Berlin Manuela Schwesig bei der Europäischen Familienkonferenz

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Professor Schwan,
sehr geehrter Herr Dr. Schmidt,
sehr geehrter Herr Mauch,
sehr geehrte Frau Benner,
sehr geehrte Frau Radisch,
sehr geehrte Damen und Herren,

I.

Europa prägt in diesen Tagen das Straßenbild. Die Europawahl steht unmittelbar vor der Tür. In fünf Tagen ist es bei uns soweit.

Die Briten und Niederländer haben sogar schon übermorgen die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben.

Das wird eine historische Wahl. Zum ersten Mal können die Bürgerinnen und Bürger Europas Einfluss darauf ausüben, wer der nächste Präsident der Europäischen Kommission wird. Diese Wahl ist damit ein Signal für mehr Demokratie und mehr Bürgerbeteiligung in Europa. Und das brauchen wir!

Denn Europa und die europäische Idee gehen durch harte Zeiten. Die Krise der gemeinsamen Währung hat deutliche Spuren hinterlassen. Nicht nur, was das Vertrauen in den Euro und die EU anbelangt, sondern auch bei den Menschen, in den Familien und der Arbeitswelt.

  • Rund 5,5 Millionen junge Menschen unter 25 sind arbeitslos in Europa.
  • In zwölf europäischen Ländern hat die Quote inzwischen die 25-Prozent-Marke überschritten.
  • In Griechenland und Spanien sind mehr als die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen ohne Job.

Für viele von ihnen ist Europa kein Symbol der Hoffnung mehr wie noch für ihre Eltern und Großeltern. Sie fühlen sich von Europa im Stich gelassen, wenden sich ab und resignieren. Das ist ein Zustand, der uns alle alarmieren muss.

Was wir jetzt brauchen, ist eine Neubelebung. Nicht weniger, sondern mehr Europa. Das ist der Weg, der uns endgültig aus der Krise führt. Eine Rückkehr zu nationalem Egoismus und Abschottung schadet uns.

Europa, das war immer die Idee von friedlichem Zusammenleben und der Vielfalt als Stärke. Es ging nie darum alles gleich zu machen. Es sind die Unterschiede, die einen fortschrittlichen und modernen Kontinent ausmachen. Wir lernen voneinander und kümmern uns gemeinsam um die besten Lösungen. Diese Idee, dieses Prinzip ist so stark, dass wir es bewahren müssen.

Es geht also um etwas bei dieser Wahl! Und deshalb freue ich mich über eine solche Gelegenheit wie heute, um für Europa zu streiten und die Bedeutung des Zusammenwachsens Europas herausstreichen zu können.

Herzlichen Dank für die Einladung.

II.

Es geht bei dieser Wahl um etwas, weil Europa das tägliche Leben einer jeden und eines jeden einzelnen berührt. Und auch wenn es keine einheitliche europäische Familienpolitik gibt, so wirken sich viele Entscheidungen aus Brüssel auf die nationale Familienpolitik aus.

Sehr oft war Brüssel dabei der Zeit voraus und hat den Fortschritt befördert. So wurde zum Beispiel durch den Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in den europäischen Verträgen das Fundament für eine Arbeitsmarktpolitik gelegt, die die Bedürfnisse von Familien stärker berücksichtigt.

Heute gilt europaweit das Recht auf

  • gleiches Entgelt für Männer und Frauen,
  • Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz,
  • und Mutterschafts- und Elternurlaub.

Gerade in der Familienpolitik lernen wir seit Jahren voneinander in Europa. Die vielfältigen Ansätze in den unterschiedlichen Mitgliedsstaaten helfen dabei uns selbst zu überprüfen und besser zu werden.

Der Blick über den eigenen Tellerrand hilft: So sind uns gerade die skandinavischen Länder um Längen voraus, wenn es um Partnerschaftlichkeit in den Familien, Kinderbetreuung und Karrierechancen für Frauen und Männer geht.

Zudem gibt es Trends, die wir in fast allen europäischen Ländern beobachten können. Bei all den unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangslagen haben die Familien doch eines gemeinsam: Sie sind unzufrieden mit der Zeit, die sie gemeinsam als Familien verbringen können.

Von Nord nach Süd, von Ost nach West: Alle Familien haben den Eindruck, dass sie ihr Familienleben an den Bedürfnissen der Arbeitswelt ausrichten müssen. Und nicht, dass sich Arbeitsverhältnisse an ihrem Familienleben orientieren. So das Ergebnis einer europaweit angelegten Befragung zur Lebensqualität.

Die Gründe sind dabei höchst unterschiedlich: In den nordischen Ländern, den Benelux-Staaten und Frankreich ist zu viel Zeit für den Beruf nötig, was zu einem Mangel an Zeit in der Familie führt.

In den zentral– und osteuropäischen Ländern sind die Arbeitsbedingungen schlechter. Die Beschäftigten sind erschöpft, und darunter leidet das Familienleben.

