Welt am Sonntag Manuela Schwesig: Moderne Familienpolitik und Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind das A und O

Manuela Schwesig im Gespräch
Manuela Schwesig© Bildnachweis: Bundesregierung/Steffen Kugler

Welt am Sonntag: Sie sind nach dreimonatiger Babypause seit drei Wochen wieder im Dienst. Glauben Sie, dass es in 20 Jahren noch eine SPD gibt, in die Ihr Kind eintreten kann?

Manuela Schwesig: Da habe ich keinen Zweifel.

Welt am Sonntag: In den Umfragen liegen Sie teilweise unter 20 Prozent. Wenn das so weitergeht, dann schafft die Partei nicht mal mehr 20 Jahre.

Manuela Schwesig: Ich gehe nicht davon aus, dass es so weitergeht. Die Umfragen sind nicht gut, aber sie werden auch überbewertet. Es wird Sie überraschen, aber ich schätze die Chance der SPD, wieder nach vorn zu kommen, viel größer ein als bei den Wahlen 2009 oder 2013. Mein Eindruck ist, dass die Menschen in Deutschland nicht mehr so geschlossen hinter Angela Merkel stehen wie damals und nach einer Alternative suchen. Und die Alternative muss die SPD sein.

Welt am Sonntag: Trotzdem sollte es Sie alarmieren, dass fast alle das Gerücht geglaubt haben, Parteichef Gabriel wolle zurücktreten.

Manuela Schwesig: Ich habe dieses Gerücht nie geglaubt. Ich kenne auch keinen anderen, der es geglaubt hat. Das ist, mit Verlaub, der Medienhype, den wir hier in der Berliner Republik erleben und die Politik mit betreibt. Nach meiner Erfahrung geht das über die Köpfe der Menschen hinweg. Ich hatte dank meiner Babypause wieder mehr die Gelegenheit, beim Bäcker und auf dem Markt einen Schnack mit den Menschen zu machen. Dort hat mich niemand auf diese Diskussion angesprochen. Was die Leute interessiert, sind Alltagsthemen: Kitaplätze, Ganztagsschulen, die Probleme in der Pflege, die Rente.

Welt am Sonntag: Also gibt es keinen Grund für Gabriel zurückzutreten?

Manuela Schwesig: Nein.

Welt am Sonntag: Er selbst sieht das offenbar nicht so eindeutig. Vor Kurzem hat er sich interne Bewerber für die Kanzlerkandidatur gewünscht. Haben Sie Lust?

Manuela Schwesig: Diese Frage stellt sich nicht. Wir haben ein klar verabredetes Verfahren, dass wir die Kanzlerkandidatur in 2017 entscheiden. Der Parteivorsitzende hat das Vorschlagsrecht. Bis dahin sollten wir über das Thema nicht diskutieren.

Welt am Sonntag: Glauben Sie denn, dass die SPD unter Führung von Gabriel die aktuelle Schwäche von Frau Merkel ausnutzen kann?

Manuela Schwesig: Wir sollten uns auf die wichtigen Themen konzentrieren. Das beste Beispiel ist Malu Dreyer. Sie hat sich immer stark auf das bezogen, was die Menschen wirklich interessiert. Wir brauchten mehr von diesem "Malu-Dreyer-Esprit".

Welt am Sonntag: Klingt wie eine Selbstbeschreibung. Auch Sie werden in der SPD deutlich nach vorn geschoben, weil Sie die Alltags- und Gesellschaftsthemen bedienen.

Manuela Schwesig: Als Familienministerin ist es meine Aufgabe, diese Themen, die den Alltag der Menschen verbessern, voranzustellen. Das ist auch, was die Menschen nicht nur von mir, sondern von der SPD insgesamt erwarten.

Welt am Sonntag: Das Thema Putzfrau haben Sie vergessen. Die Raumpflegerin scheint ja das neue Ideal der SPD zu sein. Das ist seltsam rückwärtsgewandt. Und Wahlen werden in der Mitte gewonnen.

Manuela Schwesig: Für mich fängt die Mitte an bei denjenigen, die arbeiten, auch mit kleinen Löhnen, und sie hört nicht mit 50.000 Euro Jahreseinkommen auf. Die Frage, wie es mit der Kinderbetreuung klappt, treibt beide um - die Putzfrau und die Ärztin. Ich halte es für einen Fehler, diesen Widerspruch herzustellen. Diese Diskussion ist wirklich von gestern. Die SPD sollte für die arbeitende Mitte da sein.

