Berlin Manuela Schwesig bei der Auftaktveranstaltung Jugendstrategie 2015 - 2018 "Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft"

Manuela Schwesig spricht auf der Auftaktveranstaltung zur Jugendstrategie 2015 - 2018
Manuela Schwesig spricht auf der Auftaktveranstaltung zur Jugendstrategie 2015 - 2018© Bildnachweis: Isabel Kiesewetter

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrter Herr Corsa,
sehr geehrte Frau Professorin Böllert,
liebe Jugendliche und junge Erwachsene,
sehr geehrte Damen und Herren,

Ich begrüße Sie und Euch herzlich zur Auftaktveranstaltung der Jugendstrategie 2015 – 2018 unter dem Motto "Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft".

Die Bilanz des letzten Sommerwochenendes einer großen Online-Zeitung hieß: "Massenschlägerei in Berlin: Rund 60 Jugendliche prügeln sich in Neuköllner Freibad". Wären die Jugendlichen mal zuhause geblieben, könnte man denken, aber von wegen. Da sitzen sie nämlich angeblich nur vor dem Rechner. Hunderttausende Jugendliche seien computersüchtig oder zumindest davon bedroht.

Ein bekannter Hirnforscher hat vor ein paar Jahren sogar vor einer - Zitat - "realtitätsfernen Prägung der Gehirne von Kindern" - Zitat Ende - gewarnt, wenn sie zu viel Zeit mit Handy oder Computer verbringen. Was das Komasaufen angeht, haben die Jugendlichen gerade einmal Glück gehabt: Die Zahl geht zurück. Aber, das sagen die Zeitungen gleich dazu: "Grund zur Entwarnung ist das nicht".

Ich will alle diese Probleme nicht verharmlosen. Aber welche Zeitung schreibt über die Millionen von Jugendlichen, die sich freiwillig engagieren? Wer schreibt, um nur mal ein Beispiel zu nennen, über die beiden deutschen Jugenddelegierten bei den Vereinten Nationen, zwei Jugendliche, die ein Jahr lang durchs Land reisen, mit anderen Jugendlichen sprechen und dann in New York die Sicht von Jugendlichen bei Sitzungen der Vereinten Nationen einbringen? Wer schreibt über die Jugendlichen, die sich in ihrer Freizeit bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Sportverein oder im Studentenparlament engagieren?

Ich kann verstehen, dass Jugendliche genervt sind von dem Bild, das die Gesellschaft immer wieder von der Jugend zeichnet. Ich kann verstehen, dass sie sich darin nicht wiedererkennen und sagen: Ohne mich. Ohne mich, sagen viele Jugendliche auch bei politischen Wahlen. Die Wahlbeteiligung ist umso niedriger, je jünger die Altersgruppe ist. Bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen hat nur jede vierte junge Frau zwischen 21 und 25 gewählt.

Geht der Demokratie die Jugend verloren? Ich glaube, dass wir zumindest einen klaren Auftrag haben: Politik muss jugendgerechter werden. Aus Sicht vieler Jugendlicher läuft im etablierten politischen System bislang etwas, das mit ihnen nicht viel zu tun hat und auf das sie keinen Einfluss haben. Politik hat die Interessen, Themen und Denkweisen von jungen Leuten nicht genug aufgegriffen. Und die Jugend hat das Gefühl, unterschätzt zu werden. Von Politik und Gesellschaft. Eine der Jugendlichen hat es im Twitter-Clip gesagt: "Wir haben mehr auf dem Kasten, als ihr vielleicht denkt."

Wir sind heute hier, weil wir ein anderes Bild von der Jugend haben. Und weil wir etwas ändern wollen. Jugendliche sind nicht das Problem. Sie sind die Lösung, weil sie die Zukunft sind. Wir wissen: Jugendliche sind interessiert. Viele sind engagiert. Jugendliche haben etwas zu sagen. Es gibt Familienpolitik, Gleichstellungspolitik, Kinderpolitik, aber bisher keine eigenständige Jugendpolitik.

Ich bin dabei, das zu ändern. Es geht dabei nicht nur darum, was Politik macht, sondern auch darum, wie Politik gemacht wird. Ich will Jugendliche unterstützen und ermutigen, sich einzumischen und ihre Interessen zu vertreten. Es ist wichtig, sie direkt nach ihrer Meinung und ihren Vorstellungen zu fragen. Man kann nicht einfach über ihre Köpfe hinweg entscheiden.

Wir müssen Jugendliche ernst nehmen und ihnen konkrete Angeboten machen, die Zukunft unserer Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Echte Partizipation – Das ist der Grundgedanke der neuen Jugendstrategie.

In den vergangenen Jahren wurde in einem breit angelegten Dialogprozess eine Eigenständige Jugendpolitik entwickelt. Viele, die daran mitgewirkt haben, sind heute hier. Danke für Ihre Beiträge!