In Deutschland und den angelsächsischen Ländern sieht es anders aus. Hier herrscht nach wie vor eher die klassische Aufteilung vor: Der Mann bringt das Geld nach Hause, die Frau kümmert sich um Haus und Kinder und verdient dazu. Damit sind Mütter und Väter auch bei uns unzufrieden. Sie haben zu wenig Zeit für Beruf und Familie.

  • Bei uns sind 91 Prozent der Väter erwerbstätig - fast alle in Vollzeit.
  • Dabei würden drei Viertel der Väter mit Kindern unter 18 Jahren gerne weniger arbeiten.
  • Auf der anderen Seite sind nur 66 Prozent der Mütter berufstätig - und das im Schnitt mit 17 Stunden die Woche. Das ist nicht sonderlich viel.
  • 60 Prozent der Paare mit kleinen Kindern halten eine Partnerschaftlichkeit bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für das ideale Lebensmodell. Allerdings gelingt es nur 14 Prozent der Eltern, diesen Wunsch auch umzusetzen.

Diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit will ich überwinden. Wir müssen jungen Menschen die Möglichkeit geben, gleichzeitig ein erfülltes Leben mit Kindern zu haben und sich beruflich verwirklichen zu können.

Hier will ich ansetzen: Nicht die Familien müssen flexibler werden, sondern unsere Arbeitswelt! Das gilt für Deutschland ebenso wie für Europa.

III.

Ich habe dazu zu Jahresbeginn bei uns eine Debatte angestoßen. Die Debatte um eine Familienarbeitszeit, denn sie entspricht den Wünschen der jungen Frauen und Männer.

Mit der Familienarbeitszeit habe ich klar gemacht, wie ich mir eine familienfreundliche Arbeitswelt vorstelle: Wenn beide Eltern ihre Arbeitsstunden eine Zeit lang etwas reduzieren können, bleibt für beide genug Zeit für die Familie, und niemand muss seine beruflichen Ziele gefährden.

Die Familienarbeitszeit ist Bestandteil meiner Vision von einer neuen Familienpolitik, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern soll, Familien mehr Flexibilität gibt und die Partnerschaftlichkeit innerhalb der Familie fördert.

Den ersten Schritt auf dem Weg zu einer Familienarbeitszeit bin ich mit dem ElterngeldPlus auch bereits gegangen. Mir ist vor allem wichtig, dass Eltern schon in der frühen Familienphase die Möglichkeit haben, in eine partnerschaftliche Aufteilung hineinzufinden.

Das Elterngeld hat gezeigt, dass gesellschaftliche Veränderungen möglich sind. Beim Elterngeld haben wir übrigens von unseren europäischen Nachbarn gelernt. Die Schweden haben es vorgemacht.

Und die europaweit höchste Beteiligung der schwedischen Männer an der Haus- und Familienarbeit lässt sich nicht zuletzt durch die aktive Förderung von Männern im Rahmen der schwedischen Elternzeit erklären.

Die Eckpunkte des ElterngeldPlus habe ich Ende März vorgestellt. Jetzt befinden wir uns mit dem Gesetzentwurf in der Ressortabstimmung.

Bislang wird das Elterngeld nur in den ersten 14 Monaten nach der Geburt eines Kindes gezahlt. Wenn Mütter oder Väter heute schon früher in der Elternzeit in Teilzeit wieder in den Job einsteigen, haben sie einen Nachteil. Sie verlieren nämlich einen Teil ihres Elterngeldanspruchs.
Mit dem ElterngeldPlus wird sich das ändern. Wer künftig in Elternzeit Teilzeit arbeitet, bekommt doppelt so lange Elterngeld. Wenn Vater und Mutter beide Teilzeit arbeiten, und zwar 25 bis 30 Wochenarbeitsstunden, soll es darüber hinaus einen Partnerschaftsbonus geben.

Mehr Zeit für Familie, und zwar für Mütter und Väter: Das ist das Ziel dieses Gesetzes.

Und das ElterngeldPLUS trifft den Nerv genau bei jungen Menschen, die vor der Familiengründung stehen und ihren Job nicht hintenanstellen wollen. 70 Prozent der jungen Leute befürworten die neuen Optionen beim Elterngeld!

IV.

Für eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss auch die Kinderbetreuung stimmen. Wir sehen an den skandinavischen Ländern, dass gute Kinderbetreuung das A und O für eine hohe Erwerbstätigkeit von Frauen und gerade jungen Müttern ist. Außerdem erhalten Kinder mit schlechteren Startchancen durch Kinderbetreuung bessere Entwicklungschancen. Deshalb finde ich den Ausbau der Kinderbetreuung wichtig.

Wichtig ist dabei, dass es nicht nur um die blanke Zahl der Betreuungsplätze geht. Qualität ist entscheidend! Familien wollen ihre Kinder gut betreut sehen!

Unsere Bemühungen in punkto Ausbau der Kinderbetreuung werden übrigens in Frankreich intensiv verfolgt. Beim Austausch mit französischen Kolleginnen und Kollegen, den wir seit Jahren pflegen, stand die Kinderbetreuung in letzter Zeit im Mittelpunkt. Dabei ging es um die Sicherung der Qualität und um die institutionelle Betreuung der Kinder unter drei Jahren.

