oder als Berater tätig sein? In der Tat gibt es schon viele ermutigende Beispiele, wie zum Beispiel ältere Unternehmer jüngeren Gründern beim Unternehmensstart helfen können. Ihre langjährige Erfahrung ist hier ein unersetzlicher Beitrag und ein großer Gewinn.

Schließlich entdecken wir im Zuge der Alterung der Gesellschaft auch immer mehr die Potentiale älterer Arbeitnehmer. Hier schlummert für den Arbeitsmarkt der Zukunft ein immer wichtiger werdendes Potential. Bis 2030 wird sich in der EU die Anzahl der Arbeitnehmer zwischen 55 und 64 Jahren um 14 Millionen erhöhen.

Doch unabhängig von demografischen Zahlenspielen schätzen heute immer mehr Unternehmen die Kompetenzen der älteren Arbeitnehmer. Wenn verschiedene Generationen miteinander arbeiten, ergänzen sie sich gegenseitig in ihrem Wissen und ihren Erfahrungen. Es werden Synergieeffekte freigesetzt. Der Esprit der Jungen verbindet sich mit der Berufserfahrung der Alten. Und letztlich profitieren alle davon.

Außerdem ist aufgrund der demografischen Entwicklung in manchen Berufen schon jetzt ein Mangel an jüngeren Fachkräften zu verzeichnen, was letztlich die Nachfrage nach älteren Arbeitnehmern belebt.

II.
Die wirtschaftlichen Potentiale der älteren Generation sind also offensichtlich. Was wir jetzt brauchen, sind entsprechende Weichenstellungen in Wirtschaft und Gesellschaft, um sie zur Entfaltung zu bringen.

Zunächst müssen wir die Bedürfnisse der älteren Menschen erkennen und ernst nehmen. Wir brauchen entsprechende Analysen der Bedürfnisse oder des Konsumverhaltens älterer Menschen. Dies ist ein erster Schritt hin zur Förderung einer nachhaltigen Seniorenwirtschaft. Darauf aufbauend können dann Unternehmen entsprechende Produkte und Dienstleistungen entwickeln. Auch bei der Modernisierung der Sozial- und Gesundheitsdienste müssen wir die Bedürfnisse der älteren Menschen verstärkt berücksichtigen.

Schließlich sollten wir im Arbeitsleben das aktive Altern fördern. Dies kann zum Beispiel bedeuten, die unternehmerische Aktivität von älteren Menschen mit speziellen Maßnahmen zur Existenzgründung zu fördern.

Konkret sollten wir uns in Europa endgültig von der Kultur und Praxis der Frühverrentungen verabschieden. Dafür reicht es aber nicht, Frühverrentungen einfach einzuschränken. Wir brauchen vor allem auch Anreize, welche für die älteren Arbeitnehmer den Verbleib im Erwerbsleben attraktiv und möglich machen. Als ich Premierminister von Tschechien war, haben wir ein System eingeführt wonach Menschen für jeden Monat, den sie länger arbeiten, höhere Rente bekommen. Das Renteneintrittsalter ist dadurch von 2000 bis 2005 um 1,7 Jahre auf 60,6 gestiegen. Das ist immer noch zu niedrig, aber über dem europäischen Durchschnitt von 59 Jahren!

Außerdem: Wer rastet, der rostet! Viel mehr als bisher brauchen wir lebenslanges Lernen für alle Altersstufen und hier muss insbesondere Deutschland noch einiges tun.

Wir brauchen außerdem flexible Formen der Arbeitsorganisation, welche ältere Mitarbeiter berücksichtigen. Warum nicht verbreitet Altersteilzeit einführen, wenn sie es den ältern Mitarbeitern erlaubt, im Beruf zu bleiben und somit einen fließenden Übergang in die Pension ermöglicht?

Und schließlich brauchen wir entsprechende Vorsorge bei der Gesundheit und der Sicherheit - am Arbeitsplatz wie im Privatleben -, damit die Menschen so lange wie möglich fit bleiben und ein aktives Leben genießen können.

III.
Im dritten Schwerpunkt möchte ich nun darauf eingehen, was wir im europäischen Rahmen tun können, um die wirtschaftlichen Potentiale älterer Menschen besser zu entwickeln und zu nutzen.

