Berlin Bundesministerin Manuela Schwesig beim Tag der Mehrgenerationenhäuser

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren,
"Zeit vergeht", sagte ein älterer Ehrenamtlicher, der in einem Mehrgenerationenhaus Hausaufgabenhilfe macht, auf die Frage, wie lange er sich schon engagiert. Ob es nun vier oder sechs oder sieben Jahre sind, war ihm gar nicht so wichtig. Wer einmal mitmacht, sagt er, bleibt dabei!

Zeit vergeht - das gilt auch für die Mehrgenerationenhäuser selbst. Die Häuser haben sich etabliert, ihre Netzwerke wachsen, ihre Angebote entwickeln sich weiter. Die nächste Zeit, nämlich das Jahr 2015, ist im Bundeshaushalt definitiv gesichert. Das hat die Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses in der vergangenen Woche ergeben.

Der Haushaltsausschuss hat darüber hinaus beschlossen, dass die Finanzierung des erfolgreichen Konzepts der Mehrgenerationenhäuser dauerhaft, also auch über das Haushaltsjahr 2015 hinaus, sichergestellt wird. Auch die Haushälter wissen, dass ohne die Häuser - ich zitiere - "ein unersetzlicher Begegnungsort für die Menschen fehlen" würde. Und sie sagen ganz ausdrücklich: "Daher ist es jede Anstrengung wert, hier eine solide Folgefinanzierung, auch durch den Bund, hinzubekommen." Ich werde mich mit voller Kraft und gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag dafür einsetzen.

Der Tag der Mehrgenerationenhäuser ist die Gelegenheit, Ihnen allen für Ihren täglichen Einsatz in den Häusern zu danken und auf Bundesebene kraftvoll zu zeigen, was Mehrgenerationenhäuser leisten. Ich begrüße Sie herzlich an diesem Tag!
Unter den vielen Zahlen, die die wissenschaftliche Begleitforschung erhebt, ist der sogenannte Generationenindex eine der interessantesten. Er misst, wie gut es gelingt, mit den Angeboten in einem Mehrgenerationenhaus tatsächlich alle Generationen zu erreichen. Wären alle Generationen genau gleich vertreten, hätte der Index seinen Höchstwert.

Aktuell liegt er im Durchschnitt aller Häuser bei 0,7. Das ist ein sehr guter Wert. Was aber verbirgt sich hinter dieser Zahl? Zunächst einmal ganz einfache Begegnungen. Eine Kitagruppe verlässt den Mehrzweckraum und macht Platz für die Bewegungsgruppe eines benachbarten Altenheims. Die Rucksäcke der Kinder liegen noch auf dem Boden, die Älteren kurven mit dem Rollator drumherum. Das ist mehr ein Beieinander als ein Miteinander, aber auch das ist Begegnung.

Kleine Kinder bewegen sich anders als ältere Menschen, also kann Mehrgenerationenhaus nicht heißen, dass sie unbedingt zusammen Sport machen müssen, obwohl es sicher auch dafür Beispiele gibt. Aber die ganz normale Begegnung im Alltag ist trotzdem wichtig. Auch und gerade weil sie nicht immer ohne Diskussion und manchmal mit kleinen Konflikten abgeht.

Die älteren Stammgäste sitzen beim Mittagessen, da stürmt eine Gruppe Schulkinder herein. Die haben den ganzen Vormittag gesessen und eine Menge überschüssiger Energie. Die Älteren wollen in Ruhe essen, und einer beschwert sich beim Leiter des MGH: "Schaffen Sie doch mal Ruhe hier!" Aber der sagt: "Nein! Handelt das selbst aus!" Wo gibt es das im Alltag, dass ganz Alte und ganz Junge sich auf gemeinsame Regeln verständigen? Generationenkonflikte wird es immer geben. Da müssen wir durch - jede Generation aufs Neue. Gleichgültigkeit, weil man sich perfekt aus dem Weg geht - das wäre schlimm.

Aber es gibt ja nicht ständig Konflikte. Manchmal wird aus dem alltäglichen Beieinander ein echtes Miteinander mit gegenseitiger Hilfe. Ein pensionierter Lehrer hilft einem Jungen bei den Schulaufgaben. Einmal erzählt er, dass es seiner Frau gerade ziemlich schlecht geht. Und der Junge sagt: "Hm. Meine Mutter ist Physiotherapeutin. Vielleicht kann sie sich das ja mal anschauen." Oder der Junge, der die ältere Frau am Tresen im Café fragt: "Sag mal, was verdienst du hier eigentlich?" Sie sagt: "Nichts. Ich mache das ehrenamtlich. "Der Junge staunt: Wie kann man arbeiten, ohne Geld dafür zu wollen? Aber irgendwann wird er gefragt: "Wir brauchen noch jemand für den Cafédienst. Kannst du dir vorstellen, das zu machen?" Und er sagt ja. Dann arbeitet die ältere Dame den Jungen ein, und vielleicht ist es bald der Junge, der einer neuen älteren Ehrenamtlichen zeigt, wie man den Cafébetrieb am Laufen hält.

Das sind Momente und Geschichten und Beziehungen, an denen man sieht: Die Idee der Mehrgenerationenhäuser lebt! Wir können Kontakt und Normalität und sogar Solidarität zwischen Alt und Jung beleben.

Warum interessiert mich das als Bundesfamilienministerin? Zunächst einmal natürlich, weil ich es einfach stark finde. Weil es mich beeindruckt. Dafür möchte ich Ihnen danken: Danke für die besonderen Höhepunkte, für die schönen Geschichten und beeindruckenden Beispiele aus den Mehrgenerationenhäusern, danke aber auch für das alltägliche Beieinander und Miteinander. Danke für 11.649 Angebote, danke an 17.000 Menschen, die in Mehrgenerationenhäusern freiwillig engagiert sind!