Wir sind heute soweit, aus diesem Dialog etwas Neues zu machen. Die Jugendstrategie "Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft". Außerdem haben wir im Bundesjugendministerium die Idee der Partizipation ernst genommen. Seit ich im Amt bin, ist kein jugendpolitisches Projekt, keine jugendpolitische Maßnahme ohne Beteiligung von Jugendlichen gemacht worden.Das Politik-Machen verändert sich dadurch. Gremien werden jünger. Ich finde das gut. Und ich danke allen herzlich, dass sie sich darauf einlassen und bereit sind, Partizipation wirklich ernst zu nehmen!

Die Jugendstrategie soll eine Plattform sein. Bundesweit und ressortübergreifend. Wir laden Länder und Kommunen zur strategischen Zusammenarbeit ein. Viele Länder haben sich schon mit konkreten Initiativen und Programmen auf den Weg gemacht. Die Kommunen und Regionen spielen eine wichtige Rolle, weil sie am nächsten dran sind. Jugendliche machen mit, wenn sie den Eindruck haben: Das hat mit mir zu tun. Das geht mich etwas an. Und das passiert häufig im direkten Lebensumfeld.

Damit die bundesweite Vernetzung gelingt, haben wir die Koordinierungsstelle „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ eingerichtet. Sie wird bis 2018 sechzehn Kommunen auf dem Weg zu mehr Jugendgerechtigkeit begleiten und die Werkzeugbox „Jugend gerecht werden“ für Politik, Fachkräfte und Jugend vor Ort entwickeln.

Die Koordinierungsstelle ist ein Baustein der Jugendstrategie. Ein weiterer Baustein auf Bundesebene ist die Entwicklung eines Jugend-Checks, mit dem die Auswirkungen von Gesetzgebung auf junge Menschen überprüft werden. Den ersten Jugend-Check macht jetzt schon die Bundesjugendministerin. Ich achte bei allen Gesetzen meines Hauses und bei allen Gesetzen, an denen mein Haus beteiligt ist, darauf, dass sie die Belange junger Menschen mitdenken.

Aber beim Jugend-Check geht es nicht nur um das "was" der Politik, sondern auch um das "wie". Zum Beispiel: Welche Beteiligungsformen für Jugendliche sind geeignet? Wir entwickeln den Jugend-Check gemeinsam mit Jugendlichen und einer Reihe weiterer kompetenter Partner.

Ein dritter Baustein der Jugendstrategie ist die AG Jugend gestaltet Zukunft. Das ist eine von zehn Arbeitsgruppen der Demografiestrategie der Bundesregierung. Demografiepolitik ohne Jugendliche geht nicht. Damit Jugendthemen auch in den anderen Arbeitsgruppen mitgedacht werden, hat die Jugend-AG eine sogenannte "Jugend-Brille" entwickelt. Eine Checkliste für Jugendgerechtigkeit. Jede AG soll sich zum Beispiel fragen: "Können wir Themen unserer AG mit Jugendlichen und ihren selbstorganisierten Interessenvertretungen diskutieren, um deren Sicht der Dinge zu erfahren?"

DieArbeitsgruppe "Jugend gestaltet Zukunft"macht das regelmäßig. Sie geht ins Land, trifft Jugendliche und hört ihnen zu. Von Vorpommern-Rügen über Lichtenfels, den Kyffhäuserkreis und den niedersächsischen Landkreis Friesland.Die Jugendstrategie "Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft" ist der politische Rahmen für nationale und europäische Jugendpolitik.

EU-Jugendstrategie und Eigenständige Jugendpolitik wirken zusammen. In diesen Tagen, in denen alle über Griechenland reden, ist das ganz aktuell. Die Jugend im Süden Europas ist von hoher Arbeitslosigkeit betroffen. Das kann uns in Deutschland nicht kalt lassen. Eine Jugendstrategie kann und muss auch die Situation der Jugendlichen in anderen Ländern Europas zum Thema machen.

Wir sind gerade dabei, ein deutsch-griechisches Jugendwerk zu gründen und zu zeigen: Wir lassen die Jugendlichen in Griechenland nicht allein. Europäische Begegnungen sind heute wichtiger denn je; denn persönliche Begegnungen sind das beste Mittel gegen Vorurteile. Ich finde es wichtig, dass eine jugendgerechte Politik nicht an den Landesgrenzen Halt macht, sondern auch den europäischen Gedanken in den Blick nimmt.

Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Jugendverbände, entscheidend für den Erfolg einer jugendgerechten Politik ist selbstverständlich weiterhin ihre Arbeit. Sie geben Jugendlichen einen Ort, um ihr Miteinander zu gestalten. Und sie sprechen in der Öffentlichkeit für die junge Generation. Die Jugendverbände sind über den DBJR an der Jugendstrategie beteiligt. Zu Beginn der Legislaturperiode haben wir die Mittel zur Unterstützung der Jugendverbandsarbeit um eine Million Euro aufgestockt. Ich freue mich, dass es gelungen ist, diese Aufstockung zu verstetigen.

