Leipzig Bundesministerin Manuela Schwesig bei der Eröffnung des Fachkongresses im Rahmen des 80. Deutschen Fürsorgetages

Manuela Schwesig spricht auf dem Fachkongress des 80. Deutschen Fürsorgetages
Manuela Schwesig spricht auf dem Fachkongress des 80. Deutschen Fürsorgetages© Bildnachweis: Mahmoud Dabdoub

Sehr geehrter Herr Fuchs,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident
sehr geehrte Frau Ministerin
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren,

I.

da es mein erster Fürsorgetag ist, erlaube ich mir zu Beginn eine ganz grundsätzliche Frage: Warum heißt der Fürsorgetag eigentlich noch so? Fürsorge - das klingt doch nicht nur für mich nach Bevormundung. Nach der Haltung: Wir nehmen euch an die Hand und zeigen euch, wie ihr leben und das Leben meistern sollt. Günter Grass hat in einem seiner Bücher, an die DDR adressiert, gesagt: "Eure Fürsorge war Beschattung."

Ich möchte damit nicht eine so ehrwürdige Veranstaltung wie den Fürsorgetag in Grund und Boden kritisieren. Ich weiß, es gibt Traditionen, und was seit 1880 einen ganz bestimmten Namen hat, das benennt man nicht einfach so um. Auch Sie benutzen im Alltag lieber Begriffe wie "Soziale Arbeit" oder Teilhabe. Teilhaben und Teil sein - dieser Titel ist mir sehr sympathisch. Er spricht mein Verständnis vom Sozialstaat an.

Teilhaben - das bedeutet am gesellschaftlichen Leben beteiligt sein, aktiv, über Arbeit, über Anerkennung. Teil sein - das bedeutet aktiv sein, sich einbringen, für sich selbst verantwortlich sein und gleichzeitig auf die Solidarität und Unterstützung der anderen zählen können.

Ich war am Samstag bei einer Dialogveranstaltung mit Alleinerziehenden. Da haben mir viele gesagt: "Ja, wir brauchen Unterstützung. Aber wir wollen nicht die sein, um die sich der Staat kümmert. Wir wollen nicht versorgt werden. Wir wollen eigenständig für uns sorgen können. In eigener Verantwortung." Im Grunde haben sie gesagt: Wir wollen keine Fürsorge. Wir wollen Teil sein und teilhaben.

Wenn der Deutsche Bundestag am Donnerstag ein Paket mit Leistungen für Familien beschließt, dann geht es auch genau darum: teilhaben können. Wir werden den Kinderzuschlag erhöhen, damit Eltern, die arbeiten, aber wenig verdienen, nicht in Hartz IV rutschen. Wir werden endlich, nach 10 Jahren, den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende erhöhen. Das sind keine Versorgungsleistungen, sondern gezielte Unterstützung, damit Familien vom eigenen Einkommen leben können. Und nicht nur leben, sondern teilhaben.

Ich finde, der Sozialstaat muss Eigenständigkeit und Eigenverantwortung stärken. Er muss sich um Kinder kümmern. Denn was wir dort versäumen, lässt sich später nur schwer wieder aufholen. Und er muss das Signal geben: Sich um andere Menschen zu kümmern, ob in der Familie, als Fachkraft oder ehrenamtlich, ist wertvoll und nötig. In jeder Gesellschaft muss immer wieder neu definiert und durchgesetzt werden, wie dieses Sich-Kümmern um Menschen organisiert und bewertet wird.

Dafür sind Fürsorgetage gut. Sie sind wie Kilometersteine an dieser Strecke, an denen man ablesen kann, wie weit man gekommen und wohin man gerade unterwegs ist.

Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, den Fachkongress zum 80. Deutschen Fürsorgetag zu eröffnen. Wer ist Teil unserer Gesellschaft? Wie können wir es schaffen, dass wirklich alle teilhaben? Das sind die Fragen, vor denen wir heute stehen. Ich möchte an drei Beispielen deutlich machen, was das politisch bedeutet.

