SPIEGEL Manuela Schwesig: Familienmodelle in Ost und West haben sich angenähert

Manuela Schwesig im Gespräch
Manuela Schwesig© Bildnachweis: Bundesregierung/Steffen Kugler

SPIEGEL: Frau Schwesig, Sie sind in Ostdeutschland aufgewachsen und haben mal gesagt, die Sozialisation dort habe Sie sehr geprägt. Was heißt das?

Manuela Schwesig: Zweierlei: zum einen die Wendezeit, ich war damals 15 und habe plötzlich eine große Freiheit gespürt, aber auch eine riesige Unsicherheit. Mein Vater wurde arbeitslos. Ich musste in jungen Jahren auf eigenen Füßen stehen und selbstständig Entscheidungen treffen, das hat mich geprägt. Zum anderen war es für mich selbstverständlich, dass meine Mutter und mein Vater arbeiten gingen und sich gemeinsam um meinen Bruder und mich kümmerten. Das macht es mir heute leichter, Beruf und Familie zu vereinbaren, da ich mich - anders als viele Frauen im Westen - nicht gegenüber Familie und Freunden rechtfertigen muss, weil ich arbeite.

SPIEGEL: Ist die Familienpolitik der DDR für Sie ein Vorbild?

Manuela Schwesig: Nein, die DDR-Familienpolitik war ja nicht auf die Wünsche von Familien ausgerichtet. Generalsekretär Erich Honecker hat nicht an Gleichstellung gedacht, als er Kitas bauen ließ. Dahinter steckte, dass man die Frau als Arbeitskraft brauchte. Gut war aber die Infrastruktur. Krippen, Kindergärten, Schulen mit Hort, das alles hat dazu geführt, dass Frauen berufstätig sein konnten.

SPIEGEL: Ging es den Frauen in der DDR dadurch besser?

Manuela Schwesig: Sie waren zumindest unabhängiger, weil sie berufstätig sein konnten. Dieses Selbstverständnis von ostdeutschen Frauen, dass es keine Schande ist, Beruf und Familie zu vereinbaren, finde ich gut. Aber natürlich gab es andere Probleme: die fehlende Freiheit, Mangelwirtschaft oder geringe Löhne.

SPIEGEL: Sie haben jetzt eine Studie durchführen lassen zum Rollenverständnis von Frau und Mann in Ost und West 25 Jahre nach der Wiedervereinigung. Erstaunlich viele ostdeutsche Frauen wünschen sich demnach ein traditionelleres Familienmodell. Vielleicht war das DDR-Modell doch nicht für alle so attraktiv?

Manuela Schwesig: So lese ich die Studie nicht, im Gegenteil, ich sehe, dass die Modelle von Ost und West sich angenähert haben. Im Westen wird das klassische Modell des männlichen Hauptverdieners immer mehr abgelöst, und die Männer und Frauen sagen überwiegend, dass sie beides wollen: Berufstätigkeit und Familie. Im Osten war es üblich, dass beide Vollzeit arbeiteten und Kinder hatten. Heute finden die Ostdeutschen die Berufstätigkeit von Männern und Frauen immer noch richtig, meinen aber nicht mehr, dass beide Vollzeit machen müssen.

SPIEGEL: Die Forscher der Studie sprechen von einer "Rolle rückwärts" und einer Retraditionalisierung im Osten.

Manuela Schwesig: Ich sehe da keinen Rückschritt. Ich sehe es auch als Freiheit, dass heute Frauen und Männer in Ostdeutschland entscheiden können, ob sie Voll- oder Teilzeit arbeiten wollen.

SPIEGEL: Laut Ihrer Studie hat sich der Anteil der ostdeutschen Frauen, die Teilzeit arbeiten, seit 1991 verdoppelt. Das müssten Sie eigentlich kritisch sehen, Sie haben selbst von der Teilzeitfalle gesprochen. Man kennt die negativen Folgen, zum Beispiel die Altersarmut von Frauen.

Manuela Schwesig: Ich kritisiere die persönlichen Entscheidungen nicht, ich kann den Wunsch der Familien nach mehr Zeit miteinander verstehen. Ich plädiere, obwohl ich aus Ostdeutschland komme, gar nicht dafür, dass alle Familien das Modell fahren müssen, beide arbeiten Vollzeit und haben gleichzeitig Kinder. Ich finde es aber schwierig, wenn es ein Dauermodell ist, dass er Vollzeit arbeitet und sie nur in einem Minijob. Das trägt für die Frau auf Dauer nicht, wenn es um Einkommen, Rente und Absicherung geht.

