Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ursula von der Leyen, am 5. Juni 2007 anlässlich der Impulsveranstaltung des Projektes "Kinder brauchen Werte", Berlin

Sehr geehrter Herr Hocke, meine Damen und Herren, ich freue mich, heute Morgen in dieser Runde das erste Referat halten zu können. Ich möchte auch gleich anknüpfen an dem, Herr Hocke, was Sie schon entwickelt haben, nämlich was unsere Aufgabe hier heute und vor allen Dingen in den kommenden Monaten sein wird.

Sie alle haben die öffentlichen Diskussionen mitbekommen in den letzten Wochen und Monaten über das Thema Kinderbetreuung. Ich finde hoch spannend, dass eine solche elektrisierende öffentliche Debatte darüber gelaufen ist. Wir haben im Februar angefangen. Mir kommt es manchmal vor, als wenn wir schon Jahre darüber diskutieren. Im Februar ging es mit der Frage los: Brauchen wir überhaupt Angebote, in welcher Form und welcher Zahl für Kinder unter drei Jahren? Heute ist es so weit, dass Politik zumindest den äußeren Rahmen - unverzichtbare Dinge wie Investitionskosten und Betriebskosten - schafft. Wir sind noch nicht ganz am Ende der Verhandlungen, aber die Signale sind so, dass seitens des Bundes und damit auch der beiden anderen Partner - der Länder und der Kommunen - Mittel zur Verfügung stehen werden und konkrete Gesetze beschlossen werden, die dann ab Januar 2008 in Kraft treten. Das heißt, alle staatlichen Ebenen müssen und werden investieren.

Wir haben außerdem die meines Erachtens viel spannendere Aufgabe zu bewältigen, über die innere Qualität dieses äußeren Rahmens zu sprechen, insbesondere in seiner Beziehung zum Elternhaus und natürlich auch in seiner Beziehung zu anderen familienunterstützenden Orten und Dienstleistungen. Und deshalb lassen Sie mich zunächst einmal darüber reden, was der überwölbende Bogen ist, unter dem wir uns versammeln können, in dem wir miteinander diskutieren. Das ist die die Frage nach der gelingenden Erziehung. Man kann lange über Erziehung diskutieren. Drei Dinge sind für mich ganz am Anfang unerlässlich, und ich denke, darüber besteht weitgehend Konsens. Nämlich erstens, dass Kinder zumindest eine Person verlässlich und dauerhaft brauchen, die sie um ihrer selbst willen liebt. Es ist eigentlich eine absolute Selbstverständlichkeit, aber wir wissen, dass manche Kinder diese Erfahrung nicht machen in ihrem Leben. Zweiter Punkt: Kinder brauchen andere Kinder. Denn Kinder orientieren sich sehr früh schon an anderen Kindern. Sie suchen den Kontakt zu Gleichaltrigen. Sie lernen unendlich viel in der Beziehung mit anderen Kindern: zanken und versöhnen, nachgeben, sich durchsetzen, verhandeln, trösten, sich trösten lassen, andere verstehen, sich verständlich machen. Das sind so einfache Dinge, aber sie müssen täglich und von Anfang an geübt werden und das geht nicht mit Erwachsenen, sondern vor allem mit anderen Kindern. Wenn heute jedes dritte Kind im Kindergartenalter ohne Geschwister aufwächst, dann ist Kinderbetreuung ein Raum, wo diese elementaren Erfahrungen mit anderen Kindern möglich gemacht werden. Der dritte Faktor ist, dass Kinder verlässliche Bindungen und Werte brauchen. Ohne Verbindlichkeit finden Kinder keine Orientierung im Leben. Das gilt genauso für die Beziehung zu anderen Menschen wie für das eigene Handeln.

