FOCUS Online Franziska Giffey: "Eltern und Kinder brauchen eine Perspektive"

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Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey© Thomas Imo/photothek.net

FOCUS Online: Als Mutter eines fast elfjährigen Jungen kennen Sie das sicher: Kaum ist die Familie zur Urlaubsfahrt aufgebrochen, kommt das ungeduldige "Wann sind wir endlich da?" Aktuell aber ist noch weit mehr Geduld gefragt. Was sagen Sie Ihrem Jungen, was sagen Sie allen Kindern, die nach fünf Wochen mit harten Kontaktbeschränkungen gern wieder mit anderen spielen, toben und vielleicht sogar lernen wollen?

Franziska Giffey: Ich kann absolut verstehen, wenn Kindern die Decke auf den Kopf fällt. Wenn sie sich nach ihren Freunden sehnen und wollen, dass der Spielplatz wieder öffnet. Da ist es ganz wichtig, dass Eltern Verständnis aufbringen. Denn es ist gerade eine schwere Zeit auch für Kinder. Wir müssen ihnen Mut machen und sagen: "Wir kommen da durch, und es wird wieder besser." So viele Kinder wie jetzt, die sich auf die Schule freuen, hat es bestimmt selten gegeben.

FOCUS Online: Sie haben zuletzt gesagt "Ich wünsche mir in Deutschland insgesamt ein größeres Augenmerk auf das Wohl von Kindern". Heißt das, Sie finden, bei allen Debatten über Jobs, Kurzarbeit und mögliche Pleiten drohen die Interessen der Kinder unter die Räder zu kommen?

Franziska Giffey: Ich finde schon, dass die Kinder in vielen Diskussionen aus dem Blick geraten sind. Es ging und geht in erster Linie darum, die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Das ist auch richtig. Aber eine solch rigorose Einschränkung des öffentlichen Lebens hat Risiken und Nebenwirkungen für Familien und speziell für Kinder zur Folge. Mit der Zeit werden die Belastungen schwerer. Das können wir nicht einfach so laufen lassen, sondern müssen, wenn es um Lockerungen geht, auch hier über schrittweise Erleichterungen reden.

FOCUS Online: Die Regierung hat zunächst vor allem ihre Kraft darauf konzentriert, die Wirtschaft zu stützen, damit nach der Krise Deutschlands Fundament noch steht. Sollen jetzt also Familien stärker ins Zentrum rücken?

Franziska Giffey: Viele Menschen in Deutschland haben fünf Wochen lang auf vieles verzichtet. Wir haben so im Kampf gegen das Virus erkennbar Erfolge erzielt. Das haben wir geschafft ohne eine Überlastung des Gesundheitssystems. Was wir auf den furchtbaren Bildern aus Italien oder Spanien gesehen haben, ist bei uns glücklicherweise nicht eingetreten. Jetzt geht es um eine schrittweise Rückkehr in ein normaleres Leben. Aber eben so, dass wir diese Erfolge nicht zunichte machen.

FOCUS Online: Was heißt das für Familien? Alle Kitas sollten im Prinzip bis Sommer dicht bleiben, so war die Empfehlung der "Leopoldina". Nur Notbetreuung, sonst nichts.

Franziska Giffey: Eine pauschale Aussage wie "Die Kitas bleiben bis August zu" versetzt Eltern in Stress und Panik. Deshalb brauchen wir Zwischenschritte und Perspektiven. Für mich hat der Gesundheitsschutz eine hohe Priorität - aber eben auch das Kindeswohl. Kinderschutz ist auch Gesundheitsschutz. Viele Kinder leiden gerade sehr, haben wenig Bewegungsmöglichkeiten. Sie dürfen nicht auf den Spielplatz, keine Freunde treffen, nicht zu Oma und Opa. In großen Städten, wo die Wohnverhältnisse oft sehr beengt sind, ist das extrem belastend. Und aus pädagogischer Sicht: Für die Kleinsten besteht auch die Gefahr, dass Entwicklungsdefizite entstehen oder sich verstärken können. Sprachtherapie oder besondere Angebote auch für Kinder mit Behinderung oder speziellem Förderbedarf sind zum Beispiel gerade nicht möglich.

