Berlin Manuela Schwesig bei der Gedenkstunde am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin,
Sehr geehrter Herr Kessler,
sehr geehrter Herr Neumärker,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren,

I.

Der 1905 geborene Kaufmann Willy Käcker betrieb seit 1933 ein Zigarrengeschäft in Wismar. Er lernte dort Männer kennen und traf sich mit ihnen - man weiß nicht, ob das eine Art schwules Netzwerk war. Die Gerichtsakten legen diese Vermutung nahe.

Jedenfalls war die Verhaftung von Willy Käcker im Juli 1938 nur der Anfang. Auch alle seine Freunde wurden wegen Verstößen gegen Paragraf 175 angeklagt. Das Landgericht Schwerin verurteilte sie zu insgesamt 35 Jahren und fünf Monaten Gefängnis. Nachdem Willy Käcker seine Strafe abgesessen hatte, wurde er ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Er starb dort am 18. Januar 1942 im Alter von 37 Jahren an Unterernährung und einer damit verbundenen Krankheit.

II.

Willy Käcker war einer von vielen Tausend schwulen Männern, die in Konzentrationslager gesperrt wurden. Viele von ihnen wurden dort ermordet. Rund 50.000 Männer wurden nach Paragraf 175 verurteilt. Dieser Paragraf war 1935 erheblich verschärft worden. Über 100.000 Männer wurden auf sogenannten "Rosa Listen" polizeilich erfasst.

Lesbische Frauen wurden ebenfalls diskriminiert. In der Öffentlichkeit durften sie sich nicht als Lesben zeigen. Die gesamte Homosexuellenbewegung wurde zerschlagen: Lokale geschlossen, Vereine verboten, Zeitschriften aufgelöst.

Ich habe die Geschichte von Willy Käcker herausgegriffen, um wenigstens einem der Menschen, an die wir uns heute erinnern, einen Namen zu geben.

III.

Der Landesverband der Lesben und Schwulen in meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern hat diese Geschichten aufgearbeitet in einem Buch mit dem Titel "Verfolgt und vergessen". Nicht nur, weil von vielen Menschen, die im Nationalsozialismus wegen ihrer Homosexualität verfolgt wurden, jede Spur fehlt. Auch, weil die Verfolgung von Homosexuellen lange kein Thema des Gedenkens war. Erst viele Jahre später wurde die Verfolgung homosexueller Menschen als nationalsozialistisches Unrecht anerkannt.

Auch im Nachkriegsdeutschland fand schwules und lesbisches Leben noch lange überwiegend im Verborgenen statt. Die Zahl der Verurteilungen nach Paragraf 175 war in den 50er Jahren kaum niedriger als in den 40ern. Erst 1994 wurde der Paragraf endgültig abgeschafft.

Bis heute sind die nach 1945 Verurteilten nicht rehabilitiert und so mitunter vorbestraft. Zwanzig Jahre nach der Streichung von Paragraf 175 StGB müssen die Opfer der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexualität endlich rehabilitiert werden.

Außerdem gibt es bis heute Diskriminierung und Gewalt. Einige von Ihnen werden diese Erfahrung selbst gemacht haben. Das fängt an bei schwulenfeindlichen Sprüchen im Fußballstadion oder auf dem Schulhof. 7.000 Kinder wachsen in Deutschland in Regenbogenfamilien auf. Diese Kinder haben es oft schwerer, weil sie ausgrenzt werden - vom Umfeld, nicht von ihren Eltern. Und Regenbogenfamilien sind rechtlich immer noch nicht gleichgestellt.

Als wir in der letzten Woche vor meinem Ministerium die Regenbogenflagge aufgezogen haben, habe ich damit eine Riesendiskussion ausgelöst. Es gibt Menschen, die Flagge zeigen. Und es gibt Menschen, die sich hinter der Flaggenordnung verstecken. Ich werde auch im nächsten Jahr wieder Flagge zeigen.

Es geht hier auch nicht nur um den Bundesinnenminister. Ich habe per Brief und per E-Mail viel Zustimmung erhalten. Aber auch Mails wie diese, wo mich ein Mann aus Frankfurt am Main darüber belehrt, dass es sich beim Bundesfamilienministerium um - ich zitiere "ein neutrales Gebäude aller deutschen Mitbürger handelt. Was ist eigentlich in Sie gefahren, auf diesem Gebäude die Flagge einer bestimmten Klientel aufzuziehen?"