Welt am Sonntag: Trotzdem hat die SPD gejubelt, als die Putzfrau Susanne Neumann an der Wertekonferenz den Koalitionspartner als "Schwatten" abwatschte.

Manuela Schwesig: Das war eine Bauchreaktion. Die SPD wird nie glücklich in einer Koalition mit der Union, wenn man sieht, wie weit man auseinanderliegt. Das sehe ich in meinem Themengebiet. Wir haben unterschiedliche Vorstellungen von Familien- und Frauenpolitik. Wenn man da jeden Tag hart kämpfen muss, ist der Gedanke verlockend, in einer anderen Koalition zu stecken, in der es leichter wäre. Doch es ist besser, in einer großen Koalition zu regieren als gar nicht.

Die SPD hat viele Dinge für die Menschen in dieser Koalition vorangebracht. Wofür ich werbe, ist, dass wir eine Partei der Zuversicht und des Optimismus sind und gleichzeitig auch die Probleme und Baustellen ansprechen. Es kann nicht unser Ziel sein, den Leuten nur Angst zu machen wie die AfD. Wir sind in dieser Regierung das moderne und soziale Gesicht. Das muss wieder sichtbarer werden. Das geht nur, wenn man über Themen spricht, nicht über Umfragewerte.

Welt am Sonntag: Sie sind tatsächlich erfolgreich in der Koalition, etwa mit der Durchsetzung des Mindestlohns. Trotzdem zahlt es sich für die Partei nicht aus. Da liegt der Schluss nahe, dass Sie das falsche Produkt für die falsche Zielgruppe herstellen.

Manuela Schwesig: Es geht ja nicht nur darum, etwas umzusetzen, um gewählt zu werden.

Welt am Sonntag: So viel Selbstlosigkeit nehmen wir Ihnen nicht ab.

Manuela Schwesig: Es passiert oft, dass man sich für Dinge einsetzt, für die man nicht gewählt wird. Wenn ich mich für vernachlässigte Kinder einsetze, erwarte ich nicht, dass deren Eltern mir dafür ihre Stimme geben. Aber natürlich müssen wir schauen, dass wir mit unserer Politik die Wähler erreichen. Die Dinge, die wir umgesetzt haben, waren wichtig, um wieder Vertrauen zu erhalten. Viele Menschen hatten schon den Eindruck, dass die SPD zu stark den Markt regieren lässt und sich zu wenig um den Schutz der Leute kümmert. Diese Glaubwürdigkeit haben wir uns auch mit dem Mindestlohn wieder zurückgeholt. Jetzt geht es darum, über Zukunftsthemen zu sprechen.

Welt am Sonntag: Auf dem Markt gibt es immerhin genügend Jobs. Diese Tatsache wird der Kanzlerin zugeschrieben, geht aber letztlich auf die Reformen der Schröder-Regierung zurück. In der SPD will davon niemand mehr etwas wissen.

Manuela Schwesig: Ich wundere mich, dass nach all den Jahren noch immer darüber debattiert wird, wie die Haltung zur Agenda 2010 ist. Wie tief die Unsicherheit und die Enttäuschung sitzen, haben wir einmal mehr durch Susi Neumann erfahren. Aber ich werbe dafür, lieber darüber zu reden, was wir heute und morgen für die Menschen tun. Wir müssen Probleme ansprechen und uns von der Angstmache der AfD abgrenzen.

Welt am Sonntag: Warum gelingt es der AfD überhaupt, in diesem Ausmaß Ängste zu schüren?

Manuela Schwesig: In meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern hat die NPD schon gegen Ausländer gehetzt, als noch gar keine da waren. Jetzt sind sie da, und jetzt ist es noch leichter, diese Ängste zu schüren. Die AfD ist da auch nicht besser. Aber von diesen Parteien erwartet keiner Lösungen. Oft nicht mal der Wähler.

Welt am Sonntag: Die erstarkte AfD ist auch eine Folge der großen Koalition.

Manuela Schwesig: Nein, das wäre zu einfach. Das Potenzial von Rechtspopulismus gibt es schon sehr lange. Es ist auch nicht nur ein Ost-Problem.

Welt am Sonntag: Viele Menschen fühlen sich schlicht von der Moderne überfordert und abgehängt. Keiner weiß zum Beispiel, was genau beim Freihandelsabkommen TTIP verhandelt wird. Darum gibt es Unsicherheit und einen riesigen Widerstand. Wirtschaftsminister Gabriel verteidigt TTIP. Verlieren Sie auch deshalb Punkte?

