Berlin Manuela Schwesig bei der 1. Lesung zum Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Präsidentin / Herr Präsident!
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete!

I.

In Schwerin hat mir vor ein paar Jahren eine Frau erzählt, wie froh sie war, dass ihr Kind einen Ausbildungsplatz bekommen hat.Zeit für die Frau, durchzuatmen oder beruflich neuen Anlauf zu nehmen. Aber dann kam der Anruf: Der Vater ist gestürzt. Die Knochen sind porös. Ob er jemals wieder laufen kann? Ungewiss.

Es ist für Jugendliche heute leichter geworden, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

Die Herausforderung Pflege aber bleibt und wird größer.

  • Die steigende Zahl der Pflegebedürftigen
  • fordert die Kapazitäten von Pflegeeinrichtungen heraus.
  • Sie fordert die Pflegeversicherung heraus.
    Vor allem aber nehmen die Familien in unserem Land diese Herausforderung an.

Sie leisten einen großen Teil der Sorge für Pflegebedürftige. Sie sind der größte Pflegedienst der Nation.

Über 1,8 Millionen Menschen werden zu Hause gepflegt. Zwei Drittel davon ausschließlich durch Angehörige.

Wir wollen Familien dabei entlasten und unterstützen. Wir stärken Familien den Rücken, wenn die Menschen füreinander Verantwortung übernehmen.

Mit dem Gesetz, das wir heute einbringen, werden wir Familien helfen, Pflege und Beruf besser zu vereinbaren:

  • Mit einer Lohnersatzleistung für die ersten 10 Tage,
  • mit einem Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit
  • und mit zinslosen Darlehen für diese Zeit.

Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – das gehört dazu, wenn wir von Familie reden. So wie die älteren Menschen zur Familie dazugehören.

II.

Für mich ist das ein weiterer Schritt in Richtung Familienarbeitszeit. Wir machen es möglich, eine Zeitlang die Arbeitszeit zu reduzieren, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Klar ist, dass man für die Pflege und Sorge Auszeiten braucht.

Aber man muss nicht über Jahre voll aussteigen. Denn das würde bedeuten: Raus aus dem Job. Weniger Geld. Weniger Rente. Probleme beim Wiedereinstieg. So wie es viele Frauen heute erleben.
Es geht darum, überschaubare Auszeiten und Teilzeitmöglichkeiten zu unterstützen. Zeit für Familie und Zeit für den Beruf.

Das ist moderne Familienpolitik, die auf partnerschaftliche Vereinbarkeit setzt:

  • In der letzten Woche haben wir mit dem ElterngeldPlus den ersten Schritt zur Familienarbeitszeit gemacht.
  • Es erleichtert die Verbindung von Elterngeld und Teilzeitarbeit.
  • Jetzt gehen wir mit dem Gesetz zur Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf den nächsten Schritt.
  • Es wird die Verbindung von Pflege und Teilzeitarbeit fördern.

III.

Eine Frau wie die, deren Situation ich geschildert habe, kann mit dem neuen Gesetz eine Lohnersatzleistung für bis zu 10 Arbeitstage bekommen – das Pflegeunterstützungsgeld. In dieser Zeit könnte sie das organisieren, was für ihren Vater unmittelbar an Pflege nötig ist. Sie könnte zweitens für die Pflegezeit, wenn sie also 6 Monate ganz oder teilweise aus dem Beruf aussteigt, ein zinsloses Darlehen bekommen. Damit sie ihren Lebensunterhalt in dieser Zeit besser bewältigen kann.

Und wenn ihr Vater tatsächlich nicht mehr laufen kann und längere Pflege braucht, hätte sie - und auch das ist neu - einen Rechtsanspruch darauf, die Arbeitszeit bis zu zwei Jahre lang dafür zu reduzieren.

IV.

Sie müsste sich in dieser Zeit nicht allein um die Pflege kümmern.

Das Pflegestärkungsgesetz macht es ihrem Vater leichter, Angebote der Tagespflege oder von ambulanten Diensten in Anspruch zu nehmen. Mehr und bessere Leistungen für pflegebedürftige Menschen sind ebenfalls eine Entlastung für die Familien. Auch dafür haben wir die Weichen gestellt.

Ich freue mich sehr, dass wir bei der Stärkung der Pflege gut mit dem Bundesgesundheitsministerium zusammenarbeiten.

V.

Eine pflegende Tochter oder ein pflegender Sohn sind auch deshalb nicht allein, weil weitere nahe Angehörige ebenfalls die Arbeitszeit reduzieren können. Nacheinander oder gleichzeitig.

Das ist eine Chance für Partnerschaftlichkeit, für Solidarität innerhalb der Familie, und eine Chance dafür, auch längere Zeiten der Pflege abzudecken. Denn mit einem oder zwei Jahren ist es ja oft nicht getan.

Den Kreis der Angehörigen, die die Regelungen in Anspruch nehmen können, ziehen wir mit dem neuen Gesetz weiter. Ab 2015 sollen auch Stiefeltern, Schwager oder Schwägerin und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften Pflegezeit und Familienpflegezeit in Anspruch nehmen können.