In unserer Gesellschaft sind Werte, Traditionen, soziale und religiöse Bindungen nicht mehr so selbstverständlich wie früher. Vieles ändert sich und viele Menschen sind unsicher, wie es weiter geht für jeden Einzelnen und jede Einzelne persönlich, aber auch für das ganze Land. Früher war es einfacher zu wissen, was richtig und falsch ist. Aber ich sage auch, es war sicher schwerer, aus dem starr vorgegebenen Korsett herauszutreten. Früher waren Eltern, Lehrer, Lehrerinnen, die Kirche, diejenigen die Werte und Tugenden als selbstverständlich auch in der Erziehung der Kinder vorgaben. Das ist heute anders. Ich würde aber nicht vom Werteverfall sprechen, das ist immer so leicht daher gesagt. Was sich verändert hat, das sind die äußeren Koordinaten: wachsende Weltoffenheit, internationale Verflechtung und Informationsflut - all das führt natürlich zu Unsicherheit. Wie gehe ich damit um? Und deshalb beobachten wir jetzt einen Prozess: Wir suchen jetzt wieder nach alten Werten, um Orientierung in einer modernen Welt zu finden. Ich denke, die heutige Gesellschaft verlangt dabei mehr vom Einzelnen - insbesondere von Vater und Mutter - in der Erziehung. Denn Werte gibt es nur, wenn man über sie spricht, wenn man sie benennt, wenn man sich damit auseinandersetzt. Sie kommen nicht automatisch, man kann sie nicht plötzlich einfordern beim 15-jährigen Kind. Das heißt, Eltern sind viel mehr gefordert, ihren Kindern zumindest das Nachdenken, das Hinterfragen, das Verstehen von Werten nahe zu bringen. Dabei sind sie heute nicht mehr selbstverständlich unterstützt von einer großen Familie oder von einer Dorfgemeinschaft oder von einer intakten Nachbarschaft. Das hat sich verändert.

Die Bedeutung von Werten in einer sonst schier grenzenlosen Welt wächst sogar. Denn Werte sind der innere Kompass auf dem Weg durch das Leben. Und wer diesen inneren Kompass nicht ausbilden kann, hat es schwer mit der Orientierung für ein Handeln in Freiheit und in Verantwortung. Wenn ich sage, Werte wachsen nicht automatisch, dann weiß ich auch: Politik kann da nur begrenzt Einfluss nehmen. Aber Politik kann die öffentliche Diskussion über Werte führen, denn Werte sind dann präsent, wenn man sich mit ihnen auseinandersetzt und sie reflektiert. Es beginnt im Elternhaus, aber das muss genauso aktiv ergänzend, zum Beispiel in der Kita oder in der Schule, stattfinden. Genauso wie wir sagen, Eltern müssen Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder übernehmen - und das kann auch von ihnen erwartet werden -, genauso selbstverständlich müssen wir sagen, auch vom Staat kann Verantwortung erwartet werden. Denn umgekehrt vertrauen ja die Eltern zum Beispiel in der Schule stundenweise ihre Kinder staatlichen Organisationen an. Sie erwarten, dass dort Erziehung stattfindet. Und genau deshalb, meine Damen und Herren, sind wir hier zusammen, um diesen Gedanken herunterzubrechen in den Alltag, in dem Sie maßgeblich handeln.

Lassen Sie mich einige Fakten hinzufügen. Es gibt heute einen breiten alltäglichen Wertekonsens in unserer Gesellschaft. Wir haben in Vorbereitung dieser Veranstaltung beim Allensbach-Institut eine Studie in Auftrag gegeben, die genau diesen Konsens bekräftigt. Über 90 Prozent der befragten Menschen finden zum Beispiel, dass man Kindern Ehrlichkeit mit auf den Weg geben sollte. Damit steht dieser Wert ganz oben an der Spitze. Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit! Es folgen Verlässlichkeit, Toleranz, Rücksicht auf andere, sie werden von mehr als drei Viertel der Menschen als wichtige Werte in der Erziehung betrachtet. Das sind Dinge, für die Kinder sich schon früh interessieren. Sie haben zum Beispiel ein ganz feines Gespür für Gerechtigkeit und Fairness innerhalb einer Gruppe, und zwar Fairness ihnen selbst gegenüber, aber auch Fairness den Gruppenmitgliedern gegenüber. Kinder beobachten sehr genau, wie sich andere Menschen - vor allem andere Erwachsene - verhalten. Meine Erfahrung mit Kindern ist, dass sie Grenzen suchen. Sie testen permanent aus, wie weit sie gehen können. Eine Grenze und ein klares Nein können helfen. Aber jeder, der erzieht, und jede, die erzieht, weiß, dass dies ein ganz spannender Prozess ist, der niemals schablonenhaft vor sich geht. Was vor zwei Jahren ein klares Nein war, kann zwei Jahre später durchaus kein klares Nein mehr sein, insbesondere, wenn die Pubertät kommt mit all ihren Irrungen und Wirrungen. Denn Pubertät heißt typischerweise, dass die Freiräume immer weiter werden, die wir Erwachsenen geben müssen, in dem Grundvertrauen, dass die Jugendliche diese Freiräume dann mit ihrer eigenen Verantwortung ausfüllen. Ein hoch spannender Prozess! Deshalb denke ich, dass es gerade am Anfang so wichtig ist, dass Erwachsene ihren eigenen Standpunkt haben, ihn benennen, begründen, aber ihn vor allem auch vorleben. Gute Erziehung macht Kinder selbstsicher. Sie bildet ein inneres Koordinatensystem aus, oder umgekehrt gesprochen, sie lässt Kinder nicht im Vakuum, in der Beliebigkeit. Erziehung ist anstrengend. Man muss sich kümmern, man muss konsequent bleiben, man muss jeden Tag die gleichen Diskussionen führen. Aber es lohnt sich. Erst in der Interaktion mit anderen Menschen, in diesem täglichen Üben, Streiten, Versöhnen, Verhandeln, lernen die Kinder Regeln respektieren, und sie lernen über sich hinauszuwachsen.