Der Rat für Beschäftigung und Soziales vom 22. Februar diesen Jahres hat die Kommission aufgefordert, im 7. Forschungsrahmenprogramm die Entwicklung von Dienstleistungen und Gütern für ältere Menschen zu unterstützen. Auf diese Weise soll Europa eine bessere Chance erhalten, zu einem Modell für die Seniorenwirtschaft zu werden.

Ich denke, wir könnten vor allem den Bedarf an entsprechenden Gütern oder Dienstleistungen analysieren, Neuentwicklungen in diesem Bereich unterstützen oder ihre Anwendbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit testen. Außerdem hat der Rat die Mitgliedstaaten aufgefordert, passende Rahmenbedingungen für die Entwicklung neuer Märkte im Rahmen der Seniorenwirtschaft zu schaffen.

Die Minister haben am 22. Februar ferner angeregt, dass die Strukturfonds angemessene Gelder für Initiativen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene bereit stellen sollen, um dem demografischen Wandel positiv zu begegnen. Konkret denke ich hierbei an Projekte des mir unterstellten Europäischen Sozialfonds - der mit 70 Milliarden immerhin ein Drittel aller Strukturfonds ausmacht. Diese Projekte sollen das aktive Altern fördern und so mithelfen, die Erfahrungen und Potentiale älterer Menschen für den Arbeitsmarkt zu erhalten. Dafür gibt schon eine ganze Reihe ermutigender Beispiele, zum Beispiel aus Finnland.

Außerdem hat der Rat die Kommission aufgefordert, nächstes Jahr über die Anpassung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen an die Bedürfnisse älterer Menschen zu berichten. Dem werden wir nachkommen.

Schließlich hat der Rat vom 22. Februar auch vorgeschlagen, den Austausch von guten Praktiken, Erfahrungen und Wissen zu fördern. Hier sollten wir im Rahmen bestehender Prozesse einen breiten Dialog und Erfahrungsaustausch führen. Dabei wird es wichtig sein, Partnerschaften zu entwickeln und die Sozialpartner und Nichtregierungsorganisationen zu beteiligen.

Die Kommission wird ihrerseits durch Aktivitäten, wie die alle zwei Jahre stattfindenden Europäischen Demografieforen, die hochrangige Expertengruppe zur Demografie oder den jährlich erscheinenden Demografiebericht zum Austausch von Wissen und zur Analyse demografischer Trends beitragen. Nicht zuletzt wird der erste Demografiebericht der Kommission Ende dieses Monats erscheinen.

Die EU wird auch im Kampf gegen die Diskriminierung älterer Menschen einen Beitrag leisten. Dies geschieht zum einen durch die Europäische Rahmenrichtlinie für die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, deren Umsetzung wir zur Zeit überprüfen. Zum anderen fördern wir die Bewusstseinsbildung im Rahmen des Europäischen Jahres der Chancengleichheit für alle, das Ende Januar in Berlin eröffnet wurde.

Meine Damen und Herren,

Die Lissabon-Strategie bildet einen wichtigen strategischen Rahmen für die Förderung des wirtschaftlichen Potentials älterer Menschen.

So haben wir uns im Beschäftigungsteil der Lissabon-Strategie das Ziel gesetzt, bis 2010 eine Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer von 50 Prozent zu erreichen. Mit aktuell etwa 42,5 Prozent sind wir davon aber noch viel zu weit entfernt!

Ich finde, es ist wichtig, dass dieser Bewusstseinswandel auf breiter Ebene erfolgt. Diese Konferenz wird sicherlich dazu beitragen, ihn auf wirtschaftlichem Gebiet voranzubringen und der Seniorenwirtschaft und dem aktiven Altern Auftrieb zu geben.

Doch wir sollten nicht nur in wirtschaftlichen Kategorien denken, wenn wir den Erfahrungsschatz älterer Menschen würdigen.

Auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, seien es die Familien oder das ehrenamtliche Engagement, können wir von der Erfahrung der älteren Generation profitieren.

Im Endeffekt bietet der demografische Wandel uns die Chance, das Verhältnis zwischen den Generationen neu zu definieren.

Wie gesagt, ein Umdenken ist im Gange, und je mehr gesellschaftliche Bereiche es erfasst, umso besser. Dann würde auch André Gide Recht behalten: jedes Alter ist zu besonderer Vollkommenheit fähig.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!