Zu einer modernen Familienpolitik gehört, dass unverheiratete Partner genauso wie Ehepartner Anspruch auf Pflegezeit und Familienpflegezeit haben.

Zu einer modernen Familienpolitik gehört auch, dass schwule oder lesbische Paare Zeit für die Pflege ihres Partners bekommen – egal ob sie in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben oder nicht.

Familienleben ist vielfältiger geworden. Das neue Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf geht auf diese Vielfalt ein.

VI.

Neu ist auch eine Familienpflegezeit für Eltern mit minderjährigen Kindern, die in einer Pflegeeinrichtung betreut werden. Zum Beispiel ein Kind mit Down-Syndrom in einer Einrichtung der Lebenshilfe, das nur am Wochenende nach Hause kommt.

Hier geht es weniger um die Pflege, die professionell in der Einrichtung erfolgt. Hier geht es um Zeit für das pflegebedürftige Kind. Um gemeinsame Stunden, um Zuwendung und Zuneigung.
Die Eltern bekommen mit dem neuen Gesetz die Möglichkeit, mehrere Jahre auch unter der Woche bei ihrem Kind zu sein.

VII.

Schließlich haben wir die Möglichkeit geschaffen, Menschen in der letzten Lebensphase nahe zu sein. Sie sind gestern in diesem Haus in die wichtige Diskussion über die Sterbebegleitung eingestiegen. Es war eine bewegende Debatte. Sie hat gezeigt, wie sehr es uns alle beschäftigt, wenn Krankheit und Leid bei Freunden oder in der Familie nicht mehr zu heilen sind. Da gibt es keine einfachen Lösungen.

Wir sind uns darin einig, dass wir alles dafür tun müssen, dass beim Sterben niemand allein ist, so wie es Volker Kauder gestern gesagt hat: "Viele Menschen haben keine Angst vor dem Tod, sondern sie haben Angst vor dem Sterben, Angst davor, in diesem Prozess alleingelassen zu werden. Wir diskutieren im Deutschen Bundestag viel über Würde, Beistand, Hilfen im täglichen Leben. Angesichts dessen kann hier nicht die Antwort sein: Wir lassen euch im Sterben allein. Vielmehr muss die Antwort heißen: Wir werden alles dafür tun, dass im Sterben niemand allein ist, sondern dass er begleitet wird, dass er Beistand hat."

Wir wollen es mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möglich machen, dass er begleitet wird, dass er Beistand hat. Das ist der Wunsch vieler Menschen. Ein berechtigter und wichtiger Wunsch. Wir sollten ihnen diesen Wunsch erfüllen.

VIII.

Vereinbarkeit braucht die Mitwirkung der Arbeitgeber. Das macht der Rechtsanspruch deutlich, den wir für die Familienpflegezeit festschreiben wollen.

Ich bin aber fest davon überzeugt, dass die Unternehmen selbst ein Interesse daran haben, die Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf zu stärken. Denn Vereinbarkeit ist auch für Unternehmen ein Gewinn.

Nehmen wir den Facharbeiter für Automatisierungstechnik oder die Fachärztin für innere Medizin. Das sind nur zwei von vielen sogenannten Engpassberufen.

Für den Arbeitgeber ist es von großem Vorteil, wenn solche Fachkräfte bei einem Pflegefall in der Familie nicht aus dem Beruf aussteigen müssen. Auch für die Wirtschaft ist es gut, dass wir in der Arbeitswelt Strukturen schaffen, die den Menschen die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf erleichtern. Und zwar flächendeckend.

IX.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

viele Menschen möchten für ihre Familie da sein, wenn dort jemand Hilfe braucht.

Manchmal kommt alles gleichzeitig. Der Pflegefall der Eltern und die Einschulung der Kinder. Neue Anforderungen im Job. Manchmal hat man das eine gerade geschafft, und die nächste Herausforderung kündigt sich an. Das ist Stress, das ist das Gefühl, zerrieben zu werden. Und dennoch ist es für viele Menschen selbstverständlich, zu pflegen.

Wir können allesamt dankbar sein für diesen starken Zusammenhalt zwischen Alt und Jung in den Familien. Die Bereitschaft, zu pflegen und zu sorgen, ist auch ein Dankeschön, der Wunsch, etwas zurückzugeben.

Die mittlere Generation wurde von ihren Eltern darin unterstützt, einen guten Beruf zu lernen oder zu studieren. Wenn es später im Schichtdienst eng wurde oder eine Dienstreise anstand, konnten die Kinder zu Oma und Opa gehen.

Wenn die älteste Generation jetzt Hilfe braucht, wollen sie diese Hilfe möglichst lange in den eigenen vier Wänden.

Aber sie wollen sicher nicht, dass ihre Kinder den Beruf dafür aufgeben müssen. Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf ist ein Signal an die Sandwich-Generation und an alle, die zukünftig Verantwortung in der Pflege übernehmen wollen.

Wir lassen Familien nicht im Stich! Wir stärken den Familien den Rücken, wenn die Generationen Verantwortung füreinander übernehmen.

Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.