Mich interessiert das, was in den Häusern passiert, auch, weil ich darin ein Bild von Gesellschaft sehe: Eine Gesellschaft, in der alte Menschen nicht allein sind. In der Familien Entlastung finden. In der ein ganzes Dorf oder ein Stadtteil mitwirkt, damit Kinder gut aufwachsen. Eine solidarische Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der ich gern lebe. In den rund 450 Häusern arbeiten Sie an etwas, das ich auch auf Bundesebene voranbringen will. Zeit für Menschen. Miteinander. Partnerschaftlichkeit.

Gerade Familien erleben heute eine Rush Hour. In der Zeit zwischen 25 und 45 Jahren kriegen sie Kinder, sie arbeiten und wollen im Beruf weiterkommen, sie sollen sich möglichst ehrenamtlich engagieren, und sie möchten sich, wenn es so weit ist, auch noch um pflegebedürftige Angehörige kümmern. Das ist Stress pur. Familienfreundlichkeit heißt deshalb heute vor allem: Zeit für Familien. Ich möchte Familien in der Arbeitswelt Zeit freischaufeln: durch eine Familienarbeitszeit, die es Vätern und Müttern erlaubt, in dieser Rush Hour eine Zeitlang ihre Arbeitszeit zu reduzieren.

Mit dem neuen ElterngeldPlus gehen wir einen Schritt in diese Richtung. Genauso wie mit dem Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. Aber Zeit für Familie, Entlastung - das ist auch eine Frage des Alltags. Und da setze ich auf die Mehrgenerationenhäuser. Auf ihre Kinderbetreuungsangebote. Auf ihre Spielzimmer, ihre Chillräume, auf ihre Bildungs- und Unterstützungsangebote ihre Ehrenamtlichen, ihre Beratungsangebote. Auch auf die Gespräche und Ratschläge nebenbei, wenn zum Beispiel eine Alleinerziehende merkt: Es ist nicht nur mein Kind, das nach dem Übergang auf die weiterführende Schule in Mathe absackt. Das Problem haben viele.

Das tut schon mal gut, das zu hören. All das entlastet Familien und besonders die Familien, die keine großen Netzwerke am Ort haben. Oder die alleinlebenden älteren Menschen, die hin und wieder Unterstützung brauchen, aber mit dieser Hilfe dann gut und sehr gerne weiter im gewohnten Umfeld leben können. Mehrgenerationenhäuser sind gelebte Partnerschaftlichkeit für Familien und über Familien hinaus.

Gelebte Partnerschaftlichkeit spielt sich auch noch auf einer anderen Ebene ab, nämlich in der kommunalen Infrastruktur. Wenn ich in Mehrgenerationenhäusern frage, was sich seit dem Beginn des Programms getan hat, dann sagen viele: "Wir haben mehr Partner gefunden und Vertrauen im Umfeld geschaffen. Wir sind die Spinne im Netz."

Ein Mehrgenerationenhaus hat heute im Schnitt 81 Kooperationspartner, sagt die Begleitforschung. Für die Kommune bedeutet das einen echten Mehrwert. Und deshalb freue ich mich auch besonders, dass wir heute neben Vertreterinnen und Vertretern aus den Ländern, Kommunen und Landkreisen auch die drei Kommunalen Spitzenverbände zu Gast haben.

Kooperationen machen es möglich, dass ein Mehrgenerationenhaus, das früher ein reines Jugendzentrum war, heute mehr Angebote für Kinder und Jugendliche macht als vor seiner Entwicklung zum MGH. Das Vertrauen, das durch Zusammenarbeit entsteht, macht es möglich, dass dieses frühere Jugendzentrum zu einer Lokalen Allianz für Demenz einladen kann, und die Pflegedienste und der Pflegestützpunkt fragen nicht: "Was wollen die denn?", sondern sie kommen und arbeiten mit.

Zeit vergeht und Mehrgenerationenhäuser entwickeln sich weiter. Dazu möchte ich Sie zum Schluss ausdrücklich ermutigen. Probieren Sie neue Dinge aus, die Sie wichtig oder interessant finden! Auch wenn nicht alles beim ersten Mal gelingt.

Eine Ehrenamtliche sagt, sie sei ins MGH gekommen mit einem Angebot, das sie ganz wichtig fand. Sie hat das angeboten, aber es wurde nicht angenommen. Dann hat sie etwas anderes gemacht, und es wurde wieder nicht angenommen. Heute betreibt sie mit dem Mehrgenerationenhaus eine Kleiderkammer in einem Flüchtlingsheim, und es läuft super.

Auf die Frage, warum sie nicht frustriert wieder ausgestiegen ist, gab sie zwei Antworten. Die eine war: "Ich konnte hier im MGH immer so sein, wie ich bin. Ich kann einbringen, was ich kann, und habe keine Angst, Fehler zu machen." Ich glaube, das ist eine Stärke der Mehrgenerationenhäuser. Erhalten Sie sich das!

Als zweites sagte sie: "Ich glaube, man braucht einfach einen grenzenlosen Optimismus." Optimismus kann man nicht verordnen und kaum fördern. Aber ich spüre diesen grenzenlosen Optimismus in jedem Mehrgenerationenhaus, verbunden mit zupackender Kraft und ganz viel Leidenschaft. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich auch das erhalten: grenzenlosen Optimismus.

Wir werden das gleich noch einmal bildlich sehen, im neuen Film über die Mehrgenerationenhäuser. Zwei Sätze haben mir darin besonders gefallen:

  • "Jeder kann kommen kann und niemand wird abgewiesen." und
  • "Man hat das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, und das macht Spaß."

Machen Sie weiter etwas Sinnvolles und haben Sie viel Spaß dabei!