Manuela Schwesig: Sigmar Gabriel sagt, es muss Regeln für den Freihandel geben. Die Regeln hat die SPD definiert. Gabriel setzt sich dafür ein, dass sie umgesetzt werden. Die SPD hat klar gesagt: TTIP gibt es für uns nicht um jeden Preis. Die Menschen sehen mit Sorge, dass Wirtschaft und Finanzen in einer globalisierten Welt das Sagen haben. Sie werden darin ja auch bestätigt. Denken Sie nur an die Panama Papers und die Boni bei VW trotz der Abgasaffäre. Das ist für die Leute immer wieder die Bestätigung: Geld regiert die Welt, und die Politik schaut zu. Da müssen wir klare Grenzen setzen. Und die Probleme auf internationaler Ebene zusammen lösen.

Welt am Sonntag: So mancher schottet sich in der Krise lieber ab. Der Nationalstaat kommt gerade wieder schwer in Mode.

Manuela Schwesig: Das ist eine Gefahr. Viele große Aufgaben müssen wir europäisch und international lösen. Aber wir dürfen uns nicht auf jene konzentrieren, die die AfD wählen. Denn die meisten Leute wählen demokratische Parteien. Denen müssen wir den Rücken stärken. Wir haben 23 Millionen Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren und ihr Wichtigstes geben, was man im Leben hat: Zeit. Diese Zivilgesellschaft, die an ein gerechtes und offenes Land glaubt, müssen wir kräftigen.

Welt am Sonntag: Wenn Sie nach Mecklenburg-Vorpommern schauen, müsste Ihnen angst und bange werden. Die SPD ist von 35 auf 22 Prozent gesackt, die AfD liegt bei 18, die NPD bei vier. Gleichstand - obwohl die SPD an der Regierung ist. Macht Sie das nicht hilflos?

Manuela Schwesig: Wenn es leicht wäre, könnten es auch andere machen. Natürlich ist die Bewegung in der Wählerschaft eine Herausforderung. Aber deshalb darf man nicht alles infrage stellen. Und was Mecklenburg-Vorpommern angeht: Ich bin sicher, dass die SPD noch zulegen wird, weil Ministerpräsident Erwin Sellering ein großes Vertrauen in der Bevölkerung genießt.

Welt am Sonntag: Wie können Sie die SPD nach vorn bringen?

Manuela Schwesig: Mit Zuversicht, Optimismus und Angeboten für Zukunftsfragen. Für mich bleibt das Thema moderne Familienpolitik und Vereinbarkeit von Beruf und Familie das A und O. Und mein wichtigstes Gesetzesvorhaben ist jetzt die Lohngerechtigkeit. Es ist in Sachen Gleichberechtigung viel erreicht worden, aber es gibt eine Ungerechtigkeit, die sich verfestigt hat, und das ist die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern von 21 Prozent. Ich bin immer wieder überrascht, dass zwar alle diese Lohnlücke erklären können, aber die meisten nehmen sie einfach hin. Mein Anspruch ist es, da ranzugehen.

Welt am Sonntag: Wie soll das gelingen?

Manuela Schwesig: Wir wollen, dass die Beschäftigten ein Auskunftsrecht bekommen, wie ihre Lohnsituation im Vergleich zu denen ist, die die gleiche Arbeit machen. Zweitens wollen wir, dass die Betriebe sich mit der Lohnlücke überhaupt beschäftigen. Angesichts der großen Widerstände aus der Wirtschaft und seitens des Koalitionspartners wird uns dieses Projekt noch viel Kraft kosten.

Welt am Sonntag: Die Arbeitgeber halten Ihr Projekt für ein "absurdes Regulierungsmonster".

Manuela Schwesig: Die Gegner hoffen offensichtlich darauf, dass die Frauen sich auch weiterhin die nächsten Jahrzehnte mit den Unterschieden zufriedengeben. Wir brechen ein Tabu. Über das Gehalt wird in Deutschland nicht gesprochen. Diese Blackbox trägt dazu bei, dass sich die Ungerechtigkeit verfestigt. Wenn Lohnungerechtigkeiten aufgedeckt werden, ist die Konsequenz, dass Frauen dann besser bezahlt werden möchten. Das ist nicht jedem recht.

Welt am Sonntag: Sie sollen nun mit Kanzleramtsminister Altmaier einen Kompromiss finden. Wo sind Sie bereit, sich zu bewegen?