FOCUS Online: Eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern mit externen Experten soll Vorschläge ausarbeiten, wie man Kindertagesbetreuung in Corona-Zeiten gestalten und die bisherigen Regeln lockern könnte. Wann rechnen Sie mit einem Ergebnis?

Franziska Giffey: Wir wollen die Vorschläge in der Jugend- und Familienministerkonferenz abstimmen und einbringen, wenn die Kanzlerin in der nächsten Woche wieder mit den Regierungschefinnen und -chefs der Länder spricht und das weitere Vorgehen vereinbaren wird. Es geht darum, was nach dem 3. Mai mit den Kindern passiert, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind. Wir brauchen einen konkreten Plan, wie wir die Kinderbetreuung schrittweise wieder öffnen können. Die Arbeitsgruppe gibt eine Empfehlung, am Ende entscheiden die Länder, die dafür auch zuständig sind. Wenn wir hier eine klare bundesweit abgestimmte Linie hätten, wäre das gut.

FOCUS Online: Bei der Notbetreuung für Jüngere galt ja zunächst die Auflage, dass beide Elternteile in einem systemrelevanten Beruf - im Krankenhaus, bei der Polizei oder Feuerwehr - arbeiten mussten, um die Angebote zu nutzen. Jetzt haben mehrere Länder die Hürden auf "ein Elternteil" gesenkt. Ist das nicht schon ein deutlicher Fortschritt?

Franziska Giffey: Ja, aber es geht auch um die Fälle, in denen Familien erkennbar an ihre Grenzen stoßen. In vielen Ländern wird es ohnehin schon so gehandhabt, dass in die Notbetreuung auch Kinder aufgenommen werden können, von denen das Jugendamt sagt "Es ist besser für das Kindeswohl, wenn der Junge oder das Mädchen in die Notbetreuung geht." Das halte ich für einen guten Weg.

Auch auf die Kinder von erwerbstätigen Alleinerziehenden und die Gruppe der Vorschulkinder sollten wir verstärkt eingehen. Sie haben ja jetzt ihre letzten Wochen in der Kita und sollten eigentlich auf die Grundschule vorbereitet werden. Es ist sehr wichtig für die persönliche Entwicklung eines Kindes, dass es in der Kita einen guten Abschluss erlebt und eine gute Vorbereitung auf das Neue bekommt. Das ist so ähnlich wie bei den Grundschülern, die an der Schwelle zur weiterführenden Schule stehen.

FOCUS Online: Sie wollen auch Spielplätze wieder etwas öffnen. Geht denn so etwas wie "Toben mit Disziplin"? Oder wie muss man sich das vorstellen?

Franziska Giffey: Entscheidend ist: Wie groß ist der Spielplatz, und wie viele Kinder befinden sich auf der Fläche? In Supermärkten oder Baumärkten schaut man doch auch, dass nicht zu viele Leute auf einmal reinkommen. So könnte man auch festlegen, wie viele Kinder gleichzeitig auf einem Spielplatz sein dürfen. Dafür müssten Spielplatz-Kümmerer organisiert werden.

FOCUS Online: Spielplatz-Kümmerer?

Franziska Giffey: Das sind Menschen, die darauf achten, wie viele Kinder gleichzeitig auf einem Spielplatz sind und dass Regeln eingehalten werden. Ich könnte mir vorstellen, dass das Mitarbeiter von sozialen Trägern übernehmen könnten. Viele können ja gerade ihre reguläre Arbeit nicht machen. In der Jugendarbeit zum Beispiel. Sie könnten auf Spielplätzen einspringen. Das entscheiden aber letztlich die Kommunen oder - wie in Berlin - die Bezirke. Und außerdem hat ja jedes Elternteil auch eine Verantwortung für sein Kind und eine Aufsichtspflicht.

FOCUS Online: Haben Sie keine Angst, dass die Erfolge im Kampf gegen Corona durch Lockerungen der Auflagen wieder zunichte gemacht werden?

Franziska Giffey: Keine Frage: Wir müssen sehr verantwortlich mit der jetzigen Situation umgehen. Bei allen Entscheidungen muss das gesamte Infektionsgeschehen berücksichtigt und immer wieder neu bewertet werden.

FOCUS Online: Die Kanzlerin empörte sich zuletzt über "Öffnungsdiskussions-Orgien".

