Zeit Online Dr. Katarina Barley: "Ein reiches Land darf sich keine armen Kinder leisten"

Porträtfoto von Dr. Katarina Barley
Bundesministerin Dr. Katarina Barley© Bundesregierung/Steffen Kugler

ZEIT ONLINE: Frau Barley, Sie haben für die SPD den Koalitionsvertrag für die Familienpolitik mitverhandelt. Ich bin alleinerziehende Mutter und freiberufliche Journalistin. Wie wollen Sie in der neuen Regierung verhindern, dass mein Kind in Armut aufwächst?

Dr. Katarina Barley: Kinderarmut ist Elternarmut, deshalb setzen wir bei den Eltern an. Für Freiberuflerinnen sind die sehr hohen Kosten für die Krankenversicherung ein großes Thema. Die wollen wir senken. Außerdem wollen wir mehr und vor allem gebührenfreie Kitaplätze. Das ist gerade für Alleinerziehende entscheidend, um Beruf und Kinder vereinbaren zu können. Und es spart in vielen Familien locker ein paar hundert Euro im Monat.

ZEIT: Das stimmt. Aber sobald das Kind in die Schule kommt, haben viele Alleinerziehende wieder ein existenzielles Problem, weil sie entweder nur vormittags wenige Stunden arbeiten können – oder teure Hortplätze finden müssen ...

Dr. Katarina Barley: ... auch das ist uns bewusst. Deswegen wird ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschüler kommen.

ZEIT: Das ist fortschrittlich. Es wurde aber keine grundlegende Reform der Familienpolitik beschlossen, die Kinderarmut langfristig bekämpft. Familienverbände fordern eine unbürokratische Kindergrundsicherung von ungefähr 600 Euro. Sie bleiben aber bei den bisherigen Leistungen für Familien?

Dr. Katarina Barley: Das, was wir jetzt verhandelt haben, kann sich sehr gut sehen lassen. Da ist zum einen das Kindergeld. Das möchten wir in zwei Schritten um 25 Euro erhöhen. Außerdem werden wir die andere Leistung für Eltern, die berufstätig sind, aber damit nicht genug verdienen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, erhöhen ...

ZEIT: ... Sie meinen den sogenannten Kinderzuschlag, der 2005 mit dem Hartz IV eingeführt wurde.

Dr. Katarina Barley: Ja, der soll einfacher zu beantragen sein und um knapp 30 Euro erhöht werden. Bisher sind das 170 Euro. Insgesamt werden Kindergeld und Kinderzuschlag dann 399 Euro betragen – das aktuelle Existenzminimum für Kinder. Hinzu kommt das Bildungs- und Teilhabepaket, das an die Sozialleistungen (Kinderzuschlag und Wohngeld) gekoppelt ist. Darin sind Hilfen enthalten, die wir noch ausweiten wollen. So soll etwa die Zuzahlung zum Mittagessen für Schulkinder wegfallen, ebenso die Zuzahlung zu Fahrkarten für Schulkinder. Zudem werden wir auch dieses Bildungs- und Teilhabepaket deutlich entbürokratisieren. Rechnet man noch die gebührenfreie Kita und die Ganztagsschulplätze hinzu, ist das ein richtig großes Paket, das genau da ankommt, wo es gebraucht wird.

ZEIT: Ein Riesenproblem der Alleinerziehenden ist, dass Kindergeld und Kinderfreibetrag bei der Unterhaltsberechnung zur Hälfte abgezogen werden. Diese Zahlungen werden auch mit den Sozialleistungen verrechnet.

Dr. Katarina Barley: Das stimmt. Das System ist für Menschen mit geringem Einkommen sehr leistungsfeindlich. Diese Anrechnungsproblematik gehen wir an – das haben wir auch im Koalitionsvertrag so verabredet. Was wir sehr schnell umsetzen werden, ist, die Antragsstellung für soziale Leistungen deutlich zu erleichtern. Viele Menschen rufen schlicht nicht ab, was ihnen zusteht. Grundsätzlich werde ich mich, auch mit Blick auf die Alleinerziehenden, dafür einsetzen, getrennte Eltern stärker in den Blick zu nehmen. Da gibt es ganz viele strukturelle Probleme, die wir beseitigen müssen.

ZEIT: Bisher hatte man den Eindruck, im Mittelpunkt der Familienpolitik stehen gut verdienende Eltern. Was tun Sie noch, damit das anders wird?

Dr. Katarina Barley: Dass die Kinder nun im Mittelpunkt der Familienpolitik stehen werden, haben wir an mehreren Stellen im Koalitionsvertrag ausdrücklich klargestellt – und das ist neu. So werden wir die Kinderrechte als Grundrecht im Grundgesetz verankern. Damit verbindet sich auch, dass wir das ganze Kinder- und Jugendhilferecht noch mal ganz neu denken werden.

ZEIT: Inwiefern?

Dr. Katarina Barley: Da geht es jetzt weniger um materielle Dinge, sondern mehr um Fragen wie: Wie können wir Familien stark machen, damit ihre Kinder bei ihnen bleiben können, selbst wenn die Verhältnisse schwierig sind?

ZEIT: Müsste der Staat nicht auch viel stärker in eine Sozialberatung investieren, die in allen diesen Fragen Eltern kompetent zur Seite steht?

Dr. Katarina Barley: Auch da haben Sie recht, wir wollen unbedingt die Beratungsstellen stärken – zum einen in der Kinder- und Jugendhilfe, zum anderen in familiengerichtlichen Verfahren. Wir erleben außerdem häufig, dass Anwälte, Gutachter, Richter, Verfahrensbeistände, Kinderpsychologen alle allein vor sich hinpuzzlen, aber kein gemeinsames Ziel verfolgen. Da müssen Qualitätsstandards festgeschrieben werden, Fortbildungen verpflichtend werden. Das steht im Koalitionsvertrag.

ZEIT: Sie werden auch als künftige Familienministerin gehandelt. Sollten die SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag zustimmen, was wären Ihre Prioritäten in diesem Amt?

Dr. Katarina Barley: Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich meine Zeit hier im Familienministerium als extrem erfüllend erlebe, weil man in diesem Bereich wirklich viele wichtige Veränderungen angehen kann. Oberste Priorität hat für mich, Kinderarmut ganz entschieden zu bekämpfen. Ein reiches Land darf sich keine armen Kinder leisten.

Interview: Louisa Reichstetter