Das Wichtigste ist, dass Erwachsene Kinder ernst nehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Sie müssen andererseits selbst Vorbild sein, weil sie an ihren eigenen Worten gemessen werden. Sie alle kennen das aus der eigenen Erfahrung im Alltag: Die Forderung, Du sollst nicht lügen oder sei fleißig, sei zuverlässig, sei ordentlich, ist schnell im Raum. Aber sobald der eigene Spiegel - "guck nicht so viel Fernsehen!" - einem vorgehalten wird, wird es kritisch.

Erziehung fordert Kraft und das ist manchmal sehr ungemütlich. Genauso wie im Mikrokosmos des Elternhauses muss die staatliche Gemeinschaft dafür sorgen, dass in Kindertagesstätten und Schulen Erziehung stattfindet. Das gelebte Vorbild ist durch keine noch so gute Erziehungstheorie zu ersetzen. Auch das spüren die Menschen. Die Allensbach-Umfrage zeigt, dass neun von zehn Befragten es vor allem wichtig finden, dass Kinder ihre Eltern als Vorbild erleben. Und auch andere Erziehungsprinzipien sind weitgehend Konsens. Das Bedürfnis und die Sehnsucht danach ist nach wie vor verankert, nämlich, dass Kindern nach klaren Regeln und Vorgaben erzogen werden, dass sie schon früh kleine Pflichten und Aufgaben übernehmen, dass sie lernen, Verantwortung für ihr Handeln zu tragen - Selbstverständlichkeiten eigentlich.

Dabei gibt es Unsicherheit darüber, in welcher Form man das einfordern darf, und wer verantwortlich ist. Auch das bestätigt die Allensbach-Umfrage: Fast 70 Prozent der Eltern bis 44 Jahre sind der Ansicht, dass Kinder heutzutage zu wenig Werte und Orientierung vermittelt bekommen. Das ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass sich Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder öfter allein gelassen fühlen. Wenn wir es genau betrachten, meist ist es vor allem die Mutter, die im Alltag erzieht. Selbst der Vater ist oft relativ fern. Je weniger Mehrkindfamilien es gibt, desto weniger Brüder, Schwestern, Cousins, Cousinen, Onkel und Tanten sind selbstverständlich. Dieses Netz ist nicht immer einfach, das ist niemals konfliktfrei, aber es schafft natürlich Beziehung. Es gibt dieses wunderschöne alte afrikanische Sprichwort, Sie alle kennen es, aber ich liebe es und sage es noch einmal: "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen." Diese symbolischen Dörfer gibt es heute kaum noch. Hier, meine Damen und Herren, setzt unsere gemeinsame Verantwortung an. Wertevermittlung ist heute eben angewiesen auf Eltern und Verwandte, aber auch auf die Erzieherinnen und Erzieher, auf die Lehrerinnen und Lehrer, auf die Ärztinnen und Ärzte, auf die Ehrenamtlichen in der Jugendarbeit, auf die Öffentlichkeit, auf die Medien - ich erhebe jetzt keine Anspruch auf Vollständigkeit. Und das afrikanische Dorf, das ich eben zitiert habe, ist nicht zuletzt durch das Internet zum globalen Dorf geworden. All diese Personen und Institutionen stark zu machen für die Vermittlung von Werten, das ist das Ziel unserer "Bündnisinitiative Verantwortung Erziehung". Das ist eine pädagogische Aufgabe, das ist eine didaktische Aufgabe, es geht dabei aber vor allem um eine grundsätzliche Frage, nämlich: Wie wollen wir in unserer Gesellschaft zusammenleben? Gemeinschaft gibt es nur dort, wo Menschen Werte teilen. Vor der Notwendigkeit, sich bewusst für Werte zu entscheiden, stehen jeder und jede Einzelne, aber eben auch wir als offene und pluralistische Gesellschaft. Es geht nicht ohne einen gemeinsamen Kanon.