Manuela Schwesig: Ich habe ein gutes Gesetz vorgelegt. Wer meint, dass bestimmte Regeln nicht gut sind, muss andere Vorschläge machen. Mein Anspruch ist es, ein Auskunftsrecht für möglichst alle 31 Millionen Beschäftigten einzuführen. Die Union will, dass es nur für Betriebe ab 500 Mitarbeitern gilt. Die Union muss erklären, warum das Auskunftsrecht für 25 Millionen Beschäftigte nicht gelten soll und viele Frauen davon ausgeschlossen sind.

Welt am Sonntag: Spielt die Union auf Zeit?

Manuela Schwesig: Ich glaube nicht, dass die CDU/CSU dieses Gesetz verhindern kann. Sie kann jetzt zeigen, ob ihr die Frauen wichtig sind.

Welt am Sonntag: Das können Sie ja in Meseberg ausdiskutieren. Am Dienstag trifft sich dort das Kabinett zur Klausurtagung. Eins der Themen wird auch die Digitalisierung der Arbeitswelt sein. Fluch oder Segen?

Manuela Schwesig: Mehr Segen als Fluch. Ich sehe in der Digitalisierung mehr Chancen als Risiken. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie kann dadurch verbessert werden. Homeoffice etwa ermöglicht es viel mehr Paaren, sich die Kinderbetreuung aufzuteilen.

Welt am Sonntag: Eine uralte Idee. Homeoffice ähnelt ein bisschen Loch Ness. Alle sprechen darüber, keiner hat es gesehen. Die Zahlen sind seit Jahren bescheiden.

Manuela Schwesig: Eine Studie in unserem Auftrag zeigt, dass Homeoffice immer häufiger genutzt wird. Aber es wünschen sich mehr Menschen, als es gerade tatsächlich machen können. Deshalb beraten wir in unserem Unternehmensnetzwerk auch Firmen, die Möglichkeit von Homeoffice zu schaffen. Auch in unserem Ministerium bieten wir Homeoffice an. Mein Mann und ich zum Beispiel nutzen auch beide Homeoffice, um Beruf und Familie besser zu vereinbaren. Die Digitalisierung hilft dabei.

Welt am Sonntag: Sie kann allerdings auch schaden. Viele Eltern fragen sich, wie sie ihr Kind vor den Gefahren aus dem World Wide Web schützen sollen?

Manuela Schwesig: Diese Fragen stelle ich mir als Mutter eines neunjährigen Sohnes auch. Ich möchte den Kinder- und Jugendschutz modernisieren. Wir werden die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien umbauen zu einer Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz. Wir möchten ein neues Gütesiegel entwickeln, mit dem geprüfte Angebote ausgezeichnet werden können, die kinder- und jugendgerecht sind. Bei Filmen haben wir gute Erfahrungen mit Alterskennzeichnung gemacht. Diese Orientierung muss es auch für Online-Medien geben. Orientierungshilfe ist wichtig für die Eltern.

Welt am Sonntag: Wie sollen die Standards aussehen?

Manuela Schwesig: Die werden wir im Rahmen der Modernisierung des Jugendmedienschutzes entwickeln. Wichtig ist, dass wir die Standards aus dem Offline-Bereich möglichst gut in den Online-Bereich übersetzen. Wir wollen Eltern damit bei der Medienerziehung unterstützen. Es geht nicht darum, die Kinder und Jugendlichen zu überwachen. Es geht darum, dass sie Medienkompetenz entwickeln.

Welt am Sonntag: Beim Streamingdienst Netflix sehen wir künftig also bei jedem Film das Schwesig-Siegel?

Manuela Schwesig: Nein, solche Alterskennzeichen gibt es schon, die sollten für Filme auch im Internet verwendet werden. Wir wollen darüber hinaus erreichen, dass für Eltern die Angebote im Netz, die sich an Kinder richten und dabei Standards beachten, auch schnell als solche erkennbar sind. Das kann für Mediatheken - bei Netflix gibt es ja immerhin einen Kinderbereich - genauso sinnvoll sein wie für Kommunikationsplattformen oder klassische Internetseiten.

Welt am Sonntag: Manche haben Sie als Rabenmutter bezeichnet, nur weil Sie drei Monate nach der Geburt wieder zur Arbeit gingen. Das traditionelle Familienbild feiert gerade ein Comeback, nicht nur in der AfD. Wird sich das noch verstärken?

Manuela Schwesig: Es gibt Politiker auch in CDU und CSU, die ein sehr enges Familien- und Rollenbild haben. Aber Frauen wollen heute Kinder haben und berufstätig sein. Deshalb ist es ja gut, dass die Familienministerin anders denkt.