Das ist eine der sachlicheren Zuschriften, aber selbst in dieser Mail sind die weiteren Sätze nicht mehr zitierfähig. An solchen verhältnismäßig kleinen Gesten und Gelegenheiten wird deutlich, wie viele Vorurteile noch in den Köpfen stecken.

Und manchmal bleibt es nicht bei der Beschimpfung per Mail: Mehrere Hundert Übergriffe gegen Schwule und Lesben werden allein in Berlin jährlich bei der Polizei angezeigt. Wenn wir uns heute also an die Menschen erinnern, die im Nationalsozialismus wegen ihrer Homosexualität verfolgt wurden, ist dieses Gedenken mit einer klaren Ansage verbunden: Das darf nicht wieder passieren! Nicht im Großen und nicht im Kleinen. Nicht als Verfolgung durch einen Unrechtsstaat und nicht als Diskriminierung im Alltag. Dafür steht hier dieses Denkmal.

Schauen Sie auf die Spuren am Boden: Es steht im Weg. Es zwingt, drumherum zu laufen oder zu fahren. Oder man schaut hinein und hält einen Moment inne. Wir vergessen nicht, und wir kämpfen dafür, dass das, was damals passiert ist, was Menschen anderen Menschen angetan haben, nie wieder passiert.

IV.

Der Tag, an dem wir uns an die Verfolgung von Homosexuellen in der Zeit des Nationalsozialismus erinnern, ist gleichzeitig ein Tag, der wie kein anderer für das Selbstbewusstsein all der Menschen steht, die eine andere sexuelle Orientierung haben.

Der Christopher Street Day. Am Beginn seiner Geschichte stand keine fröhliche Parade, sondern Wut und Kampfgeist. Wut auf die Polizei, Kampf gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung. In englischsprachigen Ländern wird dieser Tag mit dem Begriff "Pride" verbunden. Stolz.

Die Botschaft dieses Tages lautet:

  • Wir wollen nicht geduldet werden.
  • Wir wollen nicht toleriert werden.
  • Wir sind stolz darauf, so zu sein, wie wir sind.
  • Wir gehen auf die Straße. Wir wollen sichtbar sein.

V.

Das ist eine gute, eine stolze, eine positive Botschaft. Wir kämpfen nicht nur gegen etwas, gegen Unrecht und Diskriminierung. Wir treten ein für Vielfalt, für eine bunte, offene Gesellschaft.

Berlin ist heute eine bunte Stadt, in der Homosexuelle dazugehören: im Straßenbild, in den Clubs, in der Kultur, in der Politik. Die Abkürzung LSBTI macht darauf aufmerksam, dass es nicht nur um schwule und lesbische Paare, sondern um die ganze Vielfalt von Lebensweisen, Identitäten und Orientierungen geht.

Homosexuelle und heterosexuelle Menschen sind heute in fast allen Rechtsbereichen gleichgestellt. Unsere Gesellschaft ist offener geworden. Und - der knappe Satz ist zum geflügelten Wort geworden -  das ist auch gut so. Wenn wir gleich losziehen mit der Parade des Aktionsbündnis CSD Berlin, dann feiern wir diesen Fortschritt mit einer bunten und fröhlichen Parade. Vielfalt ist eine Tatsache. Aber wir wissen auch, und diese Gedenkstunde macht es noch einmal sehr deutlich: Homosexuelle haben sich ihren Stolz, ihre Anerkennung und Gleichberechtigung hart erkämpfen müssen. Der CSD ist und bleibt eine politische Demonstration. Wenn es um die Rechte und Chancen der Menschen geht, die anders leben, wird es politisch.

VI.

Ich will mit meiner Politik dazu beitragen, ein modernes und offenes Land zu schaffen. Ich möchte Menschen dabei unterstützen, Vorurteilen zu begegnen und sie abzubauen. Ich bin an der Seite all der Menschen und Organisationen, die diese Gedenkstunde veranstalten, die die CSD-Parade organisieren, die jeden Tag für Vielfalt und gegen Gewalt eintreten.

Wir gehen diesen Weg gemeinsam. Wir werden nur gemeinsam ein weltoffenes Land schaffen, in dem alle ihre Lebensweise, ihre sexuelle Orientierung leben können. Ein Land, in dem die Vielfalt der Lebensentwürfe eine Chance ist. Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten.