Bild am Sonntag Manuela Schwesig über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Manuela Schwesig, Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel
Manuela Schwesig© Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel

Bild am Sonntag: Frau Ministerin, Deutschland ist bei der Geburtenrate weltweit auf dem letzten Platz. Warum kriegen wir keine Kinder?

Manuela Schwesig: Die Geburtenrate ist seit vielen Jahren niedrig. Die Gründe sind vielfältig. Manche haben nicht den richtigen Partner. Manche entscheiden sich bewusst für ein Leben ohne Kinder. Ganz viele haben zwar einen Kinderwunsch, realisieren ihn aber nicht, weil sie in der Arbeitswelt an Hürden stoßen. Befristete Arbeitsverträge wirken stärker auf die Geburtenrate als die Pille. Wer sich von Jahresvertrag zu Jahresvertrag hangelt, traut sich oft nicht, sich für ein Kind zu entscheiden. Die Zahl grundlos befristeter Jobs ist seit 2001 auf 1,3 Millionen gestiegen. Dazu kommt das große Tabuthema der Unfruchtbarkeit. Viele der Kinderlosen sind es ungewollt. Deshalb will ich Kinderwunschbehandlungen besser fördern.

Bild am Sonntag: Die Union möchte künstliche Befruchtung nur bei Ehepaaren bezahlen…

Manuela Schwesig: Das geht total an der Lebenswirklichkeit vorbei, weil sich auch Paare ohne Trauschein Kinder wünschen. Ich plane, die finanzielle Unterstützung für Kinderwunschbehandlungen auf nicht verheiratete Paare auszudehnen, die schon länger zusammenleben. Ich kann nicht verstehen, warum wir es Paaren so schwer machen, die sich nichts sehnlicher als ein Kind wünschen.

Bild am Sonntag: Ist der Feminismus schuld an der niedrigen Geburtenrate?

Manuela Schwesig: Nein. Wenn es echte Gleichberechtigung geben würde, gäbe es auch mehr Kinder.

Bild am Sonntag: Sie nennen unsichere Arbeitsverhältnisse das wirkungsvollste Verhütungsmittel. Was wünschen Sie sich von der Wirtschaft?

Manuela Schwesig: Dass wir befristete Beschäftigung nur noch dann machen, wenn es einen Sachgrund gibt, also zum Beispiel eine Schwangerschaftsvertretung. Leider ist es heutzutage auch möglich, ohne Grund zu befristen. Die Unternehmer müssen mehr Rücksicht nehmen auf die Belange von Familien. Vollzeit arbeiten, am besten über Handy und Mails rund um die Uhr zur Verfügung stehen, sich gleichzeitig um Kinder und pflegebedürftige Eltern kümmern - das bringt Familien an die Grenze ihrer Belastung. Es wäre ein Riesenfortschritt, wenn in der Arbeitswelt auf Familienzeiten geachtet würde.

Bild am Sonntag: Ist es nicht eigentlich eine Lüge, dass sich Kinder und Karriere vereinbaren lassen?

Manuela Schwesig: Nein. Es wäre eine Lüge, zu sagen, der Spagat zwischen Beruf und Familie sei einfach. Berufstätigkeit und Kinder sind für eine Verkäuferin mit Wechselschichten bis 22 Uhr oder für Ärztinnen mit Nachtdiensten eine Riesenherausforderung. Aber wir können es den Familien wesentlich einfacher machen, wenn es endlich in ganz Deutschland Kitas und Ganztagsschulen geben würde. Ich will jetzt mit einem 100-Millionen-Euro-Programm Kitas mit Öffnungszeiten am Abend, in der Nacht und früh morgens ausbauen. Denn wie soll eine alleinerziehende Altenpflegerin, die arbeiten muss oder möchte und Nachtschicht hat, ohne solche Angebote arbeiten gehen?

Bild am Sonntag: Mutterschaftsurlaub, Kindergeld, Steuererleichterungen, Kitaplätze, Eltern- und Betreuungsgeld. Deutschland gibt im europäischen Vergleich viel für Familien aus. Sind nicht letztlich alle Versuche der Politik gescheitert, die Geburtenrate zu erhöhen?

Manuela Schwesig: Politik kann nur begrenzt Einfluss auf den Kinderwunsch von Eltern nehmen. Eine große Untersuchung hat gezeigt, dass es nur eine Maßnahme gibt, die viele Eltern in der Realisierung ihres Kinderwunsches bestärkt: Kitaplätze und Ganztagsschulen. Und die Politik sollte damit aufhören, die unterschiedlichen Familienmodelle als gut oder schlecht zu bewerten. Wir sollten endlich die Vielseitigkeit aus verheirateten Eltern, Alleinerziehenden, Patchworkfamilien, Eltern ohne Trauschein akzeptieren. Wenn Teile der Politik nur die Ehe mit Kindern als "normale" Familie sehen und andere Formen als Familie zweiter Klasse abstempeln, überträgt sich das auf die Gesellschaft. Mich entsetzt, was es in sozialen Medien für abfällige Bemerkungen gegen Alleinerziehende gibt.

Bild am Sonntag: Wie definieren Sie Familie?

Manuela Schwesig: Familie ist da, wo Menschen füreinander, für Kinder, für pflegebedürftige Angehörige Verantwortung übernehmen. Familie ist bunt. Wichtig ist, dass Werte wie Liebe, Vertrauen und Respekt gelebt werden.

Bild am Sonntag: Mütter sollen in Deutschland irgendwie perfekt sein, alle eigenen Bedürfnisse hinter die ihres Kindes stellen. Woher kommt das?

Manuela Schwesig: Ich frage mich auch, warum wir uns in der Familienfrage so unter Druck setzen. Als Frau kann man es eigentlich niemandem recht machen: Wer sich nicht für Kinder entscheidet, wird schräg angeguckt. Wer dann auch noch Erfolg im Beruf hat, ist die egoistische Karrierefrau. Wer sich für Kinder entscheidet und zu Hause bleibt, ist "nur Hausfrau". Wer Kinder hat und arbeitet, ist die Rabenmutter. Diese Stereotypen und Rollenklischees müssen endlich aufgebrochen werden.

Bild am Sonntag: In Frankreich sind Mütter in erster Linie Frauen…

Manuela Schwesig: In Frankreich wird viel entspannter mit Kindern umgegangen. Die Frauen setzen sich und andere nicht so unter Druck. Von dieser Gelassenheit können wir lernen. Was in Deutschland auch fehlt: Wir reden fast nie über Väter. Wir tun so, als ob Kinder nur Mütter haben. Dabei brauchen Kinder genauso ihren Vater. Und die junge Männergeneration will Zeit für ihre Familie haben. Oft ist gesellschaftlich aber nur der Mann anerkannt, der Vollzeit arbeitet und ordentlich Kohle nach Hause bringt.

Bild am Sonntag: Wenn Sie die Familienpolitik allein bestimmen könnten, keine Rücksicht auf den Koalitionspartner und Finanzminister nehmen müssten, was würden Sie tun?

Manuela Schwesig: Wäre ich völlig frei - ohne finanzielle Vorgaben - würde ich drei Sachen ändern: deutschlandweit gebührenfreie Kitas und Ganztagsschulen. Eine 32-Stunden-Woche für Eltern als Familienarbeitszeit mit einer kleinen Finanzspritze vom Staat. Ein moderneres Steuerrecht, was alle Familien besser unterstützt und nicht nur einseitig auf das Ehegattensplitting setzt. Ich bin auf dem Weg, vieles davon umzusetzen: den Kita-Ausbau und das Elterngeld-Plus, letzte Woche haben wir das Gesetz für weitere finanzielle Unterstützung für Familien im Bundestag verabschiedet.

Bild am Sonntag: Sie sind als Ministerin selbst Chefin. Wie reagieren Sie, wenn eine wichtige Mitarbeiterin erzählt, dass sie schwanger ist?

Manuela Schwesig: Dann freue ich mich und umarme sie. Ein Jahr Auszeit ist doch gar nichts. Ich habe ein Interesse, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen lange an mich zu binden. Das Team um mich akzeptiert doch auch, dass ich einen Tag im Monat Home-Office mache und mittwochnachmittags meinen Sohn aus dem Hort in Schwerin abhole. Leider haben wir in Deutschland das Denken, dass es nie der richtige Zeitpunkt für ein Kind ist. Wir müssten uns doch immer freuen, wenn sich ein Kind ankündigt.

Bild am Sonntag: Ihr Sohn ist acht Jahre alt. Was war bislang das Schwierigste am Muttersein?

Manuela Schwesig: Das Schlimmste ist meine Zerrissenheit, wenn ich eine Woche komplett in Berlin bleiben muss. Ich leide dann stärker als mein Sohn, der zu Hause in Schwerin von seinem Vater genauso gut betreut wird wie von mir.