Franziska Giffey: Ich finde auch, dass wir mit dem bisher Erreichten sorgsam umgehen müssen. Es geht auch mir immer um maßvolle Schritte. Die Kanzlerin hat die Kultusministerkonferenz (KMK) gebeten, für die Schulen einen Plan zu machen. Für die Kita ist die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) gefragt. Ich sehe es als meine Aufgabe, das mit zu organisieren.

FOCUS Online: Sie drängen schon länger, die Kita-Gebühren sollten ausgesetzt werden. Einige Länder machen das in der Corona-Zeit. Sind es nicht gerade die bessergestellten Familien, die die höheren Gebühren zahlen, die von dieser Erleichterung profitieren?

Franziska Giffey: Was heißt "bessergestellte Eltern"? Alle Familien sind gerade besonders belastet, egal, in welcher finanziellen Lage sie sind. Und bis auf die, deren Kinder in die Notbetreuung gehen, müssen alle Eltern das selbst organisieren. Sie zahlen teilweise Gebühren von über 600 oder sogar über 1000 Euro. Wenn man sich also fragt, wie man Familien zügig entlasten kann: Die Kita-Gebühren zu erlassen, wäre ein Weg. Da geht es auch um gleichwertige Lebensverhältnisse. Wir haben ja Bundesländer, die das längst regulär umgesetzt haben. Einige schaffen jetzt spezielle Regeln für die Corona-Zeit.

FOCUS Online: Brandenburg zum Beispiel. Oder Nordrhein-Westfalen, Bayern hat es auch vor.

Franziska Giffey: Die Entlastung der Eltern von den Kita-Gebühren ist generell eine konkrete Hilfe für Familien, und zwar nicht nur für drei Monate. In Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz ist Gebührenfreiheit schon Alltag. Schulen und Unis sind in Deutschland im Kern gebührenfrei - für frühkindliche Bildung sollte das auch so sein. Und: Eltern, die gut verdienen, zahlen ja ohnehin schon mehr Steuern.

FOCUS Online: Für einige Familien wird es jetzt finanziell ganz eng. Viele fürchten, die bisherigen Hilfen reichen nicht.

Franziska Giffey: Vielen Familien wird zurzeit mit dem Kurzarbeitergeld geholfen. Familien, die akute Einkommenseinbußen haben und damit jetzt zu den Geringverdienern gehören, können seit dem 1. April zusätzlich den Notfall-Kinderzuschlag beantragen. Es sind schon über 120.000 Anträge eingegangen. Die Familienkasse prüft jetzt, wer berechtigt ist. Da geht es um monatlich bis zu 185 Euro pro Kind. Für Eltern, die ihre Kinder nicht in die Notbetreuung geben können, gibt es die Entschädigungsleistung nach dem Infektionsschutzgesetz. Diese 67 Prozent des Nettolohns sind aber auf sechs Wochen befristet, abzüglich der Osterferien reicht das bis Mitte Mai. Dann brauchen wir eine Perspektive, wie es weitergeht. Daran arbeiten wir.

FOCUS Online: Der Staat gibt gerade Hilfen in nie da gewesenem Umfang. Allein nach den bisherigen Plänen liegt Deutschland mit den absehbaren neuen Schulden fast 100 Milliarden über dem erlaubten Spielraum der Schuldenbremse. Machen Sie sich nicht Sorgen, dass genau die Kinder von heute, denen man helfen will, später die Last kaum stemmen können, wenn sie das zurückzahlen müssen?

Franziska Giffey: Es ist eher umgekehrt: Die Hilfen, die wir jetzt leisten, dienen dazu, dass wir hinterher auch eine stabile wirtschaftliche Kraft haben. Das Kurzarbeitergeld soll verhindern, dass die Leute entlassen werden und in die Sozialsysteme fallen. Sie sollen so schnell wie möglich an ihre Arbeitsplätze zurückkehren und wieder wirtschaften können. Das ist sehr wichtig, damit die Konjunktur wieder Fahrt aufnimmt. Gerade auch im Interesse der jüngeren Generation.

FOCUS Online: Ihre Parteivorsitzende Saskia Esken hat eine Vermögensteuer für Reichere ins Gespräch gebracht. Haben Sie Sympathien für diesen Gedanken?