Die Jugendverbände und die Politik stehen bis zu einem gewissen Punkt vor den gleichen Herausforderungen. Eine davon ist Zeit.Die Kinder- und Jugendärzte haben auf ihrem Kongress im letzten Jahr davor gewarnt, dass immer mehr Jugendliche kaum Zeit für Hobbys haben, aber dafür Druck von morgens bis abends.Das hören sie in ihren Sprechstunden.Dabei brauchen Jugendliche und junge Erwachsene unbedingt Freiräume. Zeit für sich. Zeit, in der sie machen können, was sie wollen.Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft heißt deshalb auch: für diese Freiräume zu kämpfen.

Ganztagsschulen sind gut, aus vielen Gründen. Aber Ganztagsschulen müssen sich fragen, wie sie den Tag - und ihre Räume - gestalten, damit Schülerinnen und Schüler genug Freiraum haben. Viele Familien und viele Jugendliche erleben die verkürzte Schulzeit mit dem Abitur nach acht Jahren als Stress. In einigen Bundesländern wird schon diskutiert, ob das G8 wirklich der Weisheit letzter Schluss war.

Außerdem wünschen sich viele Familien eine Entschleunigung morgens. Gerade für den Rhythmus von Jugendlichen in der Entwicklung ist ein Schulbeginn um acht Uhr oft eine Qual. Und erste kritische Stimmen fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, Studentinnen und Studenten möglichst schnell durchs Studium zu schleusen.

Alle diese Fragen sind noch nicht beantwortet. Aber wir müssen diese Fragen diskutieren und offen sein. Eine jugendgerechte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der Jugendliche Zeit für ihre Jugend haben. Das geht auch an die Familien. Eltern, die ihren Kindern möglichst viel Förderung mitgeben möchten, sollten sich fragen und vor allem ihre Kinder fragen: Wann ist es zu viel? Zu viel Druck, zu viel Tempo?

Was Mut macht, ist: Der Großteil der Jugendlichen ist zuversichtlich. Das sagen alle einschlägigen Jugendstudien, und eine Jugendliche in einem der Video-Clips aus unserer Twitter-Kampagne sagt das sehr schön: "Ich mag die Rolle als Zukunftsträger".DieJugend heute ist im Durchschnitt besser ausgebildet, gesünder und zufriedener als jemals zuvor. Und diese Jugendlichen verändern vieles.

Sie hinterfragen zum Beispiel in der Schule, was ihnen geboten wird. Sie ordnen sich nicht einfach unter, sondern sagen, was ihnen nicht passt, und setzen durch, wie es anders sein sollte. Das gilt auch für die Arbeitswelt: Es sieht danach aus, dass die nachwachsende Generation mehr darauf achtet, beim Arbeiten leben zu können, und sich nicht selbst auszubeuten. Das sind gute Voraussetzungen für Partizipation. Jugendliche beteiligen sich, wenn es sie etwas angeht. Und genau da setzt jugendgerechte Politik an.

Mir sind zwei Dinge besonders wichtig:Erstens: Wir wollen mit der Jugendstrategie „Vom Reden zum Handeln“ kommen. Also konkrete Verbesserungen im Leben der Jugendlichen erreichen.Dass die Jugendstrategie zu wirken beginnt, können wir sehen. Mit der Initiative Jugend STÄRKEN bekommen benachteiligte Jugendliche und Jugendliche mit Migrationshintergrund neue Chancen. Erstmals nach sechs Jahren steigt das Bafög. Wir unterstützen Jugendliche, die sich im ländlichen Raum engagieren und mitbestimmen wollen, durch das Programm "Demokratie leben". Und wir haben das Programm "Willkommen bei Freunden" für junge Flüchtlinge gestartet. Auch Kinder und Jugendliche, die nach Deutschland fliehen, haben das Recht auf ein gutes Leben.

Das zweite, was mir wichtig ist: Jugendgerechte Politik ist Politik für, mit und von Jugendlichen. Ich nehme Jugendliche ernst, ich höre ihnen zu und will sie beteiligen.Nicht die Jugend muss der Politik gerecht werden.Wir müssen mit unserer Politik der Jugend gerecht werden.Wie das geht, dabei lernen wir selbst noch. Ich freue mich deshalb besonders auf die Podiumsdiskussion mit den Jugendlichen heute. Die Jugendlichen sind die Expertinnen und Experten in eigener Sache. Schön, dass ihr hier seid!

Ich möchte euch auch ganz herzlich einladen zum jugendpolitischen Abend. Die Erwachsenen dürften natürlich auch kommen. Da geht es noch mal politisch zu mit einer Begrüßung meiner Parlamentarischen Staatssekretärin Caren Marks und einer Podiumsdiskussion. Aber vor allem soll es Gelegenheit zum Gespräch und Austausch geben. Ein weiteres Vorurteil über die Jugend ist bekanntlich, dass sich Jugendliche nur fürs Partymachen interessieren. Ein bisschen Party ist aber gar nicht so schlecht, wenn man zusammen Politik machen will. Viel Spaß auf der Tagung und viel Spaß heute Abend!