II.

Mein erstes Beispiel ist die Kinderbetreuung. Da geht es um frühkindliche Bildung - den ersten Schritt zur Teilhabe in unserer Gesellschaft. Es geht um die Teilhabe von Müttern und Väter an der Arbeitswelt mit ihren Chancen. Und es geht um die Teilhabe von Erzieherinnen und Erziehern am gesellschaftlichen Wohlstand.

Seit einigen Wochen sind die Fachkräfte in den Kitas im Arbeitskampf. Eine Frau hat mir geschrieben:"Unsere Familie ist nicht nur durch die wegfallende Betreuung unseres großen Sohnes betroffen, sondern auch, weil der Papa selbst Kinderpfleger und Erzieher in Ausbildung ist. So kann ich den Streik nur unterstützen, damit unsere Gesellschaft erkennt, wer es uns alles ermöglicht, arbeiten zu gehen, ohne ein schlechtes Gewissen unseren Kindern gegenüber zu haben."

Sie haben vermutlich selbst Briefe zu diesem Thema bekommen und wissen: Nicht alle sind so freundlich. Zum Glück sind die Beteiligten im Gespräch und haben sich auf eine Schlichtung verständigt. Ich hoffe, dass sie sich bald einigen; nicht zuletzt im Interesse der Eltern. Ich weiß, wovon ich rede; denn auch die Kita meines Sohnes wurde bestreikt. Im Streik der Erzieherinnen und Erzieher scheint es manchmal so, als stehen sich Eltern und Fachkräfte gegenüber. In Wirklichkeit haben Erzieherinnen, Erzieher und Eltern aber das gleiche Interesse: Sie wollen gute frühkindliche Bildung.

Ich bin zu Beginn des Streiks mit Sigmar Gabriel nach Wetzlar gefahren und habe mit Erzieherinnen und Erziehern gesprochen. Klar, ich kann und will mich nicht in Tarifauseinandersetzungen einmischen. Ich weiß auch um die schwierige finanzielle Situation vieler Kommunen und Träger. Aber wir brauchen eine Debatte darüber, wie viel uns die Arbeit mit Menschen und die frühe Bildung unserer Kinder wert ist. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass immer wieder Frauen diese Arbeit für wenig Geld machen.

Die Erzieherinnen und Erzieher in Wetzlar haben mir gesagt: Die Anforderungen an unsere Arbeit sind gestiegen. Man braucht sich nur unsere Bundesprogramme anzuschauen, die die Qualifikation von Fachkräften unterstützen. In den Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration helfen Sprachexpertinnen und Sprachexperten ihren Kolleginnen und Kollegen dabei, sprachliche Bildung im Kitaalltag zu verankern und mit Leben zu füllen. Im Programm "Lernort Praxis" sind Praxismentorinnen und Praxismentoren dafür verantwortlich, die Praxisanleitung in den Kitas zu stärken und die Zusammenarbeit mit Schulen auszubauen.

Praxiselemente, gelingende Übergänge zwischen Kindergarten und Schule, Sprachförderung, das große Thema Inklusion: Erzieherinnen und Erzieher heißen zwar immer noch so, werden aber mehr und mehr zu Fachleuten für frühe Bildungsprozesse mit all ihren Anforderungen und Tücken. Da hat sich viel geändert. Aber wenn es gut läuft, fühlt es sich für die Kinder nach wie vor an wie spielen. Die klare öffentliche Meinung ist inzwischen: Gute Kinderbetreuung ist gut für die Kinder, weil sie Teilhabe an späteren Berufs- und Bildungschancen sichert. Den Kindern, die noch kein Deutsch können, hilft Kinderbetreuung, die Sprache zu lernen und damit wirklich Teil unserer Gemeinschaft zu werden.