Wir müssen diese gesellschaftliche Debatte über Werte führen und wir müssen uns fragen: Wie können diese Werte mit Leben und mit Inhalt gefüllt werden - konsensfähig, so offen, dass niemand ausgegrenzt wird, und doch so bestimmt, dass sie wirklich Orientierung bieten? Wie können Werte in einer von religiöser und weltanschaulicher Vielfalt geprägten Gesellschaft verbindlich werden? Gerade muslimischen Migranten erscheint Deutschland häufig als eine Gesellschaft ohne kulturelle Werte. Sie sagen uns: Ihr nehmt eure eigenen Werte nicht ernst. Wo sind sie? Das muss uns zu denken geben! Denn eine Gesellschaft, die ihre Werte nicht vermitteln kann, die sich also über ihre Werte vielleicht gar nicht im Klaren ist, die kann auch nur schwerlich integrieren. Sie alle wissen aus Ihren Alltagserfahrungen, dass Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit Gift sind in der Erziehung. Aber das gilt genauso für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Integration.

Meine Damen und Herren, in eine Debatte über Werte gehört für mich auch der religiöse Gehalt unserer Werte. Zunächst einmal fußt unsere ganze Kultur auf jüdisch-christlichen Wurzeln. Man muss aber nicht Christ oder Christin sein, um Werte zu teilen und Werte zu leben. Es gibt andere Religionen, und es gibt Menschen die sich keiner Religion zuordnen. Sie leben Werte, sie suchen und finden Antworten auf ihre Lebensfragen. Das heißt, in diesem Dialog eröffnet sich für uns das Spannungsfeld. In Deutschland hat jedes dritte Kind unter sechs Jahren ein Migrationshintergrund. Häufig ist dieser Hintergrund muslimisch geprägt. Das heißt, der Dialog und die Auseinandersetzung mit dem Islam gewinnen in der Wertedebatte besondere Bedeutung. Diesen Dialog müssen wir ernsthaft, aufgeschlossen und ehrlich führen. Hier gilt es auch, den Blick auf die Deutsche Islamkonferenz und ihren Prozess zu werfen.

Wir haben uns, meine Damen und Herren, in der "Bündnisinitiative Verantwortung Erziehung" für die kommenden zwei Jahre vier Schwerpunkte gesetzt. Erstens: Wir wollen die Erziehung in den Familien durch wertebezogene Angebote der Familienbildung und Beratung stärken. Zweiter Komplex: Wir wollen die Qualität der Erziehung in der Kindertagesbetreuung durch eine stärkere Berücksichtigung werteorientierter Aspekte verbessern. Dritter Schwerpunkt: Wir wollen die Vernetzung von Kinderbetreuung und Familie stärker fördern. Zunächst einmal, weil wir voneinander profitieren können, aber auch um diejenigen Eltern zu erreichen, die traditionelle Hilfs- und Unterstützungsangebote von sich aus nicht in Anspruch nehmen. Und viertens wollen wir Eltern mit Migrationshintergrund ansprechen und sie stärker auch als Brückenbauer gewinnen, bei der Aufgabe, Werte zu vermitteln, in der Balance von Herkunftsland und unserem Land. Wir haben uns vorgenommen, die Ergebnisse Ende 2008 in Form einer Erziehungscharta öffentlich vorzustellen. Ich lade Sie alle herzlich ein, an der "Bündnisinitiative Verantwortung Erziehung" mitzuarbeiten und sie mit zu gestalten. Man kann es wirklich mit dem Satz unterstreichen: Die Kinder sind es uns wert. Vielen Dank!