SPIEGEL: Die Studie zeigt, dass weniger als die Hälfte der Westdeutschen und nur knapp mehr als die Hälfte der Ostdeutschen gleichgestellte partnerschaftliche Beziehungsmodelle anstreben. Ist es Aufgabe der Politik, Rollenbilder zu fördern?

Manuela Schwesig: Ja, das denke ich schon, dass sie das tun kann. Aber Rollenbilder werden nicht durch die Politik definiert - sondern durch die Gesellschaft. Kern meiner Familienpolitik ist, dass man sich nicht mehr zwischen dem klassischen West- oder Ostmodell entscheiden muss. Sondern dass Väter und Mütter berufstätig sind, aber ihre Arbeit phasenweise für Kinder reduzieren. Daher mein Projekt einer Familienarbeitszeit. Damit würden beide Partner vollzeitnah arbeiten, zum Beispiel 32 Stunden. Ähnlich wie beim Elterngeld würde ein Teil des Lohns vom Staat übernommen. Damit hätten beide, Mütter und Väter, Zeit für den Nachwuchs, und viel weniger Frauen würden in kleiner Teilzeit arbeiten.

SPIEGEL: Wie wollen Sie verhindern, dass reduzierte Arbeitszeit auch die Karrierechancen reduziert?

Manuela Schwesig: Man muss mit Gesetzen und finanzieller Unterstützung zeigen, dass das gesellschaftlich gewollt ist, so wie beim neuen ElterngeldPlus. Wichtig ist das Rückkehrrecht aus Teilzeit in Vollzeit, das Arbeitsministerin Andrea Nahles gerade vorbereitet. Damit Teilzeitarbeit nicht zur Sackgasse wird. Die Arbeitswelt muss sich aber auch von innen ändern. Es muss normal werden, dass Frauen und Männer für eine gewisse Zeit reduziert arbeiten. Und zwar beide. In der Vergangenheit war die Politik - wenn es um Vereinbarkeit geht - sehr einseitig auf die Mütter ausgerichtet, dabei kümmern sich Väter heute viel mehr als früher um Kinder und Haushalt. Da war das ostdeutsche Modell Impulsgeber. Das ist ein Vorteil der deutschen Einheit.

SPIEGEL: Die Studie zeigt, dass die DDR heute verklärt wird. Ostdeutsche erinnern sich an die DDR-Zeit als eine Zeit, in der Frauen Karriere machen konnten und die Hausarbeit geteilt wurde. Das stimmt aber so nicht. Wie erklären Sie sich das?

Manuela Schwesig: Das ist auch für mich eine Überraschung. Man schaut vielleicht im Rückblick positiver auf die Dinge, als sie waren.

SPIEGEL: In der DDR gab es das Bild der arbeitenden Rabenmutter nicht, weil ja alle berufstätig waren. Jetzt sagt ein Viertel der ostdeutschen Frauen, dass sie das Gefühl haben, sich wegen einer Vollzeitstelle rechtfertigen zu müssen.

Manuela Schwesig: Das kann ich gut nachvollziehen, denn diese Debatten über Rabenmütter bleiben nicht ohne Wirkung. Da war man damals im Osten weiter.

SPIEGEL: Im Hause Schwesig machen in erster Linie Sie die Karriere, und Ihr Mann passt sich dem mit seinen beruflichen Möglichkeiten an. Ihr Mann hat seine Arbeitszeit in einem Entsorgungsunternehmen seit Ihrem Amtsantritt reduziert, arbeitet 35 Stunden die Woche, einen Tag von zu Hause. Hat er dadurch berufliche Nachteile?

Manuela Schwesig: Auch mein Mann ist in einer Führungsposition - und anfangs hat auch er die Erfahrung gemacht, dass niemand Hurra geschrien hat, als er zwei Monate in Elternzeit ging. Mein Mann lässt sich davon aber wenig beirren. Bei unserem zweiten Kind wird er für ein Jahr Elternzeit nehmen. Für ihn ist es genauso wichtig, Zeit für die Familie zu haben und mich in meiner Karriere zu unterstützen.

SPIEGEL: Was ist Ihre Erfahrung, ist Karriere für beide möglich?

Manuela Schwesig: Ja, das denke ich. Vielleicht nicht zur selben Zeit und in gleicher Intensität, aber es ist möglich. Ich glaube, es hängt sehr stark davon ab, in welcher Branche man tätig ist, wie ersetzbar man ist. In Branchen, wo man auf Fachkräfte angewiesen ist, hat man eine gefestigtere Position. Mein Mann und ich wollen nicht, dass einer komplett für den anderen zurückstecken muss, wir wollen es zusammen stemmen. Dann muss man das durchziehen.