Der Wert von Kinderbetreuung besteht aber auch darin, dass Eltern berufstätig sein können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie wissen ihre Kinder in guten Händen. Und sie können dadurch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie besser bewerkstelligen. Die Generation der heute 25- bis 45-jährigen, der ich selbst und viele von Ihnen angehören, der die jungen Eltern und viele Erzieherinnen angehören, ist eine Generation Vereinbarkeit. Wir wollen Beruf und Familie, beides. Wir wollen teilhaben und Teil sein. Diese Haltung setzt sich bei Frauen mehr und mehr durch. Historisch neu ist, dass sich auch immer mehr Männer Zeit für Familie nehmen. Vereinbarkeit von Familie und Beruf heißt heute: partnerschaftliche Vereinbarkeit. Und die gibt es nicht ohne Kinderbetreuung.

Mehr Kinderbetreuung war deshalb das große Thema der letzten Jahre. Aus Sicht der Kinder und aus Sicht der Familien. Seit August 2013 gilt ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Die Zahl der Betreuungsplätze hat sich seit 2008 fast verdoppelt. Fast 300.000 zusätzliche Betreuungsplätze in sechs Jahren: Das ist eine große Leistung von Bund, Ländern, Kommunen und Trägern. Und der Ausbau geht weiter. Mit dem Gesetz zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen stockt der Bund das bestehende Sondervermögen "Kinderbetreuungsausbau" auf eine Milliarde Euro auf.

Das aktuelle, dritte Investitionsprogramm des Bundes ist auch ein Investitionsprogramm in Qualität. Neu ist, dass mit dem Geld Ausstattungsinvestitionen gefördert werden können. Investitionen in Bewegungsräume, Küchen oder barrierefreie Plätze. Aber für wirklich flächendeckend hohe Qualität im Sinne frühkindlicher Bildung brauchen wir weitere und größere Anstrengungen.

Ich habe mich mit den zuständigen Ministerinnen und Ministern der Länder und mit den Kommunen im November 2014 auf einen Prozess zur Entwicklung gemeinsamer Qualitätsziele für die Kindertagesbetreuung geeinigt. Die Träger sind eng in diese Beratungen eingebunden. Ein solcher Prozess braucht Zeit, nicht zuletzt, weil Verbesserung der Qualität auch heißt: gemeinsam Geld dafür in die Hand nehmen. Dafür müssen wir werben, darauf müssen wir uns einigen, dafür müssen wir auch streiten.

Bitte unterstützen Sie uns dabei, wo es Ihnen möglich ist! Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Dr. Eric Schweitzer, hat vor zwei Wochen klar gesagt: Infrastruktur in Deutschland, das sind nicht nur Straßen, Bahnverbindungen und Brücken. Zur Infrastruktur gehören auch Kindergärten und Ganztagsschulen. Wer alte Fotografien aus der Frühzeit des Kindergartens anschaut - wir feiern ja bald 175 Jahre -, sieht ärmlich gekleidete Kinder unter der strengen Aufsicht von Nonnen vor ihren Suppentellern sitzen.

Heute ist Kinderbetreuung Teil der Infrastruktur unseres Landes, mit ausgeprägten Bildungsaufgaben und Garantin der partnerschaftlichen Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer: So ist aus Fürsorge Teilhabe geworden. So hat sich diese wichtige sozialstaatliche Aufgabe modernisiert. Wenn heute die Erzieherinnen und Erzieher also ihre Forderungen stellen, ist das mehr als ein Tarifkonflikt. Wir verhandeln und organisieren einen wichtigen Bereich von Fürsorge, nämlich das Sich-Kümmern um kleine Kinder, neu. Das ist eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft.

III.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe Ihnen die E-Mail zum Kitastreik noch nicht ganz vorgelesen, weil ich nicht weitere Berufsgruppen zum Streik aufstacheln will. Aber die Frau eines angehenden Erziehers und Mutter schreibt auch, sie würde sich - Zitat – "fast wünschen, dass parallel dazu auch noch die Altenpflegerinnen unseres Landes streiken sollten." Zitat Ende. Erzieherinnen und Altenpflegerinnen streiken gemeinsam: Sicherlich wäre das Chaos größer als beim Bahnstreik.

Auch die Altenpflege ist ein sozialer Beruf, in dem überwiegend Frauen arbeiten und dafür nicht gut bezahlt werden. Auch die Altenpflege ermöglicht es der mittleren Generation, berufstätig zu sein, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben gegenüber ihren pflegebedürftigen Angehörigen. In diesem Bereich des Sozialstaats geht es darum, dass auch alte und pflegebedürftige Menschen ein Teil unserer Gesellschaft bleiben. Es geht um die Teilhabe der Altenpflegerinnen und Altenpfleger am gesellschaftlichen Wohlstand. Und es geht um die Frage: Wieviel Eigenverantwortung ist möglich? Was muss der Sozialstaat gewährleisten?

Die Eigenverantwortung für die Pflege ist in den Familien ungeheuer lebendig. Über 1,8 Millionen Menschen werden zu Hause gepflegt. Zwei Drittel davon ausschließlich durch Angehörige. Die Familien sind der größte Pflegedienst der Nation. Genau gesagt: wiederum die Generation Vereinbarkeit, die arbeitende Mitte der Gesellschaft.

Es ist die Generation, die Infrastruktur und Soziale Arbeit für Menschen braucht. Es ist gleichzeitig die Generation, die in den sozialen Berufen einen guten Teil dieser Arbeit für Menschen leistet. Diese Generation ist auch eine Sandwich-Generation. Nicht unbedingt in dem Sinne, dass sie gleichzeitig Kinder erziehen und ältere Angehörige pflegen. Das trifft nur auf wenige zu. Aber es gibt viele Frauen und mittlerweile auch einige Männer, die jahrelang ihre Kinder großgezogen haben, und gerade als sie im Beruf noch einmal durchstarten wollten, wurden Mutter oder Schwiegervater pflegebedürftig.

Es gibt viele Frauen und Männer, die ihren Kindern gute Eltern und ihren Eltern gute Kinder sein wollen. Das ist die Sandwich-Generation, und ihre Sandwich-Situation hat viel mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu tun. Beim Unternehmenstag "Erfolgsfaktor Familie" vor einigen Wochen wurde deutlich, dass in den Unternehmen der Bedarf der Beschäftigten an Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege wächst.

Manche finden das heute schon dringender als die Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung, wo sich in den letzten Jahren viel verbessert hat. Auch die Politik ist an dieser Stelle gefragt. Für mich ist Vereinbarkeit von Beruf und Familie ganz klar auch Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Pflege. Ein Gesetz dazu ist zu Beginn des Jahres in Kraft getreten. Es gibt jetzt eine Lohnersatzleistung für die ersten 10 Tage, wenn ein akuter Pflegefall eingetreten ist.

Wir haben die Familienpflegezeit mit einem Rechtsanspruch ausgestattet. Mithilfe eines zinslosen Darlehens ist es zudem möglich, den eigenen Einkommensausfall auszugleichen. Gleichzeitig wirkt bereits das erste Pflegestärkungsgesetz. Seit dem 1. Januar sind die Leistungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen spürbar ausgeweitet worden. Zudem wurde die Zahl der zusätzlichen Betreuungskräfte in stationären Pflegeeinrichtungen erhöht.

Ich glaube, das ist erst der Anfang. Sie wissen, dass ich für eine Familienarbeitszeit eintrete, die es den Menschen ermöglichen soll, ihre Arbeitszeit eine Zeitlang zu reduzieren, um mehr Zeit für Familienaufgaben zu haben. Partnerschaftlich: Männer und Frauen. Die Väter und Mütter für ihre Kinder, die Töchter und Söhne für ihre Eltern. Damit die Menschen der Generation Vereinbarkeit wirklich teilhaben können, brauchen sie Zeit für den Beruf, Zeit für die Familie und Zeit, sich um andere zu kümmern.

IV.

Sehr geehrte Damen und Herren, wer ist eigentlich Teil unserer Gesellschaft? Teilhaben und Teil sein - gilt das nur für die mit deutschem Pass? Sie werden diese Frage gleich im Anschluss in einem Symposium diskutieren. Ich finde es gut, dass der Fürsorgetag die Verantwortung der Gesellschaft und des Sozialstaats für Flüchtlinge an verschiedenen Stellen zum Thema macht. Man hat ja das Gefühl, dass es überall auf der Welt brennt und lodert. Menschen sterben, Menschen leiden Not, Menschen fliehen.

2014 haben knapp 175.000 Menschen in Deutschland Schutz gesucht. Das ist nur die Zahl der erstmaligen Asylanträge; in Wirklichkeit sind es also viel mehr. Teilhaben - das ist ein großes Wort für diese Menschen. Sie suchen erst einmal Sicherheit, ein Dach über dem Kopf, ein Zuhause. Mein Verständnis von öffentlicher und privater Verantwortung ist: Ich finde, wir müssen uns um Flüchtlinge kümmern. Jede und jeder von uns, soweit uns das möglich ist.

Und der Sozialstaat in öffentlicher Verantwortung. Die Flüchtlinge kommen bei Ihnen an, meine Damen und Herren: in den Kommunen und in den Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände. Unter diesen Menschen sind auch mehrere Tausend Kinder. Viele von ihnen kommen allein nach Deutschland und haben Schlimmes erlebt. Besonders viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kommen in einigen wenigen Kommunen an. Städte und Gemeinden leisten ganz viel. Aber diese Kommunen und ihre Jugendämter stoßen an ihre Grenzen, auch wenn sie alles tun, was sie können.

Wir müssen die Belastungen deshalb besser verteilen. Der Bund hat mit der Aufstockung der pauschalen Hilfe ein deutliches Signal gegeben. Es geht aber auch darum, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen den Kommunen besser zu verteilen. Wir wollen mit einem Gesetz dafür sorgen, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im nächstgelegenen Bundesland untergebracht werden, das noch Kapazitäten hat. Wenn unbegleitete minderjährige Flüchtlinge teilhaben und Teil sein sollen, heißt das: Ihr Kindeswohl steht im Mittelpunkt.

Kinder, egal in welchen Lebensumständen sie aufwachsen, haben Rechte, die in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen festgelegt sind. Dazu gehört eine kindgerechte Unterbringung, Begleitung, Bildung und gesundheitliche Versorgung. Auch Teilhabe gehört dazu. Ich weiß und merke in Gesprächen und bei Projektbesuchen immer wieder, welche tolle, engagierte Arbeit die Jugendämter, die Träger, die Kommunen und die Menschen, die dort arbeiten, jeden Tag leisten. Ich habe auch den Eindruck, dass es eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung gibt.

Sicher, es gibt Ängste, es gibt gelegentlich Widerstände gegen Flüchtlingsunterkünfte in der Nachbarschaft. Wenn sich solche Ängste in Demonstrationen oder gar in Gewalt ausdrücken, finden sie großes Echo in den Medien. Aber auch die Zahl der Menschen, die sich ehrenamtlich für Flüchtlinge einsetzen, steigt. Das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität spricht von einem Anstieg um 70 Prozent in den letzten drei Jahren.

Hilfe bei Behördengängen oder bei der Wohnungssuche, Sprachkurse oder gemeinsame Aktivitäten in der Nachbarschaft: Wohlfahrtsverbände, Kommunen und Initiativen sind in diesem Feld ehrenamtlicher und sozialer Arbeit, das sich neu und sehr dynamisch entwickelt, mit großem Einsatz und großer Solidarität unterwegs. Ich habe Ende März das neue Bundesprogramm "Willkommen bei Freunden" gestartet. Ich will damit ganz konkret dazu beitragen, die Lebenssituation von jungen Flüchtlingen in Deutschland zu verbessern und die Kommunen in ihren Aufgaben zu unterstützen.

Uns geht es aber auch darum, Willkommenskultur vor Ort spürbar werden zu lassen. Viele Menschen wollen etwas tun, es gibt viele Initiativen und Angebote, Flüchtlinge können vor Ort Hilfe bekommen. Wir wollen Sie unterstützen: als Vertreterinnen und Vertreter von Kommunen und Einrichtungen vor Ort. Ein Flüchtlingsjunge in Hamburg hat uns gesagt: "Ja, ich vermisse meine Familie. Aber mir geht es hier gut. Ich fühle mich sicher, und es gibt Menschen, die sich um mich kümmern. Jetzt möchte ich zur Schule gehen und etwas aus meinem Leben machen."

Mich hat es beeindruckt, wie stark und wie optimistisch dieser Junge war, dessen Eltern in einem Flüchtlingslager leben und der selbst monatelang auf der Flucht war. Um es mit dem Titel Ihres Fachkongresses zu sagen: Dieser Junge ist jetzt ein Teil unserer Gesellschaft. Er will sein Leben in die Hand nehmen. Ihm ist bewusst, dass er selbst dafür verantwortlich ist. Unsere Aufgabe ist es, ihn wirklich teilhaben zu lassen. Das verstehe ich heute unter Fürsorge.

V.

Sehr geehrte Damen und Herren, Kinderbetreuung und die Situation von Familien, demografischer Wandel und die Arbeit mit älteren Menschen, schließlich die Flüchtlinge: Ich habe drei Themen aus der Vielfalt dessen herausgegriffen, was teilhaben und Teil sein, was Fürsorge und Soziale Arbeit heute bedeutet. Wie das Sich-Kümmern um Menschen in Deutschland fachlich gestaltet, organisiert und auch finanziert wird, muss immer wieder neu verhandelt werden.

Neue Herausforderungen tun sich auf, gesellschaftliche Veränderungen verlangen nach neuen Formen von Fürsorge und Sozialer Arbeit. Die Generation Vereinbarkeit, die Sandwich-Generation der arbeitenden Mitte in unserem Land, verlangt nach Lösungen und Antworten. Aber ich möchte, dass etwas Wesentliches bleibt, wie es ist. Sich um andere Menschen zu kümmern, in der Familie, in der Sozialen Arbeit oder im Ehrenamt, ist wertvoll und notwendig für unsere Gesellschaft. Wer sich um andere Menschen kümmert, verdient dafür Anerkennung, Wertschätzung und, wenn es der Beruf ist, anständige Bezahlung.

Die Rahmenbedingungen für Teilhabe schafft der Staat. Das ist seine Aufgabe. Aber dass alle Menschen wirklich Teil sind, dass sie willkommen sind und teilhaben können, das kann nicht der Staat allein leisten. Dazu brauchen wir Sie. Die Menschen, die sich in den Kommunen, in den Wohlfahrtsverbänden, den Einrichtungen und Initiativen um andere Menschen kümmern. Bleiben Sie so, wie Sie sind! Bleiben Sie so engagiert!

Wenn Sie das unter Fürsorge verstehen, dann bin ich mit dem Titel des Fürsorgetags sehr einverstanden. Denn es ist Ihr Tag. Es ist Ihre Haltung und Ihre Arbeit, die entscheidend dafür ist, dass in unserem Land alle teilhaben können und alle Teil sein können. Ich wünsche jeder und jedem von Ihnen einen spannenden Fürsorgetag auf dem Weg, den Sie sich zwischen den vielen Symposien, Fachvorträgen und Workshops ausgesucht haben. Lassen Sie den Austausch mit Menschen, das Gespräch nicht zu kurz kommen. Und vielleicht sehen wir uns auf dem 81. Deutschen Fürsorgetag wieder.