Franziska Giffey: Dafür ist jetzt nicht die richtige Zeit.

FOCUS Online: Vor etwa drei Wochen gab es ein Pressegespräch, bei dem Sie mit dem Präsidenten des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, und Gesundheitsminister Jens Spahn aufgetreten sind. Es gab da einen Moment, in dem Sie ziemlich engagiert eingestiegen sind. Man hatte fast das Gefühl, Sie waren ein bisschen sauer, als es darum ging, wie man mit älteren Menschen umgehen soll.

Franziska Giffey: Ich bin da sehr klar: Man kann mündige Bürger nicht einfach wegsperren, indem man schematisch eine Altersgrenze für Senioren festlegt. Wo will man denn da aufhören? Wir dürfen keine Zwei-Klassen-Gesellschaft aufbauen so nach dem Motto "Die einen dürfen raus, die anderen müssen drinbleiben". Schwächere Menschen, egal ob jung oder alt, und die mit höherem Risiko müssen besonders geschützt werden. Jede Beschränkung der Freiheit und der Grundrechte aufgrund der Corona-Ausbreitung darf nur übergangsweise sein und ist gut abzuwägen.

FOCUS Online: Am selben Tag reagierte Bundeskanzlerin Angela Merkel ähnlich temperamentvoll und sprach sich auch dagegen aus, Älteren länger Kontaktbeschränkungen zuzumuten. Hatten Sie sich abgestimmt?

Franziska Giffey: In diesem konkreten Fall nicht. Aber das hat ja dann gut gepasst. Ich finde, wir dürfen nicht vergessen, wie es um die Älteren bestellt ist. Einige sind pflegende Angehörige oder selbst pflegebedürftig. Ältere in Heimen bekommen keinen Besuch, viele sind einsam und haben große Schwierigkeiten, damit umzugehen. Wir müssen ihnen zeigen, dass sie uns wichtig sind und dass wir auch ihre Bedürfnisse im Blick haben.

FOCUS Online: Die Umfragewerte für die Große Koalition legen in der Krise mächtig zu. Nur profitiert vor allem die Union davon. Finden Sie das ungerecht?

Franziska Giffey: Wir alle sind gut beraten, wenn wir anständige Arbeit abliefern. Und genau das tun wir in der Regierung: Es wird nicht gestritten, und die Sachen werden zügig und konstruktiv weggearbeitet. Die ganzen Groko-Endzeit-Debatten sind weg. Alle sind doch froh, dass wir eine Regierung haben, die handlungsfähig ist und professionell arbeitet. Dafür bekommen auch SPD-Minister gute Bewertungen, wie Olaf Scholz, Hubertus Heil - und auch mein Haus erreichen viele positive Rückmeldungen.

FOCUS Online: Sie selbst wollen ja - mit Raed Saleh - für den SPD-Vorsitz in Berlin kandidieren. Sie haben vor wenigen Tagen mal gesagt "Dass Länder, die von Frauen regiert werden, besser durch die Krise kommen, überrascht mich nicht". Würden Sie dann auch in Berlin selbst den Beweis antreten wollen, indem Sie sich um das wichtigste politische Amt der Regierenden Bürgermeisterin bemühen?

Franziska Giffey: Die eigentliche Feststellung war ja nicht von mir. Ich wurde nur gefragt, wie ich das finde. Und ich finde es nicht überraschend. Frauen sind zwar nicht per se die besseren Führungskräfte, aber ich denke schon: Der Führungsstil von Frauen ist meist abgeklärt, pragmatisch, sachorientiert, getragen von dem Wunsch, gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten. Ich streite ohnehin für mehr Frauen in Führungspositionen. Bei den Vorständen in Deutschland muss sich da definitiv was tun. Unser Gesetzentwurf dazu für mehr Frauen in Führungspositionen sollte jetzt eigentlich ins Kabinett kommen. Das verzögert sich allerdings wegen der Bewältigung der Corona-Krise. In Vergessenheit gerät das aber nicht. Und vielleicht führt die Krise uns allen ja auch nochmal vor Augen, wie wichtig diese Themen sind - nicht nur was Frauen in Führung angeht, sondern auch was Vereinbarkeitsfragen und die dringend notwendige Aufwertung der sozialen Berufe betrifft.