SPIEGEL: Für die meisten Männer ist es immer noch nicht leicht zu akzeptieren, dass Frauen beruflich deutlich erfolgreicher sind als sie selbst.

Manuela Schwesig: Das ist nicht meine Erfahrung. Wer definiert denn Erfolg? Da geht es doch nicht nur darum, wer mehr Geld verdient. Jeder hat in seinem Job eine wichtige Aufgabe. Fest steht, dass wir viel zu wenig darüber reden, wie Männer sich und ihre Rolle sehen. Das ist in der Familienpolitik in den letzten Jahren extrem vernachlässigt worden. Die Männer haben mehr Respekt verdient. Väter sind nicht Mütter zweiter Klasse nach dem Motto, na gut, wenn gar nichts mehr geht, dann muss der Vater einspringen. Ich will Männern und Frauen kein Rollenbild vorgeben und auch nicht Männer, die sich allein auf ihren Beruf konzentrieren wollen, vom Gegenteil überzeugen. Ich möchte die modernen Väter unterstützen, die sich mehr Zeit mit ihrer Familie wünschen und deswegen in Elternzeit oder Teilzeit wollen. Ein gesellschaftlicher Wandel, der das zur Selbstverständlichkeit macht, der dauert.

SPIEGEL: Sie waren beim ersten Kind in längerer Elternzeit, jetzt will Ihr Mann beim zweiten Kind zu Hause bleiben. Als Ministerin müssen Sie schnell wieder an Ihrem Schreibtisch sitzen.

Manuela Schwesig: Es gibt für Minister keine Regelung zur Elternzeit, nicht mal den gesetzlichen Mutterschutz. Man hat sich offenbar gar nicht vorstellen können, dass Minister im Amt Kinder bekommen. Nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung kann man in Fällen selbstbestimmter Verhinderung, so heißt es im Beamtendeutsch, eine Auszeit nehmen. Diese Auszeit werde ich an den Mutterschutzfristen orientieren. Es ist mir wichtig, diese Zeit mit meinem Kind zu haben, und es ist mir auch wichtig, öffentlich zu sagen, diese Zeit braucht die Mutter.

SPIEGEL: Was wollen Sie nach den acht Wochen Mutterschutz machen? Werden Sie das Kind mit ins Ministerium nehmen und dort stillen?

Manuela Schwesig: Da bleiben Sie mal ganz entspannt. Für uns ist erst mal wichtig, dass unser Kind gesund zur Welt kommt.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass ein Vater dasselbe Verhältnis zu einem Säugling hat wie eine Mutter?

Manuela Schwesig: Es gibt Unterschiede zwischen Mutter und Vater. Und das ist gut so. Aber ich bin sicher, dass ein sorgender und liebender Vater gleich intensive Gefühle hat wie die Mutter. Alle berufstätigen Eltern kennen das Gefühl, nie genug Zeit für die Familie zu haben. Auch ich kenne diese Zerrissenheit. Sie ist nie ganz aufzulösen, sie gehört zum Spagat von Beruf und Familie. Aber es wird einfacher mit einer besseren Infrastruktur, einer familienfreundlichen Arbeitswelt und einer Gesellschaft, die einem keine Vorwürfe und kein schlechtes Gewissen macht, sondern unterstützt.

SPIEGEL: Die innere Zerrissenheit kann kein Kita-Platz auflösen.

Manuela Schwesig: Das stimmt. Aber Kita-Plätze und Ganztagsschulen machen es leichter.

SPIEGEL: Wie gehen Sie mit Ihrer Zerrissenheit um?

Manuela Schwesig: Man darf sie nicht verheimlichen und so tun, als sei immer alles leicht. Wenn ich eine Woche in Berlin habe, in der ich gar nicht nach Schwerin fahre, beschwert sich mein Sohn nicht. Er hat kein Problem damit. Aber für mich fühlt es sich nicht gut an. Mir hilft, dass weder meine Mutter noch meine Schwiegermutter infrage stellen, dass ich berufstätig bin. Sie freuen sich auf das zweite Kind, genau wie mein Mann und mein Sohn. Trotz dieser Momente, die manchmal schwierig sind, überwiegen Freude und Glück darüber, Familie und Beruf zu haben.

SPIEGEL: Sie sagten mal, Sie bekämen Kind und Ministeramt vereinbart, weil Sie den richtigen Mann an der Seite hätten. Gibt es genug Männer, die ihre Frauen so unterstützen?

Manuela Schwesig: Das habe ich nicht überprüft, ich gucke ja nicht nach anderen Männern. Aber ich bin sicher: Es gibt immer mehr.

SPIEGEL: Frau Schwesig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.