Wir hingegen können gerade bei der Unterstützung von Familien mit vielen Kindern von Frankreich lernen. Wenn Frauen in Frankreich Kinder bekommen, dann bekommen sie meist zwei oder drei, weil sie sich gut unterstützt fühlen. Ich glaube, da können wir in Deutschland noch besser werden.

In Bezug auf partnerschaftliche Arbeitsteilung ist der Handlungsbedarf in beiden Ländern groß: In Frankreich wie in Deutschland wünscht sich jede dritte Mutter eine stärkere Beteiligung der Väter an der Familienarbeit. Der Wunsch nach einer Partnerschaft bei der Aufteilung der Familienarbeit bleibt in beiden Ländern häufig noch unerfüllt.

V.

Partnerschaftlichkeit ist deshalb nicht nur ein familienpolitisches, sondern auch ein gleichstellungspolitisches Thema. In Deutschland werden wir daher auch für Frauen in Führungspositionen gesetzgeberisch tätig.

Und auch hier haben wir von Europa gelernt. In Norwegen gilt seit 2008 für viele norwegische Unternehmen eine Frauenquote: vierzig Prozent weibliche Mitglieder im Aufsichtsrat sind vorgeschrieben, sonst droht gar die Zwangsauflösung.

Was Frauen in Führungspositionen anbelangt, liegen wir weit zurück. Die Appelle und freiwilligen Vereinbarungen der letzten Jahre haben leider keinen Erfolg gebracht.

Deshalb geht an einem Gesetz zu Geschlechterquoten von Aufsichtsräten und zu verbindlichen Zielgrößen für Vorstände, Aufsichtsräte und oberste Managementebenen in Unternehmen kein Weg vorbei.

Das gilt auch für den Öffentlichen Dienst und seine Gremien. Und die Wirkung dieses Gesetzes wird sich nicht nur auf die oberen Führungsetagen beschränken. Ein höherer Anteil von Frauen in Führungspositionen wird in der gesamten Unternehmens- und Arbeitskultur einen Domino-Effekt auslösen. Der erste Stein muss nur erst einmal fallen.

Dass die Frauenquote funktioniert, zeigt das Beispiel Norwegen: In Norwegen gibt es in den Verwaltungsräten mittlerweile einen Frauenanteil von fast 44 Prozent. Diese Entwicklung kann direkt auf die Einführung der Frauenquote in Aufsichtsräten zurückgeführt werden.

Zudem sind Unternehmen, die eine bessere Mischung von Teams praktizieren, erfolgreicher. Frauen in Führungspositionen sind ein Garant für den nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg. Das haben zahlreiche Studien längst bewiesen. Eine UN-Studie hat 2012 belegt, dass Unternehmen mit weiblichen Vorständen in OECD-Ländern 42 Prozent höhere Verkaufsgewinne erzielten. Und sogar auf interne Kennziffern, wie die Eigenkapitalrendite, haben Frauen in Führungspositionen eine positive Auswirkung.

Und die Quote ist die notwendige Ergänzung zu partnerschaftlichen Arbeitsmodellen. Die werden nur erfolgreich sein, wenn Frauen nicht nur Familie und Beruf besser vereinbaren können, sondern auch Karriere machen und nicht an gläserne Decken stoßen.

VI.

Dass das gelingen kann, zeigen andere Länder in Europa. Darum ist der Austausch so wichtig und darum geht es in Europa: voneinander zu lernen und die besten Lösungen für Menschen und deren Lebensbedingungen zu finden.

Die Debatte über Europa wurde in den letzten Jahren immer im Krisenmodus geführt. Ich finde, dass wir wieder stärker darüber sprechen müssen, wo Europa uns lehrt, dass sich Anstrengungen lohnen.

  • Die norwegische Wirtschaft ist mit der Frauenquote nicht zusammengebrochen.
  • Die französischen Kinder sind durch frühe Förderung und Betreuung nicht zu sozialen Verlierern oder Außenseitern geworden.
  • Und die schwedischen Männer leiden nicht unter dem Mehr an Zeit, das sie mit ihren Familien verbringen können.

Wir Deutschen tun uns manchmal schwer mit gesellschaftlichen Veränderungen. Hier können wir von vielen guten Beispielen aus unseren Nachbarländern noch dazu lernen.

82 Prozent der Franzosen sagen, ja, wir leben in einem kinderfreundlichen Land. Aber nur 32 Prozent der Deutschen. Das hat eine Studie im Auftrag meines Hauses ergeben. Ich möchte dass mehr Familien dieses Land als kinder- und familienfreundlich empfinden.

Deshalb will ich Eltern neue Entscheidungsmöglichkeiten über die Gestaltung ihres Familienlebens geben – so wie sie es sich wünschen.

Für mich liegt die Zukunft in einem partnerschaftlichen Familienmodell. Für die Familien in Deutschland und in Europa.

Mein Appell zum Schluss für Sonntag: Gehen Sie wählen! Und weil Sie vermutlich ohnehin alle wählen gehen: Überzeugen Sie in den nächsten Tagen noch jemand aus Ihrem Umfeld, auch wählen zu gehen! Europa ist wichtig.